Belgien vor den Parlamentswahlen

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Der flämische Nationalismus steigt, doch die extreme Rechte sinkt. Es ist kein Ende der schweren Krise des belgischen Bundesstaats absehbar – obwohl der Stimmenanteil des rassistisch-separatistischen ‚Vlaams Belang‘ voraussichtlich abnimmt…

Von Bernard Schmid

Das Königreich Belgien wird am 13. Juni dieses Jahres ein neues Bundesparlament wählen. Die vorgezogene Neuwahl findet nur gut zwei Wochen, bevor das Land ab dem 1. Juli 10 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, statt – es muss als unwahrscheinlich gelten, dass Belgien bis zum Stichtag über eine neue, handlungsfähige Regierung verfügen wird. Die Wahl steht völlig im Zeichen der schweren Staatskrise, die Belgien ein weiteres Mal erschüttert. Und ihre Umstände widerspiegeln die fortgeschrittene Zerrüttung des Bundesstaates aus Wallonen (französischsprachigen Belgiern), niederländischsprachigen Flamen sowie einer kleinen deutschsprachigen Minderheit im Osten des Landes.

Der durch eine konstitutionelle, parlamentarische Monarchie geführte Bundesstaat war 1832 gegründet worden – um Expansionsplänen Frankreichs in Richtung Nordosten einen Riegel vorzuschieben – und wurde ab 1970 in einen Föderalstaat, der auf drei „Sprachgemeinschaften“ beruht, umgewandelt. Doch konnte dies, sowie die Fixierung einer „Sprachgrenze“ (durch Gesetze vom 8. November 1962 und 2. August 1963), die latenten politisch-ökonomischen Konflikte besonders zwischen „Flamen“ und „Wallonen“ nicht lösen. Selbstverständlich ist der Grundkonflikt dabei ebenso wenig urtümlich-angestammt-irrational, wie es etwa – dem europäischen rassistischen Grundverständnis zuwider laufend – so genannte „ethnische“ Konflikte in Afrika sind: In allen Fällen handelt es sich in gewisser Weise um ideologisierte Verteilungsfragen, bei denen sich ein solcher Ideologieüberschuss herausgebildet hat, dass er eine (bisweilen gefährliche) Eigendynamik entwickelt.

Auch die extreme Rechte versucht seit Jahren immer wieder massiv, ihren Honig aus der Krise zu saugen: Im flämischen Landesteil, der Nordhälfte Belgiens, ist die aus einer historischen Pro-Nazi-Tradition kommende Vlaams Belang (Flämisches Interesse) – die von ihrer Gründung 1978 bis zum Jahr 2004 noch Vlaams Blok, „Flämischer Block“, hieß – solide verankert. Die rechtsextreme Partei tritt explizit für eine Unabhängigkeit Flanderns, und dessen eventuelle Annäherung etwa an die Niederlande – wo der dortige Rechtspopulist Geert Wilders 2008 eine Vereinigung zwischen Holland und Flandern forderte -, ein.

Wenn die einst ärmere zur reicheren Region wird – und sich dennoch chronisch „benachteiligt“ fühlt

Sie stützt sich dabei auf Ressentiments und Revanchegefühle innerhalb der niederländischsprachigen Bevölkerung Nordbelgiens, die sich chronisch benachteiligt fühlt. Historisch war sie dies zunächst auch tatsächlich, denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Französisch die Sprache der politischen und wirtschaftlichen Eliten Belgiens – wer einen der flämischen Dialekte sprach, galt als „Bauerntrottel“. Vor dem Gesetz vom 22. 05. 1878 war Französisch sogar die einzige anerkannte Sprache in Belgien: Erst nach Annahme dieses Gesetzes durfte in vier Nordprovinzen (Westflandern, Ostflandern, Antwerpen und Limburg) sowie in Bezirken von Louvain/Leuven/Löwen sowie Brüssel auch Niederländisch als Amtssprache benutzt werden.

