Lieder gegen das
Vergessen
Die israelische Sängerin
Nizza Thobi
und ihr beeindruckendes Konzert in Stegen
STEGEN – "Des
Menschen Kampf gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das
Vergessen." Die israelische Sängerin Nizza Thobi kämpft diesen Kampf, sie
hat ihm ihr Leben gewidmet. Geboren direkt am Ölberg in Jerusalem, lebt sie
25 Jahren in München, in jener Stadt also, in der der politische Weg Adolf
Hitlers seinen Ausgang nahm; in jener Stadt, in der israelische Sportler
während der Olympischen Spiele 1972 Opfer eines arabischen Terrorüberfalls
wurden.
Nizza Thobi, die
Münchnerin, hat am Samstag abend in der Alten Brauerei ein bewegendes
Konzert gegen das Vergessen gegeben. "Mir leben ejbig" lautet der Titel
ihrer bereits 1982 erschienenen ersten Platte, einer Auswahl von Liedern,
die vom Überlebenskampf des jüdischen Volkes erzählen und an die Shoa
erinnern, die systematische Vertreibung und Vernichtung der Juden während
des Zweiten Weltkrieges. Die meist jiddischen Lieder und vertonten Gedichte
stammen in vielen Fällen von Autoren, die dem Holocaust selbst zum Opfer
fielen – etwa im Litauischen Wilna, wo zwischen 1941 bis 1944 rund 75 000
Juden deportiert und ermordet wurden. Im "Yam Lied" singt Nizza Thobi: "Ich
hab meine Liebsten zurückgelassen / Ich habe mein eigenes Haus verlassen /
Ich gab mich der See hin / Trag mich Meer zu Mutters Schoß".
Dia-Porojektionen im
Hintergrund erinnerten beim Stegener Konzert an die Menschen, die diese
Zeilen einst geschrieben haben. Und die kraftvolle, dunkle Stimme der
Sängerin legte dazu ein beeindruckendes Zeugnis ab – von der Frau, die ein
mutterlos gewordenes Kind in den Armen wiegt, von der abgrundtiefen
Verzweiflung und Verlassenheit der totgeweihten Menschen, aber auch von der
Hoffnung auf den Frühling, der hier zur Metapher des Überlebens gerinnt:
"Friling ojf dajne Fligl bloje / O nem majn Harz mit / Un gib es zu majn
Glik".
Erinnerung an
die Kindheit
Nizza Thobi schlug
den Bogen von der Vergangenheit zum heutigen Israel erst im zweiten Teil des
Abends. "Ich bin in seidenen Hemd meiner Muttersprachen geboren", sagt und
singt sie und strahlt damit unbändige Lebenslust aus. Ihre Heimat Israel
findet sie vor allem in vertonten hebräischen Gedichten der Rachel wieder,
die im See Genezareth "die Form einer Geige" erblickte. An ihre Kindheit
erinnerte sich die 52jährige Sängerin mit einer ladinischen Weise: "Nani,
Nani" ist ein Wiegenlied, das im spanischen Jiddisch vorgetragen wird.
Begleitet wurde Nizza
Thobi von dem vorzüglichen Akustikgitarristen Andreas Seifinger und dem
Geiger Hans Jakob, der allerdings während des gesamten Abends erhebliche
Intonations- und Tempoprobleme hatte. Doch darum ging es bei diesem
wunderbaren Konzert zu allerletzt.
THOMAS LOCHTE
Montag, 26. April 1999 STA Feuilleton Süddeutsche Zeitung Nr. 95 / Seite 7
DER GEMÄLDEZYKLUS
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