Europa
Im
Erste-Klasse-Abteil nach Berlin
Wanya Kruyer
Der Berlin-Expreß steht bereits am
Bahnsteig 2, als ich dort ankomme. Es ist trübes Wetter an diesem
Donnerstag, den 13. Mai. Die Bahnhofsuhr zeigt fünf vor sieben an, was für
Amsterdam noch früh ist, der Stoßverkehr beginnt selten vor acht Uhr.
Ich schaue mit um und sehe Annas
stattliche Erscheinung. Sie wirkt elegant in ihrem langen Mantel, mit
dunkeln Nylonstrümpfen und klassischen Schuhen darunter. Von der anderen
Seite des Bahnsteigs kommt Renée herbeigeeilt. Ich umarme sie herzlich. Auch
Anna bekommt drei Küsse, danach stelle ich sie Renée vor. Dann sehe ich
Joyce' Haupt mit dem graublonden Haar die Rolltreppe hochfahren und
schließlich auch den Rest ihrer schlanken Gestalt. Joyce läuft frohgemut auf
uns zu. Sie trägt eine farbenprächtige Ski-Jacke mit einem dazu passenden
Rucksack. Wie sind vollständig - der Zug nach Berlin darf abfahren.
Um uns angenehm auf Bet Debora
vorbereiten zu können, haben wir Plätze in der Ersten Klasse reserviert. Wir
betreten ein großräumiges Abteil für fünf Personen in einem ansonsten leeren
Zug und machen es uns auf den behaglichen, mit rosa- und lilafarbenen Plüsch
bezogenen Sitzen gemütlich. Hier wird uns kein Menschenlärm stören auf einer
Fahrt, die sechs Stunden und vierzig Minuten dauert.
Wir fragen Renée, ob sie mit ihrem
Film gut vorankommt. Der Dokumentarfilm heißt "Ich bedecke meinen Schmerz
mit meinem Nerz". Er handelt von jüdischen Frauen aus Deutschland, die 1933
als Flüchtlinge in die Niederlande gekommen waren in der Erwartung, hier
einen sicheren Zufluchtsort zu finden. Die Frauen in Renées Film gehörten zu
den wenigen, die die Schoa überlebten. Sie verbrachten die Jahre nach 1945
oft in zunehmender Einsamkeit im Stadtteil Amsterdam-Süd, rundum der
eleganten Beethovenstraat.
Vor dem Krieg konnte niemand ahnen,
daß die Schoa in dem bis dahin immer so friedliebenden Holland derart
reibungslos funktionieren würde: Über 75 Prozent der in den Niederlanden
gebliebenen Juden wurden ermordet. Das kleine Land, eingekeilt zwischen der
deutschen Westgrenze und der Nordsee, hatte keinerlei Möglichkeit, sich
gegen die deutsche Übermacht zu verteidigen. Nach fünf Jahren Besatzung
waren aus der Niederlande prozentual mehr Juden abgeholt worden, als aus
irgendeinem anderen westeuropäischen Land, einschließlich Deutschland
selbst. In Amsterdam, der Stadt, in der vor dem Krieg fast 100.000 Juden
gelebt hatten, lag die Quote der Überlebenden sogar noch niedriger.
Renée ist gerade 40 Jahre alt
geworden und hat bereits eine Karriere als schreibende Journalistin hinter
sich. Vor ein paar Jahren wechselte sie zur Filmwelt über. Zu ihren ersten
Aufträgen gehörten kurze Dokumentationen für die Fernsehsendungen der
Nederlands Israelitisch Kerkgenootschap
(Niederländisch-Israelitischen-Kirchengenossenschaft). "Ich bedecke meinen
Schmerz..." ist ihr erstes größeres kreatives Projekt.
Ich wurde 1954 in Amsterdam-Süd
geboren und wuchs zwischen Erinnerungen, verdrängten Gefühlen und Spuren von
Orten, "wo es geschah", auf. Das Hauptbüro des SD (Sicherheitsdienst), in
dem sich die Juden ab Anfang 1942 für die Deportation melden mußten, befand
sich in der Euterpestraat, einem Verbindungsweg zwischen der Beethovenstraat
und der Michelangelo, der Straße, in der ich meine Jugend verbrachte. Um die
Erinnerung an das SD-Büro zu vertreiben, wurde die Euterpestraat nach dem
Krieg nach dem Widerstandskämpfer Gerrit van der Veen umbenannt.
