durch Ihre deutliche Position zur
Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter dem
NS-Regime ist Bewegung in die zuvor starre Verweigerungshaltung der
deutschen Industie gekommen.
Die VOLKSWAGENWERKE und SIEMENS haben bereits
Fonds auf Firmenebene angekündigt. Die Einrichtung einer Bundesstiftung
"Entschädigung für NS-Zwangsarbeit" ist zwischen den Parteien der neuen
Regierungskoalition fest vereinbart.
Aus unserer engen Kooperation mit SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen wir, daß die Anliegen der Verfolgten des
Nationalsozialismus in beiden künftigen Regierungsfraktionen bestens
verankert sind. In Abstimmung mit unserer Mitgliedsorganisation, der
"Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten" und unserem
Kooperationspartner, Hans Jochen Vogels Projekt "Gegen Vergessen – Für
Demokratie" hatten wir uns daher entschieden, die
Koalitionsverhandlungen nicht durch das Einbringen punktueller
Forderungen zu beeinflussen, bzw. zu stören. Die Ergebnisse der
Verhandlungen haben wir auch im Namen der von uns vertretenen
Überlebenden des Nazi-Terrors gestern mit der beiliegenden
Presseerklärung begrüßt.
Wenn wir heute unseren ursprünglichen Plan,
Sie und Ihre zukünftigen Minister erst nach Konstituierung der neuen
Regierung zu kontaktieren aufgeben, so deshalb, weil der SPIEGEL dieser
Woche ankündigt, daß bereits vor Regierungsbildung auf einem
Spitzentreffen zwischen Ihnen und führenden Vertretern der deutschen
Industrie am kommenden Donnerstag über das Thema "Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit" diskutiert wird. Hierzu möchten wir Ihnen einige
Anmerkungen aus der Sicht der NS-Verfolgten und ihrer Organisationen
zukommen lassen.
Durch das Londoner Schuldenabkommen, die
Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte und eine kollektive
Verweigerungshaltung von alter Regierung und Industrie waren die
Überlebenden der NS-Zwangsarbeit und ihre Angehörigen über Jahrzehnte
daran gehindert, ihre Forderungen nach Lohn, Schmerzensgeld und
Schadenersatz rechtlich durchzusetzen.
Die jetzt in Deutschland und den Vereinigten
Staaten eingereichten Klagen sind daher ein erster Versuch einer
selbstbewußten Interessen-Artikulation dieser meist alten, und of auch
sehr kranken Gruppe der Überlebenden. Liest man die Klageschriften, so
erheben die Verfolgten ureigenste Forderungen der Sozialdemokratie,
sowie der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung:
- Angemessene Entlohnung
- Arbeitssicherheit
- Unfallschutz
- Menschenwürdige Lebens- und
Arbeitsbedingungen
Uns liegen zahlreiche Koorespondenzen vor,
die Überlebende mit großen deutschen Konzernen in den letzten Jahren und
Jahrzehnten geführt haben. Mit wenigen Ausnahmen wurden ihnen selbst
minimale Zugeständnisse verweigert.
Die Beteiligung der deutschen Industrie am
Programm "Vernichtung durch Arbeit" hat zu unermeßlichem Schäden
geführt. Hunderttausende sind den im Wortsinne mörderischen
Arbeitsbedingungen zum Opfer gefallen. Die Meisten in den letzten
Monaten des Krieges beim Sprengen von Stollen für unterirdische
Produktionsanlagen.
Am letzten Wochenende konnte ich mir im
Konzentrationslager Mittelbau-Dora bei Nordhausen die unheimlichen
unterirdischen Katakomben für die Produktion der Vergeltungswaffe V2
anschauen. Der Öffentlichkeit bisher nur in minimalen Teilen zugänglich,
gibt es dort ein 2 km langes Stollensystem. Es wurde im Wesentlichen
unter unmenschlichsten Arbeitsbedingungen binnen drei Monaten so
hergerichtet, daß zum einen die Fließbandproduktion der V2 beginnen
konnte, andererseits die Werkzeugmaschinen der beteiligten Firmen vor
den alliierten Bombenangriffen in Sicherheit waren. Fotos der alliierten
Befreier zeigen diese universal einsetzbaren Werkzeugmaschinen dicht
aneinandergereiht in den Tunnelgängen. Dadurch daß ein großer Teil
dieser Produktionsanlagen unmittelbar nach Kriegsende wieder
privatwirtschaftlich genutzt werden konnte, wurde das möglich, was im
Alltagsbewußtsein gemeinhin als "Wirtschaftswunder" bezeichnet worden
ist. Anders wäre es kaum vorstellbar gewesen, daß bereits 1946 der
zehntausendste Nachkriegskäfer die Bänder der Wolfsburger VW-Werke hätte
verlassen können.
Der durch die oben skizzierten Lebens- und
Arbeitsbedingungen entstandene Schaden ist nicht wieder gutzumachen.
Gerade deshalb geht es jetzt darum, in angemessener Form
Schadenersatz zu leisten.
Natürlich ist es erfreulich, daß die deutsche
Industrie jetzt schnell zu einer umfassenden Lösung kommen will und Sie
hierbei um Vermittlung bittet.
