Europa
Exotisches und
Unexotisches
aus der Schweiz
Von Valérie Rhein
26. Oktober 1998. Ein denkwürdiger
Abend. Die Israelitische Gemeinde Basel (IGB) trifft sich zur
außerordentlichen Gemeindeversammlung. Einziges Traktandum: Abstimmung über
Streichung oder Beibehaltung des Paragraphen 6, Absatz 1 der Statuten.
«Weibliche Mitglieder sind nicht wählbar als Gemeindepräsident, als
Präsident der Synagogenkommission und als Präsident der Friedhofskommission»
heißt es dort.
Während vier langen Jahren, seit
Einreichung einer Initiative, hat das Thema «Frau als Präsidentin» für
hitzige Diskussionen in der Gemeinde gesorgt. Nun, am Tag der Abstimmung,
sind mehr als 300 von insgesamt 1300 Mitgliedern anwesend. Der Abstimmung
geht eine mehrstündige heftige Debatte voraus, in der sich vor allem
Vertreter der orthodox-praktizierenden Minderheit äußern; Drohungen wie der
Austritt aus der Gemeinde stehen unwidersprochen im Raum. Nicht-orthodoxe
Gemeindemitglieder melden sich kaum zu Wort, die Frauen schweigen fast
ausnahmslos. Das Votum eines Liberalen unmittelbar vor der Abstimmung, das
zu einem Einlenken zugunsten des Gemeindefriedens plädiert, spielt
möglicherweise das «Zünglein an der Waage». Mit 160 zu 150 Stimmen wird die
Beibehaltung des umstrittenen Paragraphen beschlossen.
Am 26. Oktober 1998 haben die Aktiven
und Engagierten – in der Einheitsgemeinde IGB sind das seit vielen Jahren zu
einem wesentlichen Teil die Orthodoxen - entschieden. Die anderen waren
entweder nicht gekommen oder sie traten kaum für ihre Anliegen ein. Wo
blieben denn die übrigen 1000 Gemeindemitglieder? Und wie gestalten sie ihr
jüdisches Leben? Ist etwa die Alternative zu einem orthodox-praktizierenden
Judentum ein nicht-praktizierendes Judentum? Bedeutet das Rückzug oder gar
Indifferenz gegenüber dem Judentum, jüdischem Leben und jüdischer Identität
schlechthin? Oder liegt das Problem vielleicht an fehlenden Strukturen, die
das Praktizieren eines «anderen», eines nicht-orthodoxen Judentums
verhindern?
Der 26. Oktober 1998 war die
Geburtsstunde von «Ofek» (hebr.: Weite, Horizont), einer Arbeitsgruppe, die
seither ergänzend zum Angebot der Gemeinde Schiurim anbietet, politisch
aktiv ist und einmal monatlich einen egalitären, an das
«Conservative-Movement» anlehnenden Kabbalat-Schabbat-Gottesdienst
organisiert und wenig populäre Themen wie etwas die Definition des Begriffes
«Einheitsgemeinde» aufgreift. Über 150 Frauen, Männer und Kinder gehören
inzwischen zu Ofek. Der Gottesdienst wird von bis zu 70 Leuten besucht; die
meisten davon sind Mitglieder der IGB, finden dort jedoch nur selten den Weg
in die Synagoge. Die Gemeinde stellt Ofek für den Gottesdienst keinen Raum
zur Verfügung, weil, so die Argumentation von Vorstand und Rabbiner, dieser
nicht der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz entspreche.
Rund 17.500 Jüdinnen und Juden leben
in der Schweiz bei einer Gesamtbevölkerung von sieben Millionen. Die
Israelitische Gemeinde Basel ist, wie viele der 23 jüdischen Gemeinden in
der Schweiz, eine sogenannte Einheitsgemeinde. Das bedeutet, daß deren
Mitglieder das breite Spektrum von orthodox bis liberal abdecken, das
religiöse Leben aber orthodox, also strikt im Rahmen der Halacha, geführt
wird. 18 Gemeinden sind im politischen Dachverband, dem Schweizerischen
Israelitischen Gemeindebund (SIG) zusammengeschlossen. Den beiden liberalen
jüdischen Gemeinden - Zürich und Genf - wird die Mitgliedschaft im SIG bis
heute verweigert. Auch hier drohen Vertreter der orthodoxen Gemeinden mit
Austritt, sollten die Liberalen in den nationalen Dachverband aufgenommen
werden. Kurz bevor ich im Mai 1999 zur Bet-Debora-Konferenz nach Berlin
reiste, hatte sich Ofek in Basel zum ersten egalitären Minjan getroffen.