Auch Renée wohnte als Kind in der
Gegend um die Beethovenstraat, und wir können uns beide noch gut an die
jüdischen Frauen aus Deutschland erinnern, die uns mit ihrem starken
Parfümduft und ihren teuren Pelzmänteln faszinierten. Ihre eigentliche
Eleganz verbarg sich hinter dem dick aufgetragenen Make-up, stets sahen sie
mit starrem-unverwandten Blick geradeaus. Gegenüber Kindern verhielten sie
sich gereizt, in Geschäften fordernd und wählerisch. Renée bewunderte das
großstädtisches Benehmen dieser Frauen und die Kraft, die sie hinter den
unverwandten Blicken ausmachte. Bis heute hat sie einen Hang zum
Vorkriegsberlin behalten. Im Zugabteil stellen wir fest, daß wir immer noch
mühelos ihren schweren deutschen Zungenschlag und ihr sprödes Verhalten
nachahmen können: "Nein, Herr Gemüsehändler, nicht diesen Rosenkohl, ja,
diesen da will ich will haben." - "Eine halbe Unze bitte." "Das geht nicht?
Aber warum denn nicht? Damals wären wir froh über einen Rosenkohl gewesen."
Vor meiner Mutter durfte ich so etwas nicht tun, denn "sie hatten soviel
gelitten". Wo, warum und wann wurde nicht erzählt, aber ein sensibles Kind
begriff, daß es um "den Krieg" ging. Meine Mutter sprach selbst nie darüber.
Für mich war sie eine "aufgetauchte Anne Fank", mehr wußte ich nicht.
Meine Mutter war immer düster
gestimmt, sie erschrak bei unerwarteten Geräuschen so heftig, daß
"untertauchen" wie eine reale Wirklichkeit erschien. Ich stellte keine
Fragen zu diesem Thema, über das einfach nicht gesprochen werden konnte.
Renées Eltern waren beide Überlebende. Ich lernte sie 1991 auf einem Treffen
der "Zweiten Generation" von Joods Maatschappelijk Werk
(Jüdisch-gesellschaftliches Werk) kennen.
Renée ist sichtlich müde. Die
Dreharbeiten liegen gerade hinter ihr, die Filmpremiere ist für November
geplant, aber die Finanzierung des Projektes hakt gegenwärtig. Hinter
unserem Abteil entdeckt sie ein anderes leeres Abteil und streckt sie sich
lang auf den leeren Sitzen aus. Das kommt uns anderen gerade gelegen, weil
Anna, Joyce und ich noch eine Angelegenheit zu klären haben, bevor wir uns
auf Bet Debora einlassen.
Aus einer großen Mappe ziehe ich acht
Briefe, die Beit Ha'Chidush auf eine Ausschreibung für Gastrabbiner hin
erhalten hat. Anna, Joyce und ich bilden die Bewerbungskommission, die dem
"Flying Rabbi's Program" angehört, das einen guten Ruf genießt unter den
Gastrabbinern aus London und den Vereinigten Staaten, die wir bis jetzt
empfangen haben. Wir sind eine junge Gemeinschaft und strahlen noch den Elan
von Pionieren aus.
