Zum gestrigen Urteil des Distriktgerichtes in Newark erklärt der
Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte,
Lothar Evers:
Um deutliche Worte war Richter Dickinson Debevoise vom Distriktgericht
in Newark (New Jersey) gestern nicht verlegen: "Die Darlegungen der
Kläger über das Unrecht, das sie durch die Nazi-Regierung und die
Beklagten erlitten, werden als vollständig zutreffend angesehen. ... Es
ist kaum zu bezweifeln, daß die Handlungen, an denen sich beteiligt zu
haben die beklagten Unternehmen jetzt beschuldigt werden, durch
internationales Recht geächtet waren und sind." Trotzdem hat Debevoise
gestern dem Antrag von DEGUSSA und SIEMENS, die Klagen überlebender
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erst gar nicht zuzulassen,
stattgegeben.
Die von ihren ehemaligen Sklaven auf Schadenersatz verklagten deutschen
Firmen bestritten den Überlebenden generell das Recht gerichtlichen
Beistand und Schutz zu suchen. Dieser bornierten Meinung ist das Gericht
in Newark jetzt gefolgt.
Was Sklaven eines vergangenen Krieges für ihre Körperschäden, den
Hunger und den entgangenen Lohn erhalten, das sollen auch in Zukunft
ausschließlich die beteiligten Regierungen bestimmen. Wo kämen wir denn
hin, wenn nach jedem Krieg die Überlebenden ihre ganz individuelle
Schadensrechnung präsentieren würden?
Zur Durchsetzung dieser Strategie haben die verklagten Firmen in den
letzten Monaten weder Kosten noch Mühen gescheut. Rechtsanwälte wurden
gleich dutzendweise geheuert, Scharen von Historikern auf die Suche nach
entlastenden Dokumenten geschickt, pensionierte Abteilungsleiter des
Bundesfinanzministeriums und Expräsidenten des Bundesgerichtshofes mit
Gutachten beauftragt. Das hat schon jetzt Millionen gekostet: Nur für
die Überlebenden hatte man bis heute keinen Pfennig übrig. 10 Millionen
DM zusätzlich hat DEGUSSA HÜLS zur Abwehr der Zwangsarbeits-klagen in
den Etat für Rechtsstreitigkeiten eingestellt. Mit 100.000 DM einer
Mäzenin finanziert unser Bundesverband Information und Beratung für
NS-Verfolgte seit einem Jahr die Kampagne "Gerechtigkeit für die
Überlebenden der NS-Zwangsarbeit". Ein ungleicher Kampf, fürwahr.
Der gestrige Etappensieg der Industrie ist uns Anlaß, jenen unbezahlt
arbeitenden Anwälten zu danken, die versuchen, die Positionen der
Überlebenden vor deutschen und amerikanischen Gerichten gegen die
ökonomische Übermacht der Wirtschaft zu halten; auch den Historikern,
die sich nicht von der Industrie für Besthonorare einkaufen ließen,
sondern auf der Seite der Opfer Wissen zu schaffen versuchten; jenen
Mäzenen, die mit Geld die Organisation und Vertretung der Opfer erst
möglich machten. Die amerikanischen Class Action-Verfahren und die über
4.000 inzwischen bei deutschen Gerichten anhängigen Klagen sind
zuallererst der Versuch der Überlebenden, als Verletzte ernst genommen
und als Rechtssubjekte akzeptiert zu werden. Hierbei sind wir jetzt um
eine Hoffnung ärmer. Dabei wissen wir, daß sich eine gerechte
Entschädigung für die Überlebenden der NS-Zwangsarbeit nicht allein
juristisch einklagen läßt.
Sie bleibt eine politische Aufgabe. Das hatten auch die Fraktionen der
rotgrünen Bundesregierung erkannt, als sie in ihrer
Koalitionsvereinbarung die Einrichtung einer "Bundesstiftung für
NS-Zwangsarbeit" unter Beteiligung der deutschen Wirtschaft beschlossen.
