Ein Leben gegen ein anderes

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Überleben im KZ. Schicksal, politische Ranküne, Solidarität oder gar Glück? Eine persönliche Betrachtung, keine gelehrige Rezension…

Von Irene Runge

„Die Zukunft der Vergangenheit erschließt sich uns in der Gegenwart einfach nicht“.

Dieser fast lapidare Satz auf Seite 241 klingt prophetisch. Zwischen Anfang und Ende dieses ungemein spannenden und authentischen, in klarer Sprache verfassten Sachbuchs wird viel scheinbar Selbstverständliches in Frage gestellt. Das Buch liest sich wie ein Dokumentarthriller. Ich konnte tagelang kaum aufhören, hätte dabei gern manch’ quellenkundlich belegte Stelle ausgespart. Mein bisheriges Selbstverständnis wurde erschüttert. Ich habe dennoch akribisch gelesen, selbst die Fussnoten. Dieses Buch ist jede Mühe wert.

Wer Gegenwart und Vergangenheit wie Sonia Combe verbindet, stößt unweigerlich auf historische Leerstellen. Sie setzt die Fragezeichen nicht rhetorisch, bekennt mit jeder Äußerung Farbe, zerlegt selbstgefällige Nachwende-Urteile aus der bundesdeutschen Historiker- und Medienwelt ebenso wie frühere Unterlassungen und Umdeutungen in Ost und West. Sie gesteht niemandem zu, das Überleben von Häftlingen in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Buchenwald und Auschwitz moralisch aus heutiger Sicht zu werten. Sie fragt nicht nur, wieso manche das Ende der DDR nutzten, um ein festgeschriebenes Selbstverständnis gewesener KZ- und anderer Häftlinge der Nazizeit zu denunzieren, sondern analysiert, greift die Spuren auf, auch die, die in die Vergangenheit als Parteigeschichte führen. Sonia Combe erklärt, warum Erkenntnisse lückenhaft bleiben werden und weshalb das Überleben auch idealisiert wurde. Die über vier Jahrzehnte DDR eingefahrene politische Räson führte zur „modernen“ Neudeutung des grausamen Erinnerungswissens nach 1989. KZ-Opfer nun Täter? Das war eine der vielen Gemeinheiten jener Zeit.

Combe versteht, wie sich teilweise und in verschiedenen Zeitphasen das Vermächtnis aus Lagerhaft und Erfahrung vor allem des sowjetischen Exils ausschlossen. Eine bittere Wahrheit. Wie Überlebende damit umgingen ist nachlesbar. Das KZ Buchenwald war kein Vernichtungslager wie Auschwitz, doch in seinen Außenlagern wurde der Tod durch Arbeit einkalkuliert. Combe beschreibt den Alltag der Häftlinge, hierarchische Positionen, Entscheidungen inhaftierter Kommunisten, die in Absprache mit illegalen nationalen Lagerkomitees auf Überleben und Tod Einfluss nahmen. Das, das Verhalten von SS- und sonstigem Personal, menschliche „Zu- und Abgänge“, Zwischenbereiche, politische und nationale Beziehungsgeflechte werden im Buch zur unwirklich erscheinenden Realität der grausamen Gegenwelt in einer durch brutalisierten Zeit.

Das Interesse der zwischen Paris, New Yorks und Berlins Archiven pendelnden Historikerin wurde durch eine Nachwende-Kampagne gegen das 1945 gerettete „Buchenwaldkind“ Jerzy Stefan Zweig vertieft. Er, seine Retter, die KZ-Umstände wurden nach 1989 neu vermessen. Das Ende der DDR löste eine neue anti-kommunistische Welle aus, Kommunisten und Faschisten wurden von manchen zu „Seelenverwandten“ erklärt, begründet damit, dass in der sowjetzonalen Nachkriegszeit KZ-Täter und manche ihrer Opfer verfolgt wurden.

Als Jugendliche fragte ich in unserem Garten Bruno Apitz, den Autor des entsprechenden Romans, nach dem „Buchenwaldkind“ aus. In meinen Augen hatte Apitz die Rettung dokumentiert. Im Kino stand ich auf Seiten der „Guten“. Stefan Jerzy oder Jerzy Stefan, den ich kurz kennenlernte, verdankte sein Leben, daran bestand kein Zweifel, dem politischen Widerstand, in Buchenwald inhaftierten Kommunisten. Die hatten ihren Kampf bezeugt, eine Gewissheit, die nach 1989 zynisch geleugnet wurde. Da war von „Opfertausch“ die Rede. Das „Buchenwaldkind“ sollte sein Überleben rechtfertigen. In der DDR geheimgehaltene, jetzt publizierte Listen, deuteten darauf hin, dass ein anderes Kind für ihn ins Gas geschickt wurde. 

Sonia Combe nimmt sich der systematischen Aufarbeitung jenes gewesenen Grauens an, der unbarmherzigen Verfolgung und der Praxis selektiver Ermordung. Sie forscht über „Wechsel der Identitäten“, den kommunistische Kameraden sorgsam vorbereiteten, durch den jenes Kind im KZ Buchenwald überlebte. Ein Kind, als Jude vom gewöhnlichen Leben der vielen Anderen in Nazideutschland und besetzten Ländern ausgeschlossen, vorgesehen für Verfolgung, Haft, Ermordung.  

Combe befragt noch lebende Zeitzeugen erneut, studiert und vergleicht Quellen, Archivmaterial, Biographien, Berichte zum möglichen und unmöglichen Überleben, wie zufällige und organisierte, politische, nationale, individuelle und andere Konstrukte und Kombinationen, die unter mörderischen Bedingungen eines deutschen KZ funktionierten. Sie steigt tief in die Vergangenheit Ost wie West, BRD wie DDR und reflektiert deren Nachhall im nachgewendeten Deutschland, den neuen Umgang mit eben jener Geschichte. 

