antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info
haGalil onLine - http://www.hagalil.com

  

hagalil.com

Search haGalil

Veranstaltungskalender

Newsletter abonnieren
e-Postkarten
Bücher / Morascha
Musik

Koscher leben...
Tourismus

Aktiv gegen Nazi-Propaganda!
Jüdische Weisheit
 
Archivierte Meldungen aus den Jahren 1995 - 1999
 

Deutsche Weihnachten 1999

Es gab eine Zeit, da feierten wir gemeinsam Weihnachten und Chanukka: "Weihnukka"

Von Salomon Korn, Die Zeit, Nr. 52/1999

Der 24. Dezember 1949: Eigentlich wollte meine Familie zu dieser Zeit nicht mehr in Frankfurt sein, einer Stadt, die zunächst nur als Zwischenstation auf unserem Weg von Polen nach Israel oder in die USA gedacht war. Doch alles kam anders, und so nahm unsere Haushaltshilfe mich, den sechsjährigen jüdischen Jungen, an diesem Tag in ihr oberhessisches Dorf mit, um im Kreise ihrer Familie Weihnachten zu feiern. Sofort stand ich im Bann dieses mir bis dahin unbekannten Festes. Und doch war bei aller kindlichen Verzauberung ein unsichtbarer Schleier, der mich von diesen freundlichen Menschen trennte.

In der Mitte des Jahrhunderts stehend, war mir damals nicht klar, warum ich so fühlte. Erst später sollte ich lernen: Es gab vor 1933 einmal eine Zeit, da feierten jüdische und nichtjüdische Deutsche gemeinsam sowohl das christliche Weihnachten als auch das jüdische Lichterfest Chanukka - ja, sie gingen noch einen Schritt weiter und feierten gemeinsam "Weihnukka". Über 1500 Jahre christlich-jüdischer Geschichte mussten in Deutschland vergehen, bis dies möglich wurde, und nur zwölf Jahre bedurfte es, um die erst 1871 verwirklichte bürgerliche Gleichstellung der deutschen Juden zu zerstören. Und selbst in dieser so oft gepriesenen "Blüte" deutsch-jüdischer Geschichte war die Emanzipation der Juden eher eine gesetzliche denn eine gesellschaftliche.

Von den ersten Kreuzzügen bis zum nationalsozialistischen Massenmord waren Juden nicht nur verfolgte Minderheit, sondern auch entlastende Projektionsfläche für die dunkleren Seiten der deutschen Volksseele. Ohnmachtsgefühle aus erfahrener Unterdrückung, geheime Ängste, Neid, verbotene Begierde - kurz: alles, was der christliche Untertan an sich selbst hasste oder angesichts seiner mächtigen Unterdrücker verdrängen musste, übertrug er auf die gesellschaftlich weit unter ihm stehenden Juden. Deren Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste im kollektiven Unbewussten der Deutschen die Angst aus, Juden könnten jetzt durch Assimilation im deutschen "Volkskörper" unerkannt aufgehen.

Der Rasse-Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der Juden und Nichtjuden mit "unwiderlegbaren" Naturkategorien unterschied, war die "blutige" Reaktion der deutschen Volksseele auf die drohende Auflösung der Juden als fassbare Minderheit. Ein durch die Geschichte in seiner nationalen Identität stets gefährdetes Volk wie die Deutschen bedurfte - auf der Suche nach einem Nationalbewusstsein - der selbstüberhöhenden Abgrenzung gegenüber Fremden. Der daraus folgenden Stigmatisierung als "fremdartige Rasse" versuchten die deutschen Juden vehement die Errungenschaften der Aufklärung entgegenzusetzen. Vergeblich: Während viele deutsche Juden geistig bereits die Grenzen des Ghettos und schließlich die der Länder gesprengt hatten, verengte sich für die Mehrheit der Deutschen eine ursprünglich europäisch geprägte Aufklärung immer stärker hin zu einem die "fremden" Juden ausgrenzenden, ethnisch-völkisch geprägten Nationalbewusstsein.

In dieser gegenläufigen Bewegung wurde jene gemeinsame "aufklärerische Grundlage", auf der eine wirkliche deutsch-jüdische Symbiose hätte gedeihen können, allmählich untergraben. Ein solchermaßen ausgehöhlter gesellschaftlicher Untergrund war auf Dauer nicht tragfähig, und so fand die "negative" deutsch-jüdische Symbiose ihren grausigen Höhepunkt in Auschwitz.