Doch das Blatt hat sich seitdem gründlich gewandelt; die Schwerindustrie, die dereinst den Reichtum Walloniens ausmachte – etwa dessen Stahlwerke – hat ihren Niedergang längst hinter sich. Heute ist Flandern, das 60 Prozent der Gesamtbevölkerung umfasst, der bei weitem reichere Landesteil. Rechte Kräfte im weiteren Sinne (unterschiedlicher Schattierungen) schüren dort jedoch noch immer das Gefühl latenter Benachteiligung, verkoppeln diese aber mit der Weigerung, für eine landesweite und generationenübergreifende Solidarität – durch Einzahlung in Sozialkassen und Rentenversicherung – aufzukommen. Ähnlich wie die italienische Nord Lega vertritt die flämische Rechte die Auffassung, man wolle lieber alleine auf der Sonnenseite stehen und „nicht länger finanziell den faulen Süden subventionieren“. (Oder, um ein anderes Anschauungsbeispiel zu wählen: Viele Flamen fühlen sich ähnlich benachteiligt-beleidigt wie manche „Ossis“ in deutschsprachigen Gefilden, nur, dass sie weitaus weniger Grund dazu haben: Gehört die frühere DDR mehrheitlich unzweideutig zu den Verlierern im „Vereinigungsprozess“ nach 1989/90, steht Flandern im seit über 100 Jahren währenden belgischen Binnenkonflikt längst auf der Gewinnerseite.)

Staatskrise, Reloaded

Schon im Jahr 2007 war die Staatskrise manifest geworden, Belgien blieb damals über ein halbes Jahr lang, von den Wahlen am 10. Juni bis zum 19. Dezember, ohne Regierung auf Bundesebene. Zuvor hatte eine Fiktion des belgischen Fernsehens, die nicht als solche angekündigt worden war – die am 13. Dezember 2006 ausgestrahlte Sendung „Das Ende Belgiens“, die von vielen Zuschauern zunächst für eine wahre Nachrichtensendung gehalten wurde – heftige Emotionen ausgelöst.

Notwendig geworden war die jetzt bevorstehende Neuwahl, nachdem am 22. April dieses Jahr die durch eine Fünf-Parteien-Koalition getragene Regierung von Premierminister Yves Leterme von den flämischen Christdemokraten (CD&V) zurücktrat. Ihren Rücktritt ausgelöst hätte der Rückzug der flämischen rechtsliberalen Partei OpenVLD, die am selben Tag die Koalition verlassen hatte. Am darauffolgenden Montag, den 26. April akzeptierte Belgiens König Albert II. nach mehrtägigen Vermittlungsbemühungen zwischen den Parteien, die fruchtlos blieben. OpenVLD hatte sich zurückgezogen, weil ein durch die meisten flämischen Parteien angestrebter Beschluss zur Teilung des Distrikts BHV (Brüssel-Hal-Vilvoorde) im Parlament nicht zustande kam.

Der Bezirk BHV, der neben der Bundeshauptstadt Brüssel 35 Kommunen umfasst und geographisch im flämischen Landesteil liegt, hat bislang noch ein Statut als zweisprachige Verwaltungseinheit: Die französischsprachigen Belgier können dort mit Wahlunterlagen in Französisch abstimmen. Doch die flämische Rechte erhöhte in den letzten Jahren den Druck, um eine Aufteilung des Distrikts zu erwirken, der Zweisprachigkeit ein Ende zu setzen und den größeren Teil des Bezirks – als nunmehr einsprachige Einheit – an Flandern anzugliedern. Bei einer Abstimmung im Parlament am 22. April 10 standen sich plötzlich zwei geschlossene Blöcke, ein wallonischer und ein flämischer, unversöhnlich gegenüber. Zuvor hatte sich bei den parlamentarischen Debatten bereits eine Konfrontationssituation angebahnt. Darüber hinaus wird OpenVLD aber nachgesagt, dass die Partei sich ohnehin von einer – ihr schlecht bekommenden – Regierungsbeteiligung durch eine „Oppositionskur“ erholen wollte, um wieder stärker an dem Bundesstaat skeptisch gegenüberstehende flämische Wähler appellieren zu können. Der Vorwand für einen Rücktritt aus der Koalition kam ihr daher wie gerufen.