Verstimmt sind wir allerdings über das
dahinter steckende Kalkül der Unternehmen: laut SPIEGEL gehen Ihre
Gesprächspartner für den kommenden Donnerstag davon aus, daß
"wenn die betroffenen Unternehmen sich
gemeinsam mit der Regierung um Lösungen bemühen.... US-Gerichte nach
Einschätzung amerikanischer Anwälte die Sammelklagen möglicherweise
erst gar nicht annehmen oder zumindest aussetzen."
Die Unterstützung dieses Kalküls darf nicht
Aufgabe eines Politikwechsels in Bonn gegenüber NS-Verfolgten sein.
Die Industrie mag ohne Ihre Intervention
nicht zur Abgabe eines angemessenen Angebotes gegenüber ihren ehemaligen
Sklaven in der Lage sein. Die überlebenden NS-Verfolgten und ihre
Angehörigen brauchen jedoch Ihre Unterstützung, sehr geehrter Herr
Ministerpräsident, weitaus dringender als die beteiligten
Industrieunternehmen.
Sie brauchen Hilfe und Unterstützung bei der
Durchsetzung ihrer Schadenersatzansprüche: Der Schaden ist zu beziffern,
Forderungen sind zu stellen und deren Durchsetzung ist abzusichern. Die
Einrichtung einer Bundesstiftung "Entschädigung für NS-Zwangsarbeit"
kann deshalb nicht allein zweiseitig zwischen Regierung und Industrie
verhandelt werden. Die NS-Verfolgten selbst, ihre Organisationen und
Interessenvertreter sind für faire Verhandlungen als "Gegner im
positiven Sinne" unverzichtbar.
Ohne eine solche Interessenvertretung der
Opfer blieben die in die neue Stiftung einfließenden Finanzmittel vom
guten oder schlechten Willen der beteiligten Industrieunternehmen
abhängig. Wären diese Mittel zu gering, würde es entweder gar nicht
lohnen, eine solche Stiftung einzurichten, oder die Auszahlungen blieben
unzureichend, was eine erneute Demütigung der Opfer zur Folge hätte.
Zur Vorbereitung Ihres Gespräches am
Donnerstag möchten wir daher einige zentrale Positionen der
NS-Verfolgten und ihrer Interessenverbände präzisieren:
- Die Schadenersatzforderungen dürfen sich
nicht nur auf die heute noch lebenden Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter beschränken. Gerade auch die Witwen und Waisen der den
mörderischen Arbeitsbedingungen zum Opfer gefallenen Zwangsarbeiter
haben Anspruch auf unsere Zuwendung und materielle Kompensation.
- Die finanzielle Leistung der deutschen
Unternehmen muß deutlich höher sein, als die gerade zwischen jüdischen
Organisationen, amerikanischen Anwälten und den Schweizer Banken
ausgehandelte Summe von 1,25 Milliarden Dollar. Verglichen mit der
massiven Verletzung von Menschenrechte durch die Versklavung von
Millionen Menschen und dem Tod Hunderttausender als Konsequenz der
NS-Zwangsarbeit nehmen sich die den Klagen gegen die Schweiz
zugrundeliegenden Vorwürfe wie "Hehlerei" und "Unterschlagung" fast wie
Kavaliersdelikte aus.
- Die Bundesregierung sollte so schnell wie
möglich die jetzt gültigen Verjährungsfristen für die Durchsetzung von
Schadenersatzansprüchen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
verlängern.
Der größte Teil der jetzt gerade erst gerichtlich durchsetzbaren
Ansprüche droht sonst im Mai 1999 (3 Jahre nach dem richtungsweisenden
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996) erneut der
Verjährung anheim zu fallen.
- Zur Zeit wissen die Überlebenden in
Mittel- und Osteuropa nicht, wie sie ihre Interessenvertretung
realisieren sollen. Sie kennen in der Regel keine deutschen Anwälte, die
ohne finanzielle Vorleistung für sie tätig werden, sie können die
Gerichtskosten von ca. 600 Mark pro Fall nicht aufbringen. Gerade
deshalb brauchen sie die Unterstützung der neuen Regierung und der sie
tragenden Koalitionsparteien.
Wir möchten Sie recht herzlich bitten,
möglichst bald nach Konstituierung der neuen Bundesregierung auch die
ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu empfangen und ihre
Forderungen zu unterstützen.
Über die bereits zu Zeiten der alten
Bundesregierung eingeleiteten Kampagnenschritte unseres Verbandes
informiert sie die beiliegende Projektskizze "Gerechtigkeit für die
Überlebenden der NS-Zwangsarbeit". Zur Unterstützung der Überlebenden
schlagen wir außerdem die Einrichtung der in einer weiteren
Projektskizze beschriebenen "Clearingstelle NS-Zwangsarbeit" vor;
vergleichbare Konzeptionen werden auch von der IG Metall und dem
Deutschen Gewerkschaftsbund gefordert.
Wir würden uns sehr freuen, wenn wir bald
nach Konstituierung der neuen Bundesregierung mit einem der zuständigen
Fachministerien das Konzept der Clearingstelle diskutieren könnten und
erste Schritte zu deren Realisierung vereinbart werden könnten.
In diesem Sinne wünschen wir Ihrem Gespräch
am kommenden Donnerstag ein gutes Gelingen und würden uns sehr freuen,
die Thematik bald auch persönlich mit Ihnen erörtern zu können. Mit den
besten Wünschen für Ihre zukünftige Regierungsarbeit verbleiben wir