Ende 1995 begannen wir mit einem
einmal monatlich stattfindenden Erew Schabbat-Gottesdienst. Inzwischen sind
wir zu einer beachtlichen Gemeinschaft herangewachsen, die die Hohen
Feiertage feiert, Tora-Studium betreibt und kein Pessach ohne Seder-Abend
verstreichen läßt. Frauen und Männer, Homos und Heteros sind bei uns
selbstverständlich gleichberechtigt, und unsere Liturgie ist möglichst
antipatriarchal. Zugleich sind die Gottesdienste so weit wie möglich im
Einklang mit der europäischen Tradition, und wir streben nach aktiver
Teilnahme der Mitglieder. Daß wir, die Laienprediger von Bei Ha'Chidush,
selbst Gastrabbiner aussuchen und Gottesdienste organisieren, ist etwas
Unerhörtes im jüdischen Holland, wo die religiösen Angelegenheiten
normalerweise ganz "den Rabbinern" überlassen werden. Man weiß nicht so
recht, wie man uns einordnen soll, ist aber uns gegenüber tolerant, weil
gerade wir, die Nachkriegsgeneration, von den bestehenden Gemeinden nicht
erreicht wurden. Von uns vieren wurde nur Renée nach der Tradition erzogen.
Meine Mutter schämte sich noch für ihr Jüdischsein, und auch Anna und Joice
kommen aus Familien, in denen das Judentum verdrängt wurde. Wir sind einen
Weg mit Höhen und Tiefen gegangen, auf dem wir uns unsere Identität erobert
haben; erst in Beit Ha'Chidush trauen wir uns, unsere Religiosität zu
erproben und zeigen.
Anna ist eine Psychotherapeutin. Sie
kam eher zögerlich vor zwei Jahren mit ihrem (nichtjüdischen) Mann zu Beit
Ha'Chidush, seitdem hat sie sich immer stärker engagiert. Ihre Stimme ist
wunderschön, sie assistiert regelmäßig unseren Chasan, einen Amerikaner
namens Ken Gould. Dieses Jahr leitete Anne erstmals den Seder-Abend. Es
wurde ein Höhepunkt seit dem Bestehen von Beit Ha'Chidush. Mehr als 90
Menschen drängten sich um den Seder-Tisch in einer alten, unlängst
renovierten Synagoge im Herzen Amsterdams, wo einstmals auch die jüdischen
Diamantenschleifer gelebt hatten. Im Krieg war alles Holz aus der Synagoge
abgetragen worden, es diente als Brennstoff in jenem letzten kalten Winter
vor der Befreiung. Nach dem Krieg war das Gebäude als eine Ruine. Jom Kippur
1997 haben wir es wieder eingeweiht, Rabbiner Elizabeth Sarah aus London
leitete den Gottesdienst zu Kol Nidre.
Joyce ist eine von unseren Schaliach
Zibburim. Sie studierte semitische Sprachen an der Univerität von Amsterdam
und beherrscht ausgezeichnet Hebräisch. Ich selbst habe Geschichte und
Soziologie studiert und arbeite jetzt als Wissenschaftsjournalistin, unter
anderem für das NIW (Nieuw Israelitisch Weekblad), eine jüdische
Wochenzeitung in der Niederlande.
Der erste Bewerbungsbrief, den wir
uns anschauen, ist von einem Rabbiner, der eine lange Liste mit
Veröffentlichungen beigefügt hat. Er dichtet, hat Fiction geschrieben, viel
"Rabbinisches" und Kommentare zum interreligiösen Dialog verfaßt. Den
zweiten Brief hat ein älterer Rabbiner aus New Jersey geschrieben - einen
allerherzigsten Brief mit einem Foto von ihm, eingehüllt in einem Tallit.
Ich will ihn sofort einladen, aber meine beiden Mitreisenden zügeln meine
Impulsivität. Ihnen gefällt wiederum ein Brief, der aus zwei Teilen besteht.
Der eine Teil enthält einen Lebenslauf von einer Frau, der zweite ist ein
kleiner Begleitbrief, indem die Frauen erklären, daß sie ein Paar sind und
gern zusammen nach Amsterdam kommen würden. Ich sehe die Presseberichte
schon vor mir: "Lesbian Rabbi's for Amsterdam" - aber aus Erfahrung weiß
ich, daß eine Lesbe in Amsterdam keinen Nachrichtenwert genießt. Vielmehr
haben beide Gründer von Beit Ha'Chidush - der Chasan Ken Gould und ich
selbst - schon in manchem Interview darüber gesprochen, daß im alten Zentrum
Amsterdams wieder jüdische Gottesdienste stattfinden, daß Frauen dort
gleichberechtigt sind und vor allem, daß "jeder willkommen" sei, auch die
Nichtjuden und Pressevertreter. Bei uns ist die Scham längst vorbei, die
unsere Eltern noch so stark fühlten.