An jenem 22. April 10 triumphierte der Vlaams Belang mit einer noch nie dagewesenen, symbolischen Provokation. Im Plenarsaal des belgischen Bundesparlaments – aus dem alle anderen Fraktionen protestierend auszogen – sangen ihre 30 Abgeordneten stehend die flämische Nationalisten-Hymne Vlaamse Leeuw (Der flämische Löwe), während auf den Zuschauerreihen platzierte Anhänger im Publikum ein Transparent entrollten, auf dem das sofortige Ende Belgiens gefordert wurde und die Aufschrift stand: „Zeit für die Unabhängigkeit!“.

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Nun ermittelt die Verwaltung, wie es zu einem solchen offen „staatsfeindlichen“ Akt der Rechtsradikalen mitten im Parlament kommen konnte. Der belgische Gewerkschaftsbund FGTB gab in einer Erklärung bekannt, „schockiert“ zu sein. Zur selben Zeit riefen flämische Nationalisten vor dem Amtssitz des Premierministers: ,België barst’ (ungefähr: „Belgien soll zerbrechen“ oder auch „krepieren“).

Am Abend des 22. April demonstrierten in Vilvoorde – der Hauptstadt des umstrittenen Bezirks – die drei flämischen Parteien Vlaams Belang (rechtsextrem), N-VA (konservativ, elitär und flämisch-nationalistisch) sowie Liste Dedecker (populistisch, zum Teil einwandererfeindlich und für eine Konföderation anstelle des Bundesstaats eintretend) gemeinsam. „Hand in Hand“, wie der Sender RTL.be formulierte. Dazu kamen zwischen 1.000 und 2.000 Personen. Allerdings taten die übrigen, etablierten (flämischen) Parteien in der darauffolgenden Woche dann das Ihrige dazu, im belgischen Bundesparlament den offenen Konflikt herunterkochen zu lassen.

Am 29. April, acht Tage nach der Rückertrittserklärung der Regierung Leterme (und drei Tage, nachdem König Albert II. deren eingereichten Rücktritt formal angenommen hatte) versuchte der Vlaams Belang auf Teufel komm ’raus, im Bundesparlament eine erneute Abstimmung über die strittige Frage der Spaltung des „Distrikts BHV“ zu erzwingen. Auch auf das Risiko hin – dessen Eintreten aus Sicht der Rechtsextremen freilich keine Gefahr, sondern einen Wunschtraum darstellte -, dadurch nun wirklich Alles in Stücke zu hauen und die Entwicklung vollends eskalieren zu lassen. Doch stand der Vlaams Belang nunmehr mit dieser Position plötzlich alleine da: Alle anderen Parteien stimmten an jenem Donnerstag dann auf Nichtbefassung und gingen zur Tagesordnung über – zu Letzterer gehört an diesem Tag das, im Quasi-Allparteienkonsens inklusive der extremen Rechten, beschlossene gesetzliche Verbot der „Burqa“ oder „Ganzkörperverhüllung“. Alle übrigen Parteien mit Ausnahme des Vlaams Belang plädierten jedoch für Nichtbefassung mit dem Thema „BHV“ an jenem Tag . Die Neuwahlen, so ihre Auffassung (auch für die flämischen Nationalisten unter ihnen), würden es später schon richten. Die extreme Rechte zürnte, doch konnte sie alleine aus eigener Kraft den Durchmarsch nicht schaffen.

Am 1. Mai suchte der Vlaams Belang daraufhin die Kraftprobe und warf den übrigen politischen Kräften Flanderns, den „Parteien des Establishments“ vor, unfähig zu sein, die belgische Krise aufzulösen . Nur der konsequent nationalistische Vlaams Belang sei dazu in der Lage.

Kein glänzender Triumph für den Vlaams Belang in Sicht?

Dennoch scheint der VB derzeit nicht die besten Aussichten zu haben, am 13. Juni 10 einen Wahltriumph feiern zu können. Zwar hat es – vor allem in den ersten Wochen nach dem Ausbruch der neuerlichen Staatskrise (22. April) und Ausrufung der Neuwahlen – mehrfach Zwischenfälle mit rechtsextremen Aktivisten gegeben, die etwa französischsprachige Schilder im Umland von Brüssel beschmieren und übermalen . Auf der Ebene des Aktivismus hat die die flämische extreme Rechte alsbald die Krise zuzuspitzen versucht. Doch bedeutet dies nicht, dass es ihr auf Ebene der Wählerschaft und der abzusehenden Stimmergebnisse gelingen wird, das Heft an sich zu reißen und die Entwicklung zu dominieren.

