Gedenktag:
Friedlicher Ablauf in lettischen Städten
Lokalnachrichten - Diena, 17. März 1999 - Liepaja, Valmiera, Jekabpils - In
friedlicher Stimmung verliefen die Ereignisse auch in den anderen lettischen
Städten. In Liepaja verlief eine Zusammenkunft am Denkmal der Verteidiger
Lettlands ohne Zwischenfälle. Keine Genehmigung vom Stadtrat Liepajas für
Kundgebungen und Versammlungen an diesem Tag und dieser Stelle hatten die
Sozialistische Partei und der Verband der Russen in Lettland erhalten. Damit
sollten Verkehrsbehinderungen verhindert werden, denn aus den Anträgen
beider Organisationen ging hervor, daß sich an einer Stelle um die 200
Menschen versammeln wollten.
Dennoch hatten die Interessierten Gelegenheit zu einer
unorganisierten Kundgebung. An dem Denkmal versammelten sich etwa
zwanzig Personen der älteren Generation, Vertreter der Sozialistischen
Partei, Veteranen und Interessierte. Wie Diena beobachtete, wurden
Blumen niedergelegt, aber keine Kundgebung veranstaltet und keine
Losungen ausgegeben. Drei einheitlich gekleidete junge Leute ohne jedes
Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Organisation erschienen in einem
Taxi, legten an dem Denkmal jeder eine Rose nieder und entfernten sich,
ohne mit jemandem ein Wort gesprochen zu haben. Die Geschehnisse am
Denkmal verfolgten eine kleine Schar von Journalisten, ein gutes Dutzend
Polizisten und Ordnungskräfte, außerdem Rentner und Schüler der
nahegelegenen Mittelschule Nr. 5. Wie Diena von Vertreterinnen der
Sozialistischen Partei erfuhr, hätte die kleine Gruppe im Fall einer
Veranstaltung der Legionäre mit einer Protestkundgebung reagiert, doch
da es in Liepaja keine solche Veranstaltung gab, brauchten die
poteniellen Dtranten ihre Plakate nicht einmal zu entrollen.
Auch in Valmiera verlief der 16. März in alltäglicher und
ruhiger Atmosphäre. Wie der stellvertretende Chef der
Gebietspolizeiwache Aldis Ozolins gegenüber Diena sagte, war die
Kontrolle durch die Ordnungskräfte bereits zwei Tage im voraus verstärkt
worden, um jede Art von Ordnungswidrigkeiten zu unterbinden. Besonders
beobachtet wurden die Ruhestätten der im Krieg Gefallenen. Auch beim
Stadtrat von Valmiera waren keinerlei Veranstaltungen für diesen Tag
angemeldet worden. Eine Gedenkminute für die gefallenen Legionäre wurde
am Weißen Kreuz im sogenannten Feuerwehrpark der Stadt abgehalten.
In der Gegend von Cesis fand unter Beteiligung von
Gebietsratsvertretern eine feierliche Kranzniederlegung an den letzten
Ruhestätten der Legionäre auf den Friedhöfen von Cesis und More statt.
Die Gedenkveranstaltung am Vormittag wurde mit einer kleinen Feier am
Standort der lokalen Einheit der Landeswacht eröffnet. Dazu gehörte auch
die feierliche Verleihung des Ehrenzeichens zum fünfjährigen Bestehen
der Landeswacht an mehrere grauhaarige Legionären durch
Brigadekommandeur Valdis Svikis, sagte Maris Niklass vom Gebietsrat
gegenüber Diena.
Wie der Polizeichef des Gebiets Aluksne, Ansis Gailitis,
mitteilte, wurden in Aluksne am 16. März Blumen am Mütterdenkmal
niedergelegt. Dieses Denkmal symbolisiert für die Einwohner der Stadt
die Folgen des kommunistischen Terrors. In Rezekne wurden Blumen am
Denkmal der Lettgallischen Mara niedergelegt, in Jekabpils versammelten
sich ehemalige Opfer der Repressionen und Legionäre am Denkmal für die
Opfer politischer Repressionen unweit der Krustpils-Kirche. In
Daugavpils wurden dagegen, wie Diena vom Stadtrat erfuhr, keinerlei
Zusammenkünfte oder Kundgebungen veranstaltet. Wie die Agentur BNS
mitteilte, fanden in Lestene am Dienstag eine Gedenkminute und ein Zug
von Legionären zum Weißen Kreuz statt, an dem etwa 150 Menschen
teilnahmen, größtenteils ehemalige Legionäre. Keiner der Ehemaligen trug
eine Uniform. An dem Zug beteiligten sich Uniformierte der Landeswehr,
die zunächste eine Ehrengarde für den Zug veranstaltet hatten und sich
dann zerstreuten. An den Veranstaltungen nahmen die Abgeordneten der
Partei "Für Vaterland und Freiheit/Nationale Unabhängigkeitsbewegung"
Juris Dobelis, Oskars Grigs und andere Parteimitglieder teil.
