Rotes Kreuz behindert Entschaedigung von Zwangsarbeitern:
Gesucht wird - Biedermanns Reich
Das Internationale Rote Kreuz
behindert die Entschaedigung von Zwangsarbeitern, so das Fazit eines Filmes
von Wilfried Huismann und Monika von Behr, der unter dem Titel "Gesucht wird
- Biedermanns Reich. Der Internationale Suchdienst und die NS-Opfer" (WDR
1999, ca. 45 min.) am Mittwoch, dem 22. September 1999 zu spaeter Stunde im
ARD-Programm gesendet wurde. Diese Feststellung ist so ungeheuerlich, dass
sie unbedingt weiter verbreitet werden sollte.
Zum Inhalt des Films: Die Filmemacher
Huismann und von Behr stellen den Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad
Arolsen vor. Der ITS ist eine Institution des Roten Kreuzes, der nach dem
Zweiten Weltkrieg gegruendet wurde, um den Opfern des Nationalsozialismus zu
helfen. Die Einrichtung wird von der Bundesregierung in Deutschland mit 27
Millionen DM im Jahr unterstuetzt. Der von der Zentrale des Internationalen
Roten Kreuzes in Genf eingesetzte Direktor Charles Biedermann (sic!) leitet
die Behoerde mit 400 Mitarbeitern seit 16 Jahren. Als Delegierter vom Roten
Kreuz geniesst er Diplomatenstatus.
Unter den Mitarbeitern, die taeglich
mit historischen Dokumenten umgehen, gibt es keine Archivare und Historiker.
Dies ist besonders erstaunlich vor dem Hintergrund, das der ITS Arolsen
faktisch das groesste Archiv zum Terrorapparat des NS-Regimes ueberhaupt
ist. Der ITS bekam von den Alliierten saemtliches in den
Konzentrationslagern vorgefundenes Material, darunter die Haeftlingskarteien
von Dachau und den kompletten Inhalt der Effektenkammer von Buchenwald
(inkl. aller Sachzeugnisse). Arolsen bewahrt ausserdem Deportationslisten,
Gestapo-Akten, Versicherungsunterlagen und Unterlagen von Meldeaemtern auf.
Einen genaueren Ueberblick kann man nicht gewinnen, da es kein
Bestandsverzeichnis gibt. Sicher ist, dass der ITS 46 Millionen Karteikarten
lagert, die sich auf 16 Millionen NS-Opfer beziehen.
Diese Unterlagen sollten eigentlich
dazu dienen, den Opfern schnell und unbuerokratisch Auskunft und
Bestaetigungen ueber Zeiten in Lagern und Zwangsarbeit zu geben, die sie
fuer Entschaedigungen und Rente zwingend benoetigen. Die Filmemacher
stiessen allerdings bei ihren Recherchen auf unglaubliche Verhaeltnisse. Im
ITS lagern bergeweise unbeantwortete Anfragen, im Film allen ernstes als
"Fallstau", hinter vorgehaltener Hand auch als "Reserve" respektive
"Arbeitsvorrat" bezeichnet. Bearbeitungszeiten von fuenf bis sieben Jahren
fuer einfache Auskuenfte scheinen keine Seltenheit zu sein.
Welche Auswirkungen dieses
Arbeits"tempo" fuer die Betroffenen hat, zeigen die Filmemacher an dem
Schicksal von drei NS-Opfern, dem ehemaligen Zwangsarbeiter Stanislaw
Bajwoluk, dem ehemaligen Haeftling im Gestapo-Gefaengnis Bromberg Wladislaw
Ollainiszeck und dem ehemaligen KZ-Haeftling Andre Burzawa. Unvollstaendige
Bearbeitung der Anfragen durch den ITS und schlichte Schlamperei fuehrten
dazu, dass Stanislaw Bajwoluk seine mickrige Rente von umgerechnet 150 DM
nicht um 50 DM aufgestockt bekam, Wladislaw Ollainiszeck seine Ehre als
Widerstandskaempfer beleidigt sah und Andre Burzawa, trotz der Bestaetigung
seiner Haftzeit durch die Gedenkstaette Dachau keinen Antrag beim
Deutsch-Polnischen Fonds stellen kann.
Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit
fuehrt in Polen zu der Vermutung, dass hinter der schleppenden
Antragsbearbeitung Methode steckt. Die ehemalige Direktorin des Amtes fuer
die Entschaedigung von Zwangsarbeitern in Polen, die Regierungsdirektorin
Danuta Sowa, vermutet hinter der Verzoegerung "deutsche Interessen".
Versprochene Schnellverfahren fuer die Betroffenen waeren verlorene Zeit".
Charles Biedermann tituliert sie als "Scharlatan. Auch der polnische
Abgeordnete Dr. Miroslaw Podsiadlo wird in seinem Kommentar sehr deutlich.
Er gewann den Eindruck, dass die Verzoegerung "vorsaetzlich und in
destruktiver Absicht" erfolgt und das man in Arolsen so weiter machen wolle
bis in 23. Jahrhundert. Er geht noch einen Schritt weiter, eine
deutsch-polnische Versoehnung koenne es nicht mit Arolsen geben.