Stattdessen hat sich in den letzten Wochen zunehmend die konservativ-nationalistische „Neue flämische Allianz“ (N-VA) unter Bart de Wever, die erst 2001 aus den Trümmern der früheren bürgerlich-nationalistischen Sammelpartei Volksunie entstanden war, nach vorne gearbeitet. Sie teilt mit dem Vlaams Belang eine – weitgehende – Ablehnung Belgiens als Bundesstaat und tritt ebenfalls für die Unabhängigkeit Flanderns ein. Die N-VA kritisiert jedoch seinen Populismus, und zwar sowohl in der Form von dessen sozialen Versprechungen als auch in Gestalt der rechtsextremen Hetze gegen Einwanderer. Derzeit werden der konservativen flämischen Partei 26 Prozent der Stimmen vorhergesagt, was ein bislang ungekannter Erfolg für sie wäre. Unterdessen rutscht der Vlaams Belang allmählich nach unten: Wog er noch vor fünf Jahren rund 25 Prozent der Stimmen in Flandern, war er bei den Wahlen 2009 – unter dem Druck des Aufstiegs der N-VA, aber auch der 2007 entstandenen populistischen Liste Dedecker (LDD) – auf 15,3 Prozent abgesunken. Derzeit werden ihm 10,3 % im flämischen Landesteil vorhergesagt. Die LDD ihrerseits, die 2009 noch 7,6 % erhielt, soll jetzt den Umfragen zufolge bei 5,4 Prozent liegen.

Unterdessen treten beim Vlaams Belang auch Brüche und Spaltungslinien auf, welche die rechtsextreme Partei in manchen Landesteilen wie Brüssel und Westflandern empfindlich stören.

Die sich abzeichnende Hegemonie der N-VA in Flandern würde, falls sie sich am Wahltag bestätigt, die Verhandlungen über eine bundesstaatliche Zukunft Belgiens erheblich erschweren. Ihr Zuwachs nährt sich einerseits aus dem relativen Niedergang der extremen Rechten und der Populisten, nimmt andererseits auch den – stärker bundesstaatlich orientierten – Christdemokraten und Liberalen Stimmen weg. Andererseits würde ein Wahlsieg der N-VA der offen rassistischen extremen Rechten einen Dämpfer verpassen.

Wahlkampfthema „Islam“

Um nicht an den Rand gedrängt zu werden, rückt der Vlaams Belang neben der Unabhängigkeitsforderung auch sein klassisches Thema „Einwanderung“, ergänzt um Warnungen vor „dem Islam“, in den Vordergrund. Am 29. April verbot Belgien – in einem gemeinsamen Votum der meisten Parteien – als erstes EU-Land den bei fundamentalistischen Moslems getragenen „Ganzkörperschleier“ oder Gesichtsschleier für Frauen. Der Vlaams Belang, der dem neuen Verbotsgesetz – dem die unvermeidliche Terrordrohung einer pakistanischen Gruppe folgte – zustimmte, versucht nun mit dem Thema Wahlkampf zu machen. Am 22. Mai führten mehrere Dutzend weibliche Parteimitglieder in Brüssel – im Anschluss an den Parteitag des Vlaams Belang – eine symbolische Aktion durch. Bekleidet mit T-Shirts, die die Aufschrift „Der Islam ist schädlich für Ihre Gesundheit“ trugen, warfen sie Burqa-Gewänder in eine bereitstehende Mülltonne. Drei weibliche Mitglieder der rechtsextremen Partei trugen dabei selbst eine solche „Burqa“ in schwarzer Farbe – die afghanischen Orginale sind eher blau oder violett -, die sie im Laufe der Aktion abstreiften. Ihre Agitprop-Veranstaltung war ursprünglich als Reaktion gegen einen am selben Tag geplanten Aufmarsch einer Moslemsekte, die das Burkatragen befürwortet und gegen das Verbot protestieren wollte, angekündigt. Letztere Protestdemonstration war jedoch verboten worden und fand nicht statt.