Diena, 17. März 1999, S. 1
Marsch der Legionäre:
Ohne Zwischenfälle
Von Nellija Locmele und Edgars Galzons
Riga, 16. März. Ohne größere Zwischenfälle verlief am
Dienstag der Marsch der ehemaligen lettischen Legionäre im Zentrum von Riga,
an dem mehrere tausend Menschen teilnahmen. Der lettische Präsident und die
Regierung begingen den Soldaten-Gedenktag nicht, aber mehrere Abgeordnete
der Saeima (Parlament) von der Partei "Für Vaterland und Freiheit/Lettische
Nationale Unabhängigkeitsbewegung" (VF/NUB) und von der Volkspartei
beteiligten sich an dem Gedenkmarsch. Am Freiheitsdenkmal begrüßten Tausende
von Menschen den Marsch mit Applaus, doch skandierte die Menge auch den
Slogan "Weg mit Legionären und Faschismus!"
Der Gedenktag für die lettischen Soldaten begann mit einem
Gottesdienst im Dom. Darauf folgte der vom Nationalen Lettischen
Soldatenverband organisierte Marsch vom Domplatz zum Freiheitsdenkmal.
An der Spitze des Zuges marchierten der Vorstand des Nationalen
Lettischen Soldatenverbands sowie Vertreter der VF/NUB und der
Volkspartei mit Blumen in der Hand. Die vielen tausend Teilnehmer des
Marsches hatten sich in Sechserreihen zu einer mehreren hundert Meter
langen Marschkolonne formiert. Darin befanden sich auch Frauen und junge
Leute, doch dominierten Männer ehrbaren Alters. Unter den Teilnehmern
des Marsches konnte Diena niemanden erkennen, der eine deutsche
Armeeuniform oder faschistische Attribute getragen hätte, dagegen
mehrere lettische Staatsfahnen. Der Zug wurde in seiner gesamten Länge
von Dutzenden von Medienvertretern, Polizeibeamten und Wohlgesinnten
begleitet. Auf dem Platz vor dem Freiheitsdenkmal hießen Hunderte von
Menschen den Zug mit Applaus willkommen, und es waren Ermunterungsrufe
zu hören wie "Es leben die Legionäre, sie haben das lettische Volk
gerettet! Lette, bleib standhaft!"
Als die ersten Reihen des Zuges nur noch wenige Dutzend Meter
vom Freiheitsdenkmal entfernt waren, stimmten mehrere ältere Leute
gegenüber des Cafés "Kolonnade" ein Lied mit Akkordeonbegleitung an, und
jemand hob ein Plakat mit einer gegen die Legionäre gerichteten
Botschaft in die Luft. Einen Augenblick später riß bei einem der
Teilnehmer oder auch Unterstützer des Marsches der Geduldsfaden, und er
riß das Plakat herunter. Es entwickelte sich ein Handgemenge und ein
Wortwechsel, doch gelang es den Gesetzeshütern schnell, den Konflikt zu
unterbinden. Nach einer kurzen Weile Singen entfernten sich die
Verurteiler der Legionäre in Richtung Kronwald-Park.
Vor dem Eintreffen der Legionäre hatten sich, so BNS, neun
Personen mit Nachbildungen von Gefängnismützen auf dem Kopf und
sechszackigen Judensternen am Rand des Gehsteigs aufgestellt. Diese
Aktion war nicht von ehemaligen Ghettohäftlinge organisiert worden, wie
Diena bei deren Verband ermittelte.
Unter den Teilnehmern an dem Marsch waren mehr als zehn
Saeima-Abgeordnete der VF/NUB und der Volkspartei, unter anderem Juris
Dobelis, Peteris Tabuns, Dzintars Rasnacs, Janis Lagzdins, Juris Dalbins
und Dzintars Abikis, nicht aber die Vorsitzenden der genannten Parteien.
Diena erkannte auch einige Abgeordnete früherer Parlamente, z.B. Odisejs
Kostands, Gundars Valdmanis u.a.