Nur umgesetzt worden, ist dieses Konzept nie. Wohl weil man keine Idee
hatte, wie man die Beteiligung der Wirtschaft hätte organisieren oder
gar erzwingen sollen. Stattdessen sind wir seit bald einem Jahr Zeuge,
wie Bundeskanzleramt und Außenministerium das Programm der deutschen
Wirtschaft "Die Überlebenden müssen endlich wieder zu Bittstellern
werden" unterstützend begleiten. Statt die Überlebenden bei der
Durchsetzung ihrer Forderung zu unterstützen, schlägt sich die
Bundesregierung völlig einseitig auf die Seite der Ex-Sklavenhalter. Den
Spitzenwert auf der nach oben offensichtlich offenen Peinlichkeitsskala
gebührt eindeutig Joschka Fischers Außenministerium. In dem jetzt
entschiedenen DEGUSSA-Verfahren schlug es sich mit einem "Amicus
Curiae-Brief" ausgerechnet auf die Seite des Unternehmens, das das
Raubgold der ermordeten Juden einschmolz und mit seiner Tochterfirma
DEGESCH das zur Ermordung verwendete Zyklon B herstellte.
Im Schreiben aus dem Hause Fischer heißt es: Umso wichtiger ökonomische
Aktivitäten für Kriegsführung und die zerstörerischen Pläne der Nazis
wurden, desto schwieriger konnte man sich den Forderungen des Staates
entziehen. Dies trifft insbesondere auf DEGUSSA zu, die damals ein
Monopol für das Einschmelzen von Metallen hatte." Soll wohl heißen,
DEGUSSA habe sich nicht weigern können, Zahngold, an dem noch Knochen
der herausgebrochenen Unterkiefer hingen, einzuschmelzen. Eine SS, der
sich Deutschlands einzige Edelmetallschmelze beim Verwerten von Zahngold
verweigert ...? Nein - das mögen sich Herrn Fischers Ministeriale lieber
erst gar nicht vorstellen.
Derweil leben die Opfer in Not und Elend. 10% von ihnen sterben jedes
Jahr. Folgt man den Plänen der deutschen Wirtschaft, soll sich daran
auch so schnell nichts ändern. Deren seit einem Jahr angekündigten
Stiftungsinitiative "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" will erst dann
mit Auszahlungen beginnen, wenn die Überlebenden ihren Status als
"Bittsteller" akzeptieren, auf die Einlegung von Rechtsmitteln
verzichten. Durch internationale Abkommen soll die Industrie auch für
alle Zukunft vor Klagen geschützt sein. Zu Zahlungen soll es aber auch
dann noch nicht kommen. Erst sollen die Sklaven ihren früheren "Herren"
gefälligst nachweisen, für wen sie gearbeitet haben, ob das Lager auch
mit Stacheldraht umzäunt war, wer es bewachte, und und und ... Die
"Gönner" auf Industrieseite wollen die Anträge dann prüfen (lassen). Und
erst ganz zum Schluß, wenn der letzte Antragsbogen ausgewertet ist,
werden nach ihren Plänen die Berechtigten von den Unberechtigten - die
Spreu vom Weizen - geschieden. Dann werden sie die Rechenmaschine
herausholen und in einer einfachen Divisionsaufgabe "Stiftungssumme
geteilt durch berechtigte Antragsteller" ermitteln, was dem einzelnen
Überlebenden zusteht. Stiften gehen - nach Hausherrenart. Zwei Jahre
werden bei diesem von der Industrie geplanten Verfahren mindestens ins
Land gehen, 300.000 ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
während dieser Zeit sterben. Und - aber nur vielleicht - werden sich die
"Gönner" in einer eigenen Fernsehshow für diesen "humanitären"
Schlußstrich feiern lassen.
Wenn nicht? ...
Wenn nicht die verantwortlichen Politiker, die
engagierten Bürgerinnen und Bürger dieses Landes doch noch eine würdige
Entschädigung für alle Überlebenden der NS-Zwangsar-beit erkämpfen
werden.
In seinem "Prinzip Hoffnung" zitiert Ernst Bloch das bekannte Lied der
Bauernkriege.
"Geschlagen ziehen wir nach Haus'
Unsere Enkel
fechten's besser aus".
Letzteres wird allerdings bei dieser
"Schlacht" nicht möglich sein.