Das „Buchenwaldkind“,  wie es einst genannt wurde, ist keine Metapher. Es lebt heute gealtert in Wien, mit seiner Vergangenheit, dessen es sich nie wird entledigen können. Ein Leben, dem Mut kommunistischer Todeskandidaten zu verdanken, die, eingebunden in die Verwaltungsmacht des KZ, Deportationslisten manipulierten. Sonia Combe untersucht Motive, Zweifel und Erfolge. Nicht nur Zweig, auch viele andere überlebten dank solcher Intrigen. Als weniger „wertvoll“ Gekennzeichnete wurden stattdessen auf die Mordlisten der SS gesetzt.

Aus heutiger Sicht ist unmenschlich, was damals das kleinere Übel, der einzige Weg war, um jeweils „eigene“ (und andere) Leute zu retten, die als die Besten galten, Jüngere, Gesündere, Klügere, die im Lagerleben und danach (!) solidarisch sein würden.

Im KZ war jedes Mittel erlaubt. Sonia Combe zitiert vor allem Zeitzeugen, die die Ratio dieses sorgsam geplanten Tauschs so vieler Identitäten begründen. Manche lebten anstelle von Todgeweihten, für andere wurden Kriminelle oder „Verräter“ als Ersatz in den Tod „abgeschoben“. Die Zahlen mussten stimmen. So war die banale, die manipulierbare Wahrheit des Systems SS. 

Ich bin versucht, Abläufe, Beweise, Überlegungen und Antworten seitenweise zu zitieren. Aber das würde logische und historische Zusammenhänge gewaltsam zerreissen. Dieses Buch muss in einem Guss gelesen werden. Es erschließt sich durch sein Für und Wider, weist auf Leerstellen der Geschichte, auf bleibende Grauzonen, zitiert und verbindet Erinnerungen mit Gegenerinnerungen, Unsagbares und das Mitgeteiltem, extreme Schuld- und anhaltende Schamgefühle, Überlebenstaktiken und strategische Codes der Lagerexistenz. Combe verknüpft Solidarität und Selektion, erklärt, wieso wer zu den „Guten“, „Besten“, „Bösen“ gezählt wurde, was das im konkreten KZ-Alltag bedeutete. Grün war damals der Farbwinkel der Kriminellen. Combe entdeckt Freundschaften, die die Zeit überdauern, politische Überzeugungen, die sich ändern, strategisches Denken und ein Zukunftsvertrauen, aus dem im KZ Kraft geschöpft wurde. Den Rettungsmotor für ein Kind wie Stefan, manchmal Georg und Jerzy genannt, der, ohne es zu wissen, knapp vor dem Abtransport ins Gas ausgetauscht worden war.

Ich wusste früher nicht, dass dieses Kind einen Vater namens Zacharias hatte, der sich auch im KZ kümmerte. Ich wusste nichts über diffizile Absprachen zwischen politischen Kapos und SS-Lageraufsehern, nie hatte ich gehört, dass es nach politischer, nationaler, parteilicher, auch menschlicher Zwecksetzung manipulierte Deportationslisten, Arbeits- bzw. Lagerstatistiken gab, dauerhafte Verstecke, Erpressungen wegen mancher Besuche im Bordell. Für das KZ galt nur gut oder schlecht, weiß oder schwarz. Man war für oder gegen uns. Doch Sonia Combe differenziert, leuchtet auch dieses Klischee aus, weitere Stereotype, Vorurteile, Gewohnheiten, und das politische Zweckdenken, das Einsichten und anderen Erinnerungen im Wege stand. Sonia Combe findet für alles Belege, auch in den Berichten überlebender, schon verstorbener Zeitzeugen. Sie hat weitere Zeugen und Nachkommen befragt, kennt sich in der künstlerischen Umsetzung der Nazi- und Verfolgungszeit aus, ist ausgewiesene Expertin für Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie rückt das Bild hochbetagter kommunistischer KZ- und Zuchthausüberlebender, von damaligen Re-Migranten zurecht. Sie zollt den wahren Antifaschisten, die der DDR mit ihren eigenen Verfolgungs- und Überlebensgeschichten einen harten Stempel aufgedrückt haben, für ihren Mut in jener deutschen Zeit Respekt. 

Dieses Buch ist ein Meilenstein, die historische Wahrheit ein Puzzle, aus dem Einzelteile bereits verloren gegangen sind. Sonia Combe sondiert auch mutwillig Verschobenes, Vergessenes oder Übersehenes und fügt die deutschen, jüdischen, kommunistischen, nationalen Erinnerungen zum aktuellen Gesamtbild. Das KZ Buchenwald, auch ein Logistik-Unternehmen, eine Mordstätte, Platz für Mut, Verzweiflung, Hoffnung, Demoralisierung, Verrat, Erbärmlichkeit und einfachen Anstand. Manches, was ich aus jüdischer Sicht lange verdrängt hatte, ist beim Lesen wieder aufgetaucht. Ohne Kommunisten, so Überlebende aus Buchenwald und Auschwitz, wären noch mehr Menschen zugrunde gegangen. Das ist mir wichtig.

Sonia Combe hat sich auf den getrennten und den geeinten deutschen Umgang mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit seit 1945 konzentriert. Als Ergebnis liegt ein Buch vor, auf das ich lange gewartet habe.

Sonia Combe: Ein Leben gegen ein anderes. Der „Opfertausch“ im KZ Buchenwald und seine Nachgeschichte, Übers. aus dem Französischen, Neofelis Verlag, 2017, 281 S., Euro 29,00, Bestellen?