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Kultur

12. Dezember 1998

Zum Streit Walser/Bubis/Dohnany:
Die Sprengung des Konsenskäfigs

Rafael Seligmann, Schriftsteller und Politologe

„Der Streit wird gefährlich“, titelt die „FAZ“ eine Stellungnahme Richard von Weizsäckers. Der ehemalige Bundespräsident will Schaden vom deutschen Vaterland abwenden: Der Zwist drohe „außer Kontrolle zu geraten und Wirkungen zu entfalten, die niemand wollen kann“. Der Christ von Weizsäcker zeigt sich besorgt über das Unverständnis der Jugend, der elder statesman über die „besorgten Fragen . . . im Ausland“. Fazit: „So darf es nicht weitergehen.“

Droht Deutschland Gefahr? Martin Walser hatte in seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sein Mißbehagen über die „Instrumentalisierung des Holocaust“ beklagt. Er sprach von einer „Moralkeule“ und von der Ritualisierung des Gedenkens.

Walsers Worte versetzten den Präsidenten des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, Ignatz Bubis, in Rage. Er nannte den Schreiber einen „geistigen Brandstifter“, verglich ihn mit rechtsextremen Politikern und Publizisten. Als der Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi dem Schriftsteller beisprang, beschimpfte Bubis ihn und Walser als „latente Antisemiten“. Die Feuilletons interpretierten und kommentierten um die Wette.

Gemach! Zur Erregung besteht kein Grund. Martin Walser hatte lediglich ausgedrückt, was viele Deutsche empfinden – auf seine bekannt verquaste Art. Der Schriftsteller hatte sich zum Anwalt all jener gemacht, die nicht mehr hinsehen wollen, wenn an bestimmten Daten immer wieder an deutsche Verbrechen erinnert und mit hohlen Worten routiniert der Toten gedacht wird. Eine klare Mehrheit der hiesigen Bevölkerung verlangt einen Schlußstrich unter die Vergangenheit.

Ignatz Bubis wiederum hat die Meinung vieler älterer Juden in Deutschland ausgesprochen. Sie können und wollen den Mord an ihren Angehörigen nicht verwinden, vergessen und vergeben. Jeder, der die Erinnerung an die Getöteten in Frage stellt, verletzt ihre Gefühle.

Bemerkenswert an Walsers Rede und Bubis’ Antwort war also nicht ihr Inhalt, sondern daß endlich prominente Männer den Mut fanden zu sagen, was sie dachten und empfanden. Doch warum erst jetzt? Die Antwort ist einfach. Weil nun erst die Zeit reif ist.

Jahrzehntelang existierte ein unausgesprochenes deutsch-jüdisches Einverständnis, nicht zu tief in den Wunden der Vergangenheit zu rühren. Daher tauschte man in der Öffentlichkeit nur Phrasen aus. Die Deutschen sprachen so ausdauernd von Betroffenheit, daß man meinen konnte, das Kürzel BRD stehe für Betroffenheitsrepublik Deutschland. Die Täter und ihre Nachkommen verdrängten Schuld und Scham.

Die Davongekommenen konnten nicht öffentlich über ihre Schuldgefühle reden: die „Schuld, überlebt zu haben“. Ein Grund kam hinzu: die Schande, als Jude in Deutschland, im Lande der Mörder, zu leben. Bis heute halten Juden in aller Welt ihre Glaubensgenossen in Deutschland für ehrlos. Als Israels Staatspräsident Ezer Weizman vor zwei Jahren im Vorfeld und während seines Deutschlandsbesuchs die Schamlosigkeit der Juden dieses Landes beklagte, sprach er den meisten Israelis aus dem Herzen. Deutschlands Juden galten ihren Mitjuden als Parias – und was noch schlimmer war: Sie empfanden sich selbst als minderwertig.

So entstand eine Koalition des Schweigens und der Heuchelei. Die Juden wurden unter die Käseglocke des allgemeinen Wohlwollens gepreßt. Diese beraubte sie der Luft zum Atmen. Angst und mangelnder Sauerstoff benebelten offenbar auch ihre Denkfähigkeit. Anders ist es nicht zu erklären, daß Deutschlands Juden sich zum Hofnarren der Philosemiten degradieren ließen. Die deutschen Judenfreunde von eigenen Gnaden hängen bis heute einem alten Judenbild an: dem weisen Nathan.

Kreiert hatte diese Kunst- und Kultfigur der evangelische Pastorensohn Gotthold Ephraim Lessing. Nathan ist klug, souverän, gütig, verzeiht und vergibt alles. Dieser leblose Popanz wurde zum Leitbild der deutschen Judenfreunde. Den Hebräern blieb nichts übrig, als Größe, Güte und Versöhnungsbereitschaft zu heucheln. Da Deutschland ohnehin fast „judenrein“ gemordet worden war, kamen die Philosemiten in der Regel ohne real existierende Juden zurecht. Sie glichen Schmetterlingssammlern, die die Objekte ihrer Begierde schätzen, am besten mit ihnen jedoch umzugehen wissen, wenn sie bereits tot und präpariert sind.

So wurde in Deutschland über ein halbes Jahrhundert „Betroffenheit“ über die Shoah zelebriert. Den Juden kam in dieser Schmierenkomödie der Part des glaubwürdigen Zeugen zu, der den guten deutschen Willen zu bestätigen hatte. Gegen diese Ritualisierung hat sich Martin Walser nun gewehrt. Ihn kränkte dabei die deutsche Würdelosigkeit. Die Schmerzen der Juden hat er nicht wahrgenommen.

Ignatz Bubis dagegen sah allein die Pein der Juden. Er fand den Mut, den eigenen Schmerz herauszuschreien. Ein Schmerzensschrei ist selten ein Kammerton. Der Vorwurf des Antisemitismus ist absurd. So absurd wie die Anregung Dohnanyis, die Juden sollten sich fragen, ob sie sich anders, besser, verhalten hätten, wenn die Nazis sie nicht verfolgt hätten. Nichts anderes tun die Hebräer seit Auschwitz: Dies ist Teil ihres schlechten Gewissens, überlebt zu haben. In „Jakob der Lügner“ schilderte der deutsch-jüdische Autor Jurek Becker dieses Nicht-Bessersein drastisch.

Es wurde höchste Zeit, daß Deutsche und Juden den Konsenskäfig des nichtssagenden Wohlwollens gesprengt haben. Nun brüllen sie sich mit lange aufgestautem Zorn gegenseitig an. Es ist zu hoffen, daß sie einander zuhören. Begreifen, was den Widerpart schmerzt.

Es gibt allerdings zu denken, daß dieser Streit bislang ein Disput alter Herren ist. Bubis, Walser und Dohnanyi sind gut siebzig. Nun wäre es an der Zeit, daß jüngere Deutsche, Juden und Christen, sich am Streit beteiligen. Sie haben den Schmerz nicht unmittelbar erlebt. Ihnen gehört die Zukunft. Hoffentlich finden sie die Geduld, einander zuzuhören.

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