Seither ist - von Ausnahmen auf privater Ebene abgesehen - eine tiefgründige Entfremdung bestimmend für das deutsch-jüdische Verhältnis. Das Trauern um die "von Deutschen ermordeten jüdischen Opfer" ist nur einer von vielen verräterischen Abkömmlingen dieser historisch gewachsenen Entfremdung. Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden, darunter auch deutsche Juden, wird von den meisten Deutschen so empfunden, als sei er "nur" an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer zivilisatorischen und kulturellen Selbstamputation würde voraussetzen, Juden als Angehörige des eigenen Volkes, nämlich als Deutsche zu betrachten - nicht nur verbal als "jüdische Deutsche" oder "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern schlicht als Deutsche, die so "jüdisch" sind wie die Mehrheit der Deutschen evangelisch, katholisch oder atheistisch ist.

Eine solche Sichtweise hätte die Debatte um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in eine andere Richtung gelenkt. Doch selbst wenn dem so gewesen wäre: Die ausgegrenzten und ermordeten Juden lassen sich nicht nachträglich ins deutsche Volk einbürgern, die grundlegende Entfremdung lässt sich nicht einfach rückgängig machen, das späte Gift des Völkischen sich nicht einfach auflösen.

Ignatz Bubis bekam dies während seiner Auseinandersetzung mit Martin Walser zunehmend zu spüren - bis er schließlich, die historische Realität anerkennend, resigniert äußerte, er habe nicht viel erreicht. Dass mit ihm die personalisierte, wenngleich trügerische deutsch-jüdische "Normalität" in Israel - einem fremden Land? - symbolisch zu Grabe getragen wurde, hat, als Aufkündigung einer lange gehegten Hoffnung gedeutet, Menschen in Deutschland enttäuscht, gekränkt, ja geschmerzt. Es bleibt auch in Zukunft die deutsch-jüdische Geschichte, die ein für alle Mal Deutsche und Juden dauerhaft trennt und sie gleichzeitig auf diabolische Weise verbindet.

Weihnachten 1999: Seit vielen Jahren verbringe ich meinen Winterurlaub in demselben österreichischen Skiort und nehme in unserem kleinen Hotel alljährlich an der dort stattfindenden Weihnachtsfeier teil: Lichterglanz, Engelhaar, verschneite Fenster - und wie in jedem Jahr kehrt jener denkwürdige Heiligabend des Jahres 1949 zurück, leuchten aus der Kindheit magische Augenblicke herüber, die etwas von der einstigen Verzauberung des sechsjährigen jüdischen Jungen unterm Weihnachtsbaum erahnen lassen. Und wie jedes Jahr die wehmütige Erkenntnis: Erwachsenwerden hat einen Preis - den Verlust des kindlichen Gefühls, für immer in dieser Welt aufgehoben und geborgen zu sein.

Doch diesmal, ausgelöst durch den Tod von Ignatz Bubis, gesellt sich die Erkenntnis hinzu, dies gelte keineswegs nur individuell. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland muss ohne schützende Überväter wie Ignatz Bubis erst noch "erwachsen" werden.

Das wird angesichts der zunehmenden Historisierung des Holocaust und des hörbar raueren Tons jüngerer deutscher Politiker gegenüber jüdischen Belangen ein schmerzensreicher Weg werden. Können wir dennoch zu einer wie immer gearteten "pragmatischen Normalität" zwischen Deutschen und Juden kommen? Voraussetzung ist eine längere, gemeinsam gelebte - nicht notwendigerweise konfliktfreie - Geschichte. Wird dann, vielleicht zum Ende des kommenden Jahrhunderts, doch noch "Weihnukka" in Deutschland möglich?

Salomon Korn ist Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland und Autor des Buches "Geteilte Erinnerung".

© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 52

Die hier archivierten Artikel stammen aus den "Anfangsjahren" der breiten Nutzung des Internet. Damals waren die gestalterischen Möglichkeiten noch etwas ursprünglicher als heute. Wir haben die Artikel jedoch weiterhin archiviert, da die Informationen durchaus noch interessant sein können, u..a. auch zu Dokumentationszwecken.


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!
haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved