Deutsche Weihnachten 1999
Es gab eine Zeit, da feierten wir gemeinsam Weihnachten und Chanukka:
"Weihnukka"
Von Salomon Korn, Die Zeit, Nr. 52/1999
Der 24. Dezember 1949: Eigentlich wollte meine Familie zu
dieser Zeit nicht mehr in Frankfurt sein, einer Stadt, die zunächst nur als
Zwischenstation auf unserem Weg von Polen nach Israel oder in die USA gedacht
war. Doch alles kam anders, und so nahm unsere Haushaltshilfe mich, den
sechsjährigen jüdischen Jungen, an diesem Tag in ihr oberhessisches Dorf mit, um
im Kreise ihrer Familie Weihnachten zu feiern. Sofort stand ich im Bann dieses
mir bis dahin unbekannten Festes. Und doch war bei aller kindlichen Verzauberung
ein unsichtbarer Schleier, der mich von diesen freundlichen Menschen trennte.
In der Mitte des Jahrhunderts stehend, war mir damals
nicht klar, warum ich so fühlte. Erst später sollte ich lernen: Es gab vor
1933 einmal eine Zeit, da feierten jüdische und nichtjüdische Deutsche
gemeinsam sowohl das christliche Weihnachten als auch das jüdische
Lichterfest Chanukka - ja, sie gingen noch einen Schritt weiter und feierten
gemeinsam "Weihnukka". Über 1500 Jahre christlich-jüdischer Geschichte
mussten in Deutschland vergehen, bis dies möglich wurde, und nur zwölf Jahre
bedurfte es, um die erst 1871 verwirklichte bürgerliche Gleichstellung der
deutschen Juden zu zerstören. Und selbst in dieser so oft gepriesenen
"Blüte" deutsch-jüdischer Geschichte war die Emanzipation der Juden eher
eine gesetzliche denn eine gesellschaftliche.
Von den ersten Kreuzzügen bis zum nationalsozialistischen
Massenmord waren Juden nicht nur verfolgte Minderheit, sondern auch entlastende
Projektionsfläche für die dunkleren Seiten der deutschen Volksseele.
Ohnmachtsgefühle aus erfahrener Unterdrückung, geheime Ängste, Neid, verbotene
Begierde - kurz: alles, was der christliche Untertan an sich selbst hasste oder
angesichts seiner mächtigen Unterdrücker verdrängen musste, übertrug er auf die
gesellschaftlich weit unter ihm stehenden Juden. Deren Emanzipation zu Beginn
des 19. Jahrhunderts löste im kollektiven Unbewussten der Deutschen die Angst
aus, Juden könnten jetzt durch Assimilation im deutschen "Volkskörper" unerkannt
aufgehen.
Der Rasse-Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der
Juden und Nichtjuden mit "unwiderlegbaren" Naturkategorien unterschied, war die
"blutige" Reaktion der deutschen Volksseele auf die drohende Auflösung der Juden
als fassbare Minderheit. Ein durch die Geschichte in seiner nationalen Identität
stets gefährdetes Volk wie die Deutschen bedurfte - auf der Suche nach einem
Nationalbewusstsein - der selbstüberhöhenden Abgrenzung gegenüber Fremden. Der
daraus folgenden Stigmatisierung als "fremdartige Rasse" versuchten die
deutschen Juden vehement die Errungenschaften der Aufklärung entgegenzusetzen.
Vergeblich: Während viele deutsche Juden geistig bereits die Grenzen des Ghettos
und schließlich die der Länder gesprengt hatten, verengte sich für die Mehrheit
der Deutschen eine ursprünglich europäisch geprägte Aufklärung immer stärker hin
zu einem die "fremden" Juden ausgrenzenden, ethnisch-völkisch geprägten
Nationalbewusstsein.
In dieser gegenläufigen Bewegung wurde jene gemeinsame
"aufklärerische Grundlage", auf der eine wirkliche deutsch-jüdische Symbiose
hätte gedeihen können, allmählich untergraben. Ein solchermaßen ausgehöhlter
gesellschaftlicher Untergrund war auf Dauer nicht tragfähig, und so fand die
"negative" deutsch-jüdische Symbiose ihren grausigen Höhepunkt in Auschwitz.