Janis Dobelis meinte, die Beteiligung von VF/NUB an der Ehrung
der Legionäre sei bereits Tradition. Die Politiker legten im Namen der
Vereinigung einen kleinen Kranz am Freiheitsdenkmal nieder, dessen
Bänder die Aufschrift "Für die lettischen Legionäre gegen den
Bolschewismus" trugen. Lagzdins sagte, für ihn als Saeima-Abgeordneter
sei es eine Pflicht, sich an dem Marsch zu beteiligen, zusammen mit
Menschen, die in den Kampf zwischen zwei Großmächen hineingezogen worden
waren, und die heute erleben müßten, wie Lügen über sie erzählt würden
und die Regierung ihnen den Rücken zukehre. "Meine Anwesenheit ist ein
Beweis dafür, daß sie keine Faschisten sind", sagte Lagzdins.
Obwohl die Vertreter beider Parteien Seite an Seite
marschierten, verbreitete die Fraktion "Für Vaterland und Freiheit" am
Nachmittag eine Mitteilung, in der die zweischneidige Haltung der
regierenden Koalition, besonders der VF/NUB, zum 16. März verurteilt und
die Einführung dieses offiziellen Gedenktages als verantwortungsloses
und zweischneidiges politisches Spiel bezeichnet wird.
Dieser Tag wurde bekanntlich gerade auf Anregung der VF/NUB in
den Kalender der offiziellen Gedenktage aufgenommen. Nichtsdestotrotz
hielten sich mehrere Politiker dieser Partei, darunter der
Saeima-Vorsitzende Janis Straume, am Dienstag im Ausland auf. Ein
Fünftel der Saeima-Abgeordneten, fast die Hälfte der Regierung und am
Nachmittag auch der Staatspräsident selbst befanden sich oder begaben
sich auf Auslandsbesuch. Die Regierung und die Nationalen Streitkräfte
beteiligten sich nicht an den Veranstaltungen zum 16. März. In einem
Kommentar zur Beteiligung von Politikern an dem Zug sagte
Ministerpräsident Valdis Kristopans, man könne sich "nur wundern über
das Bestreben dieser Politiker, sich [vor dem Hintergrund des tragischen
Schicksals vieler Menschen] hervorzuheben", so BNS. Kristopans räumte
ein, das Datum des Gedenkens an die Soldaten solle auf jeden Fall
geändert werden. Der lettische Präsident sagte am Dienstag gegenüber der
Presse, der Dienstag sei für die meisten Einwohner Lettlands ein
angespannter Arbeitstag gewesen, und man müsse seiner Ansicht nach "den
Wellen von Emotionen, die nicht ohne Beteiligung der Medien
hochgeschlagen sind, Gelegenheit zum Abklingen geben" und dann eine
Historikerkommission eine gründliche Einschätzung der Lage erarbeiten
lassen; die Saeima werde "früher oder später" auf die Frage des 16. März
zurückkommen müssen.
Die Teilnahme Tausender von Menschen an der Veranstaltung der
Legionäre kommentierte Ulmanis mit dem Verweis darauf, daß Lettland 2,5
Mio. Einwohner habe.
Mehrere der von Diena befragten Teilnehmer an dem Zug äußerten
ihre Empörung über die Abgrenzung der Regierung und des Präsidenten vom
16. März, die sie als Verrat am lettischen Volk beurteilten. "Wir sind
keine Faschisten, wir haben gegen die Pest gekämpft", sagte der Legionär
Janis Liepsalde. "Es ist nicht unsere Schuld, daß Hitler mir eine
Uniform anzog und die Russen meinem Bruder eine andere. Wir haben doch
nicht gegen die Hitler-Ideologie oder den Kommunismus gekämpft, sondern
hatten das freie Lettland im Herzen", so der Legionär Henriks Kupcs. Ein
jüngerer Teilnehmer des Marsches, Janis Berzins, dessen Vater in der
Legion war, meint, die westliche [Kritiker] sollten mehr lettische
Geschichte studieren. Einer von denen, die Blumen am Freiheitsdenkmal
niederlegten, ist Mavriks Vulfsons, der seinerzeit in der sowjetischen
Armee gekämpft und während des Holocaust viele Angehörige verloren hat.