Täterschutz
Konfrontiert mit diesen massiven
Vorwuerfen muss der zustaendige Beamte des Deutschen Bundesministers des
Inneren, Regierungsdirektor Ferdinand Koesters zugeben: "Wir haben
Probleme." Den Eindruck, dass er sich forciert um eine Loesung bemueht
haette, vermittelt er in dem Film nicht. Anonymen Hinweisen auf Missstaende
ginge er prinzipiell nicht nach. Namentliche Beschwerden sind von ihm nach
Aussagen einer ehemaligen Mitarbeiterin des ITS direkt auf dem Schreibtisch
von Charles Biedermann weitergegeben worden, trotz ausdruecklicher Bitte um
Vertraulichkeit.
Eine Marginalie ist in diesem Kontext
die Tatsache, dass die Arolsen-Materialien seit den 70er Jahren fuer
Staatsanwaelte und Forscher fast nicht mehr zugaenglich sind. Nach
internationalen Protesten gab es eine Mini-Loesung: etwa 2 % des
Gesamtbestandes koennen auf Antrag eingesehen werden. Allerdings werden
anscheinend nur Kopien vorgelegt, bei denen die Namen beteiligter Firmen
geschwaerzt wurden. Dr. Irmgard Seidel von der Gedenkstaette Buchenwald hat
dafuer nur ein Wort: "Taeterschutz". Als Begruendung fuer die Schwaerzung
des Namens "Krupp" vor dem Zusatz "-Essen" sei ihr gesagt worden, das der
ITS auch weiterhin gut mit Firmenarchiven zusammenarbeiten wolle ...
Soweit der Bericht.
Danach wird die Amtsfuehrung des ITS
Arolsen zu einem internationalen Problem, welches das Verhaeltnis der
Bundesrepublik Deutschland zu den oestlichen Nachbarn bereits belastet. Was
wird nun werden, wenn die heute in Amerika lebenden Opfer ihre gerade
vereinbarten Ansprueche durch die Muehle Arolsen schicken muessen, weil nur
dort die notwendigen Belege lagern? Und selbst wenn Auskuenfte kommen: wieso
kann man bei so folgenschweren Bescheiden keine Rechtsmittel einlegen?
Forschungsbehinderung durch den ITS
Arolsen, damit muss sich jede Gedenkstaette, jede Regionalgeschichtlerin,
jeder Regionalgeschichtler herumschlagen. Bei der Quellenangabe "ITS
Arolsen", wie sie in Veroeffentlichungen aus der Vor-Biedermannn-Zeit noch
vorkommt, endet derzeit die Hoffnung, weiterzukommen. Ungereimtheiten aus
dem Gedenkbuch der Bundesrepublik beispielsweise haben u.a. die Quelle
Arolsen. Auf welcher Basis sie zustande gekommen sind, kann kein
Wissenschaftler pruefen. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer in Kontakt
zu Familienangehoerigen steht, die bis heute keine Gewissheit ueber das
Schicksal von Verwandten haben. Da macht es schon einen Unterschied, ob die
Grossmutter bei Minsk erschossen oder in Treblinka vergast worden ist.
Die Liste ist daran interessiert,
konkrete Faelle von Forschungsbehinderung zu sammeln, um einen Ueberblick
ueber das Ausmass der Katastrophe Arolsen zu bekommen. Denn, wie schon
anfangs ausgefuehrt: Arolsen ist das groesste Archiv zur Geschichte des
NS-Terrorapparates.
Aber es waeren auch politische
Konsequenzen zu ziehen. Die Organisationsform des ITS Arolsen ist ein
Anachronismus. Die absurden Zustaende koennen nur die durch die
Verselbststaendigung einer Buerokratie ohne demokratische Kontrolle erklaert
werden. Wenn abzusehen ist, dass die Opfer bald alle tot sein werden, ist
auch das Ende des Suchdienstes absehbar. Die Schaffung einer "Fallreserve"
waere damit behoerdenimmanent sogar logisch, da sie den Fortbestand der
Behoerde fuer das naechste Jahrzehnt noch garantiert - bis den ITS leitende
Mitarbeiter verrentungsfaehig sind. Anscheinend wird die Effektivitaet der
Organisation nicht einmal durch eine halbwegs neutrale Rechnungspruefung
hinterfragt. Die Konstruktion Rotes Kreuz - also letztlich ein privater
Verein - als Traeger und Bundesrepublik als stummer Geldgeber stammt
offensichtlich noch aus der Zeit, als an dem ernsthaften Anliegen der
Deutschen, den Opfern zu helfen, ein berechtigter Zweifel bestand. Nach
fuenfzig Jahren sollten diese Bedenken widerlegt sein.
Fuer den Suchdienst in Arolsen sollte
- analog zur Zentralstelle in Ludwigsburg - eine Loesung gefunden werden,
die ihn in eine Bundesbehoerde ueberfuehrt. Diese sollte gleichzeitig die
Betreuung der Opfer optimieren und die Perspektive in der Funktion als
historisches Archiv sehen. Am mangelnden Geld kann es diesmal nicht liegen.
Dr. Ingrid Schupetta
NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld
Postfach 2740
47727 Krefeld
Email: ns-dok@krefeld.de