Eine mehrmonatige Vorbereitungszeit war vorausgegangen. Wie sollten wir den
Gottesdienst gestalten? Was ist möglich und wo sind unsere Grenzen in bezug
auf Toleranz und Machbarkeit? Welche Gebetstexte verwenden wir, sagen wir
sie im Original oder in einer deutschen Übersetzung, brauchen wir einen
Chasan oder gestalten wir den Gottesdienst alle gemeinsam? Welche Rolle
wollen und können Frauen übernehmen, was müssen wir – fast ausschließlich
Laien - lernen, wissen und erfahren, um überhaupt einen Gottesdienst
gestalten und leiten zu können?
In Berlin ist für mich etwas ganz
Grundsätzliches geschehen; hatte ich zuvor noch geglaubt, daß Ofek etwas
«Exotisches» sei und tue, stellte ich bald fest, daß wir Teil einer Bewegung
waren, die in Europa mancherorts bereits tiefe Wurzeln geschlagen hatte. Da
begegnete ich Dutzenden von Frauen und einigen Männern, die dasselbe suchten
wie ich, sich die selben Gedanken machten und die selbe Aufbauarbeit
leisteten. Ofek, die Einzelkämpferin, die Exotin, war mit einem Schlag Teil
eines Gefüges geworden. In Berlin erfuhr ich, daß und wie sich andere an das
Thema heranwagten, welche Erfahrungen sie gesammelt hatten und mit welchen
Problemen sie konfrontiert waren. Der Austausch stand für mich im Zentrum
der Konferenz. Er stärkte und bestärkte. Und er wirkt bis heute nach.
Ein bißchen exotisch ist Ofek aber
trotzdem. Denn im Gegensatz zu ähnlichen Gruppen in Deutschland, die vor
allem von Frauen initiiert werden, sind in Basel Frauen und Männer
gleichermaßen am Entstehen und an der Organisation von Ofek beteiligt. Auch
im Gegensatz zu Zürich; in der Israelitischen Cultusgemeinde (ICZ), der
größten jüdischen (Einheits-) Gemeinde der Schweiz, haben sich vor zwei
Jahren zehn Frauen zu einer Lerngruppe zusammengeschlossen. Heterogener
könnte diese Gruppe kaum sein; hier treffen sich orthodoxe und liberale
Frauen, die ganz unterschiedliches jüdisches Vorwissen mitbringen. Eines
aber verbindet sie: Sie alle wollen die Grundlagen des Judentums studieren
und diskutieren. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit der
Position der jüdischen Frau; sie begeben sich auf die Spuren von
Frauenfiguren im Tanach (Bibel), analysieren Gebete aus weiblicher Sicht,
tasten die Möglichkeiten ab, als Frauen den Gottesdienst aktiv
mitzugestalten und versuchen den Spielraum, den sie als praktizierende
Jüdinnen haben, zu erforschen und zu nutzen. Mit Erfolg: Eine der Frauen
beispielsweise sagte während der ganzen Trauerwoche Kaddisch für ihre
verstorbene Mutter. Und obwohl sich die zehn Frauen - sechs von ihnen sind
im Mai zur Bet-Debora-Konferenz nach Berlin gereist als private Lerngruppe
verstehen und eher zufällig alle derselben Gemeinde angehören, haben sie in
der ICZ inzwischen erste Impulse ausgelöst. Bald wurde nämlich deutlich, daß
sich viele Frauen in der Gemeinde eine aktivere Beteiligung beim
Praktizieren ihres Judentums wünschen und daß Handlungsbedarf besteht. Ein
erster Schritt wurde inzwischen gemacht: An Jom Kippur fand in der ICZ
dieses Jahr ein Mincha-Gebet statt, welches, im Rahmen der Halacha, von
Frauen mitgestaltet wurde. Der Raum war mit 150 Besucherinnen und Besuchern
bis auf den letzten Platz besetzt.
Weitere Informationen bei:
www.ofek.ch
oder info@ofek.ch
Valèrie Rhein, geboren 1965 in Basel,
studierte Germanistik und Geschichte, Lizentiatsarbeit zum Thema "Jiddische
Literatur für die jüdische Frau"; fünf Jahre lang Redakteurin bei der
"Jüdischen Rundschau" in Basel und beim "Israelitischen Wochenblatt" in
Zürich. Mitarbeit an der Publikation "Geschichten aus der Empore. Auf den
Spuren jüdischer Frauen in Basel" (Verein Frauenstadtrundgang Basel), zur
Zeit Mitarbeit an einem gesamtschweizerischen Jugend-Präventionsprojekt und
freischaffende Journalistin.
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