Er sagte Diena gegenüber, dieses sei sein Ausdruck von Vergebung für
seine Feinde und Hoffnung auf eine lettische Gesellschaft voll
gegenseitiger Achtung und Toleranz. "Die Zeit ist gekommen für einen
neuen Patriotismus ohne Haß", sagte Vulfsons. Seiner Ansicht nach ist
die Einführung des offiziellen Gedenktags am 16. März eine Provokation
der Saeima, die korrekterweise aufgehoben werden müsse.
Wegen des großen Interesses ausländischer Medien an den
Veranstaltungen zum 16. März traf sich Außenminister Valdis Birkavs am
Dienstag mit mehreren ausländischen Journalisten, um den Standpunkt der
Regierung zu erläutern. Russische Politiker [und Vertreter] des
russischen Außenministeriums, die den Marsch bereits kommentierten,
werteten ihn als Versuch zur Rehabilitierung des Faschismus, während das
lettische Außenministerium davon ausgeht, daß Rußland die Situation in
Lettland nicht ausreichend verstanden hat. Meldungen aus Lettland wurden
am Dienstagnachmittag von den größten russischen Fernsehsendern
übertragen; die darin vermittelte Information war im wesentlichen
korrekt.
Obwohl die Veranstaltung der lettischen Legionäre ohne größere
Störungen verlief, wurde Diena Zeuge mehrere kleinerer Zwischenfälle in
der Nähe des Freiheitsdenkmals. Ein älterer Mann, der Diena gegenüber
angab, er habe im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetarmee gedient, rief
laut auf Lettisch "Nieder mit Legionären und Faschismus!" Mehrere
Umstenende bezeichneten ihn als Tschekisten und forderten ihn auf, den
Mund zu halten. Dann wurde er von Polizisten in Zivil aus der Menge
geführt.
Die Leiterin des Pressezentrums der Hauptpolizeiverwaltung der
Stadt Riga, Ieva Zvidre, teilte Diena gegenüber mit, die Polizei habe am
Dienstag zwei Personen festgehalten. Ein ca. 72jähriger Mann, den auch
Diena in der Nähe des Freiheitsdenkmals gesehen hatte, hatte ein Plakat
gezeigt, das die politische Führung Nazideutschlands verherrlichte.
Dieser Mann war nach den Worten Zvidres offensichtlich psychisch
auffällig. Der andere festgehaltene Mann (ca. 54 Jahre) stand unter
Alkoholeinfluß und hatte versucht, Unruhe zu stiften.
Dem Premierminister zufolge haben alle Dienststellen während der
Veranstaltung ihre Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Auch
Diena konnte sich von dem korrekten Verhalten der Polizei während des
Zuges überzeugen. So hatten z.B. nach Abschluß des Marsches ein Mann und
eine Frau ein Plakat mit Vorwürfen gegen die Regierung entrollt. Mehrere
Polizeibeamte, sowohl in Zivil als auch in Uniform, traten abwechselnd
zu den beiden und baten sie, ihre Demonstration zu unterlassen. Nach
kurzer Zeit rollten die beiden ihr Plakat wieder ein. Auch nach dem
Marsch blieben etliche Dutzende von Menschen stehen und sangen
patriotische Lieder, die übrigen diskutierten. Eine Stunde später waren
nur noch wenige Dutzend Menschen am Freiheitsdenkmal versammelt.
Die Legionäre begehen bereits seit der Wiederherstellung der
Unabhängigkeit alljährlich den 16. März als Feiertag, denn an diesem Tag
hatte eine Division aus der 15. und der 19. Legion an der Ostfront, am
Fluß Velikaja, eine gemeinsame Schlacht geschlagen. Dieses Jahr wurde
der 16. März erstmals zum offiziellen Gedenktag für die lettischen
Soldaten erklärt. Zu den während der deutschen Besetzung aufgestellten
lettischen Einheiten der Waffen-SS wurden fast 150 000 Männer
eingezogen, jeder dritte von ihnen kam ums Leben. Nach dem Krieg
bestätigten US-amerikanische Beamte, die baltischen Einheiten der
Waffen-SS seien als nicht zugehörig zu der übrigen SS-Armee zu
betrachten.
Diena, 17. März 1999, S. 1
Kristopans:
Marsch mit Rauferei unter Betrunkenen verglichen
Von Nellija Locmele und Inara Egle
Riga, 16. März. Der lettische Ministerpräsident Vilis
Kristopans hat in einem Kommentar zur Teilnahme von Janis Lagzdins, eines
Abgeordneten der Volkspartei, an dem Marsch der Legionäre diese
Veranstaltung indirekt mit einer Rauferei unter Betrunkenen verglichen.