Aus Vermont kommt ein persönlicher
Brief, adressiert an das "Rabbinical Search Committe of Beit Ha'Chidush".
"Sind wir das?", fragt Joyce verblüfft. Aber ja doch, nicken Anna und ich,
und zu dritt fühlen wir uns einen Augenblick lang sehr gewichtig.
Mir wird klar, daß wir so viele
Briefe bekommen haben, weil wir den Bewerbern eine Woche Amsterdam mitten im
August, einem ruhigen Monat für die meisten Rabbiner, anbieten. Für
amerikanische Rabbiner ist es außerdem eine kleine Neuigkeit, daß der alte
Kontinent nicht nur ein Ort jüdischer Geschichte ist, sondern hier neues
jüdisches Leben wiederaufblüht. Seit Beginn unseres Bestehens orientierten
wir uns an den Entwicklungen in den USA, eben weil sich das Judentum dort
weiterentwickelte in einer Zeit, in der wir uns an unseren Wunden der großen
Vernichtung labten.
Plötzlich denke ich laut: "Vielleicht
ist es doch nicht zufällig, daß Beit Ha'Chidush genau fünfzig Jahre nach der
Schoa entstehen konnte." Die verlorene Generation in Europa scheint bereit,
die Tradition mit einem eigenem, ihrer Zeit gemäß empfundenem Schwung wieder
aufzugreifen. Darum freuen wir uns auf Bet Debora, auf das Kennenlernen von
Frauen, die anderswo auf dem alten Kontinent einen Beitrag zur jüdischen
Erneuerung leisten.
Als der Zug hinter der deutschen
Grenze in Bentheim anhält, erörtern wir eingehend die Briefe zweier
Bewerber, der eine stammt aus Philadelphia, der andere aus London. Der Zug
steht lange still, und wir fragen uns, ob wir es noch rechtzeitig bis zur
Eröffnungsrunde schaffen werden. Aber als wir den letzten Brief durchnehmen,
setzt sich der Zug wieder in Bewegung, und wir fahren Richtung Osnabrück.
Renée ist wach geworden und stellt
fest, daß sich unser Abteil in ein Büro des "Rabbinical Search Committee"
verwandelt hat. Sie will einen Kaffee und nichts anderes als einen Kaffee
und lädt uns dazu in den Speisewagen ein. Anschließend holt sie eine große
Tüte zum Vorschein, in der belegte Brötchen mit Lachs, Eiersalat und anderem
Milchigen sind. Begierig stürzen wir uns auf die unerwarteten
Köstlichkeiten, während wir unsere Präferenzliste ein letztes Mal
korrigieren. Nach unserer Rückkehr aus Berlin, werden wir das alles noch
einmal mit der vierten Person und dem einzigen Mann in unserer Kommission
beraten. Wir werden ihm nicht weniger als vier Gastrabbiner vorschlagen:
eine für August, das lesbische Paar würden wir gern zu Chanukka empfangen,
und der Mann, der den schönen persönlichen Brief geschrieben hat, halten wir
für eine längere Periode im Sommer nächsten Jahres geeignet. Zufrieden lege
ich die Mappe mit den Briefen zurück in meine Reisetasche. Der Eiersalat
schmeckt herrlich. In Hannover steigen plötzlich viele Menschen ein. Wir
machen unseren fünften Sitz für Mitreisende frei und müssen uns erst einmal
an das viele Deutsch um uns herum gewöhnen. Ich werde müde, es war
schließlich sehr früh heute morgen. So dämmere ich vor mich hin, bis ich
geweckt werde, als wir uns dem Bahnhof Zoo nähern. Auf dem Weg nach
Charlottenburg räumen wir fieberhaft das Abteil auf und machen uns fertig
für die Begegnung mit unserer Gastfrau, die uns zu Bet Debora bringen wird.
Übersetzt aus dem Niederländischen
von Elisa Klapheck
Gemeindeaktivistinnen
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