Seither ist - von Ausnahmen auf privater Ebene abgesehen -
eine tiefgründige Entfremdung bestimmend für das deutsch-jüdische
Verhältnis. Das Trauern um die "von Deutschen ermordeten jüdischen Opfer"
ist nur einer von vielen verräterischen Abkömmlingen dieser historisch
gewachsenen Entfremdung. Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden,
darunter auch deutsche Juden, wird von den meisten Deutschen so empfunden,
als sei er "nur" an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer
zivilisatorischen und kulturellen Selbstamputation würde voraussetzen, Juden
als Angehörige des eigenen Volkes, nämlich als Deutsche zu betrachten -
nicht nur verbal als "jüdische Deutsche" oder "deutsche Staatsbürger
jüdischen Glaubens", sondern schlicht als Deutsche, die so "jüdisch" sind
wie die Mehrheit der Deutschen evangelisch, katholisch oder atheistisch ist.
Eine solche Sichtweise hätte die Debatte um das "Denkmal
für die ermordeten Juden Europas" in eine andere Richtung gelenkt. Doch selbst
wenn dem so gewesen wäre: Die ausgegrenzten und ermordeten Juden lassen sich
nicht nachträglich ins deutsche Volk einbürgern, die grundlegende Entfremdung
lässt sich nicht einfach rückgängig machen, das späte Gift des Völkischen sich
nicht einfach auflösen.
Ignatz Bubis bekam dies während seiner Auseinandersetzung
mit Martin Walser zunehmend zu spüren - bis er schließlich, die historische
Realität anerkennend, resigniert äußerte, er habe nicht viel erreicht. Dass mit
ihm die personalisierte, wenngleich trügerische deutsch-jüdische "Normalität" in
Israel - einem fremden Land? - symbolisch zu Grabe getragen wurde, hat, als
Aufkündigung einer lange gehegten Hoffnung gedeutet, Menschen in Deutschland
enttäuscht, gekränkt, ja geschmerzt. Es bleibt auch in Zukunft die
deutsch-jüdische Geschichte, die ein für alle Mal Deutsche und Juden dauerhaft
trennt und sie gleichzeitig auf diabolische Weise verbindet.
Weihnachten 1999: Seit vielen Jahren verbringe ich meinen
Winterurlaub in demselben österreichischen Skiort und nehme in unserem kleinen
Hotel alljährlich an der dort stattfindenden Weihnachtsfeier teil: Lichterglanz,
Engelhaar, verschneite Fenster - und wie in jedem Jahr kehrt jener denkwürdige
Heiligabend des Jahres 1949 zurück, leuchten aus der Kindheit magische
Augenblicke herüber, die etwas von der einstigen Verzauberung des sechsjährigen
jüdischen Jungen unterm Weihnachtsbaum erahnen lassen. Und wie jedes Jahr die
wehmütige Erkenntnis: Erwachsenwerden hat einen Preis - den Verlust des
kindlichen Gefühls, für immer in dieser Welt aufgehoben und geborgen zu sein.
Doch diesmal, ausgelöst durch den Tod von Ignatz Bubis,
gesellt sich die Erkenntnis hinzu, dies gelte keineswegs nur individuell. Die
jüdische Gemeinschaft in Deutschland muss ohne schützende Überväter wie Ignatz
Bubis erst noch "erwachsen" werden.
Das wird angesichts der zunehmenden Historisierung des
Holocaust und des hörbar raueren Tons jüngerer deutscher Politiker gegenüber
jüdischen Belangen ein schmerzensreicher Weg werden. Können wir dennoch zu einer
wie immer gearteten "pragmatischen Normalität" zwischen Deutschen und Juden
kommen? Voraussetzung ist eine längere, gemeinsam gelebte - nicht
notwendigerweise konfliktfreie - Geschichte. Wird dann, vielleicht zum Ende des
kommenden Jahrhunderts, doch noch "Weihnukka" in Deutschland möglich?
Salomon Korn ist Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland
und Autor des Buches "Geteilte
Erinnerung".
© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 52 |