Sowohl Vertreter der Volkspartei als auch der Partei "Lettischer Weg"
drückten ihr Bedauern über diese Ausdrucksweise aus.
In seinem Kommentar zur Beteiligung von Politikern der Partei
"Für Vaterland und Freiheit/Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung"
(VF/NUB) und von der Volkspartei an dem Marsch der Legionäre sagte
Kristopans am Dienstag, man könne sich nur wundern über das Bestreben
dieser Möchtegern-Politiker, sich [vor dem Hintergrund des tragischen
Schicksals vieler Menschen] hervorzuheben, so BNS. "Am meisten wundere
ich mich über die Teilnahme solcher Genies wie Lagzdins an dieser
Veranstaltung; er erinnert mich an eine Marktfrau, die alle Raufereien
unter Betrunkenen verfolgt", sagte der Ministerpräsident. Wie berichtet,
war der 16. März von der Saeima zum offiziellen Gedenktag für die
lettischen Soldaten erklärt und der Zug der Legionäre vom Rigaer
Stadtrat genehmigt worden. Es ist hinzuzufügen, daß auch der Vater von
Kristopans in der Legion gedient hat.
Janis Lagzdins bedauerte gegenüber Diena, daß die Regierung von
einem Menschen geführt werde, der seinen Vergleich mit einer Rauferei
auf eine Veranstaltung gemünzt habe, an der "Tausende älterer Letten
teilnahmen, die während des Zweiten Weltkrieges ihr Blut für Lettland
vergossen haben". Lagzdins zufolge enthielten die Äußerungen des
Premiers eine Wertung der Gedenkveranstaltung als Ganzes, nicht nur
seiner, Lagzdins, Person als Politiker. "Deshalb schäme ich mich, daß an
der Spitze unserer Regierung ein Mensch wie dieser steht", fügte
Lagzdins hinzu und merkte an, er wundere sich schon seit langem nicht
mehr über Kristopans‘ Äußerungen.
Der Vorsitzende der Partei "Für Vaterland und Freiheit" Andris
Skele sagte der Agentur LETA, Kristopans müsse sich, wenn er "sich zu
den Männern zähle", bei den Legionären entschuldigen. Die
Fraktionsvorsitzende der Partei "Lettischer Weg", Kristiana Libane,
bedauerte Diena gegenüber, daß "in der Erleichterung darüber, daß alles
gut verlaufen ist, der Premier sich einen Ausrutscher erlaubt und sich
so unüberlegt ausgedrückt" habe. Libane betonte, Kristopans habe sehr
viel dazu beigetragen, daß die Veranstaltungen zum Gedenktag für die
lettischen Soldaten in absoluter Ordnung und Sicherheit verlaufen sei,
daher sei es schade, daß die Äußerung diesen Beitrag zum Ablauf der
Veranstaltung negativ überlagert habe. Libane zufolge war das von
Kristopans Gesagte auf subjektives Mißfallen gegenüber bestimmten
Politikern, nicht aber gegenüber der Veranstaltung im Ganzen
zurückzuführen. Den Einwand von Diena, dies sei nicht das erste Mal, daß
Kristopans sich beleidigend über andere Politiker geäußert habe,
beantwortete Libane, der "Lettische Weg" gestatte jedem Kollegen freies
Handeln im Rahmen seines Verständnisses und seiner Kompetenzen, denn in
der Politik sei es "unmöglich, sich herauszuhalten und alles
vorauszusehen". Kristopans müsse selbst wählen und selbst verantworten,
inwieweit er seine Einstellung zu bestimmten Politikern demonstrieren
wolle.
Diena, 17. März 1999, S. 3
Kundgebung:
Die Russische Gemeinschaft und das Stalin-Plakat
Von Andris Sprogis
Riga, 16. März. Die Kundgebung der Russischen Gemeinschaft
Lettlands zum Gedenken an die Opfer des Faschismus verlief am Dienstag in
russischer Herzlichkeit, mit Musik und Liedern. Der einzige Zwischenfall
wurde unter den Organisatoren der Kundgebung selbst und Anhängern einer
radikalen Gruppierung, möglicherweise Barkassowern [sog.
Nationalbolschewisten, d.Ü.], verzeichnet, als diese ein Stalin-Bild mit der
Aufschrift Wir werden siegen erhoben.
Etwa zehn Minuten nach dem offiziellen Beginn der Kundgebung
tauchte inmitten der Menge ein Mann mit zwei roten Luftballons auf.
Einen Moment später stiegen die Ballons höher, und die Teilnehmer der
Kundgebung konnten das daran befestigte Stück Stoff mit dem Bild Stalins
und der Aufschrift Wir werden siegen erblicken. Auch der Vorsitzende der
Russischen Gemeinschaft Lettlands, Garold Astachow, bemerkte das Bild.
Er wies die Demonstrierenden zunächst darauf hin, daß die Verwendung
solcher Symbole unzulässig sei, und versuchte dann, dem Mann das Plakat
aus den Händen zu reißen. Die Gesinnungsgenossen des Demonstranten
begannen ein Handgemenge und versetzten Astachow einige Stöße, der sich
daraufhin bemühte, zu den an den Rand stehenden Polizisten zu gelangen.
Da er keine Hilfe erhielt, wandte sich der Organisator der Kundgebung
wieder den Barkassow-Anhängern zu und versuchte von neuem, die
Verwendung des Stalin-Bildes bei der Kundgebung zu verhindern. Diesmal
verwehrte ihm jedoch ein Mann den Zugang zu dem Transparent. Einen
Augenblick später löste sich der Konflikt auf, ohne noch richtig
begonnen zu haben, als die das Plakat haltende Schnur losgelassen wurde
und die beiden Luftballons mit dem Stalin-Bild davonflogen.
Nach dem Zwischenfall sagte Astachow gegenüber Diena, er
betrachte das Vorgefallene als Provokation, und gab seinem Bedauern
Ausdruck, daß es nicht gelungen sei, den Zwischenfall abzuwenden. Ein
Mann, der sich Diena gegenüber als Vertreter nationalbolschewistischer
Ideen namens Konstantin Malkow vorstellte, erzählte, der Flug der
Ballons mit dem Stalin-Bild sei beabsichtigt gewesen, nur habe man
"nicht gedacht, daß es so schnell passieren würde".
Wie Diena nach der Kundgebung von Vilnis Berzins, Revierleiter
der Rigaer Kommunalpolizei, erfuhr, ist der Mann, der das Plakat hielt,
bisher noch nicht festgehalten worden. Eine endgültige Entscheidung über
das weitere Vorgehen erwartet man sich von der Analyse des Foto- und
Videomaterials. Außer den Nationalbolschewisten beteiligten sich an der
Kundgebung auch Vertreter anderer radikaler Organisationen. Ein Mann
hielt ein Foto von Wladimir Schirinowski mit der Aufschrift Ich halte
den SS-Marsch auf, eine Frau verteilte Flugblätter der Limonow-Anhänger
[ebenfalls Nationalbolschewisten, d.Ü.] mit der Aufschrift Nur ein toter
SS-Mann ist ein guter SS-Mann. In der Mitte des Flugblattes prangte ein
Bild des bekannten Horrorfilm-Darstellers Freddy Krieger mit der
Unterschrift Bitte um eine Spende in russischer Sprache sowie eine
Kontakt-Telefonnummer der Limonow-Anhänger. Auf Plakaten stand Nach
Europa kommen wir nicht mit leeren Händen, sondern mit unserer SS und
Tag der Waffen-SS-Legionen: eine Schande für Lettland. Bis 12.30 wurde
klassische Musik gespielt, danach fanden sich aus der Richtung des
Freiheitsdenkmals weitere Aktivisten ein und begannen mit dem Absingen
selbstgetexteter patriotischer Lieder nach den Melodien von Katjuscha
und Die Glocken von Buchenwald, aber mit geändertem Text. Die
Versammelten sangen "Wir schlugen die Fritze an der Velikaja, wir
schlagen die Wehrmacht und die Waffen-SS" und "Eine Salve aus der
Katjuscha, alle Schützengräben offen, und der Legionär kneift wie ein
Hund". Mehr als drei Lieder hatten sie nicht einstudiert. Auf der
Kundgebung wurden auch Unterschriften gesammelt, um eine Klage über
Menschenrechtsverletzungen in Lettland beim Internationalen Gerichtshof
für Menschenrechte einzureichen, denn, nach den Worten der
Unterschriftensammler, "in Lettland werden die Menschenrechte auf allen
Gebieten verletzt".
Exkl. Baltic News Watch für Hagalil Online
Bei Weiterverwendung ist als Quelle
http://www.hagalil.com
anzugeben.
Mit freundlichen Grüssen und den besten Empfehlungen - SLW
(zZ - xxx)
haGalil onLine -
03-99 |