Kulturförderung und politische
Bildung gerieten zum Luxusartikel. Auch hier wird immer
mehr dem Engagement Einzelner überlassen. In wohlfeilen Worten,
ausgesucht und formuliert durch hochbegabte und hochdotierte
Redenschreiber, wird solches Engagement bei entsprechenden Gedenk- und
Mahnveranstaltungen gerne 'begrüßt' - im politischen Alltag aber gleich
wieder ignoriert bzw. sich selbst
überlassen.
Etwas mehr als wohlwollende Worte wollten
unsere Staatsdiener aber dennoch einer 'löblichen Initiative' zuteil
werden lassen: Dem Verein "Art und weise e.V.", der sich seit Jahren
durch die kreative Arbeit Berliner Künstler mit geistig behinderten
Schülerinnen und Schülern um die Allgemeinheit verdient gemacht hatte,
war es nach zähen Verhandlungen mit Abgeordneten des Berliner Parlaments
gelungen, die grosszügige Einwilligung zu erhalten, im Herbst dieses
Jahres in der "galerie im parlament" die besten Ergebnissen dieser
Arbeit auszustellen. Der bekannte (ehem. ostberliner) Schriftsteller und
Lyriker
Jürgen Rennert wurde vom Verein daraufhin um Textbeiträge
für den Katalog gebeten. Im Berliner Dom, dessen
Kunstdient er als stellvertretender Leiter betreut, hatte
er schon vor längerem eine Möglichkeit geschaffen, die Kunstwerke und
ihre als "geistig behindert" apostrophierten, mental höchst beweglichen
Schöpferinnen und Schöpfer vorzustellen.
Ein Ausstellungskatalog wurde entworfen. Die
Texte Jürgen Rennerts eingebaut und der Katalog beim
Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses vorgelegt. Dort scheint
man vom Fördern weniger Ahnung zu haben als vom Reglementieren. In
gutsherrlicher Manier erging von dort am 30.09.98 folgender Bescheid:
Anlage-1
Abgeordnetenhaus BERLIN
Der Vorsitzende des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und
Kulturelle Angelegenheiten
An ART und weise
e.V.
z. H. Frau Pohl
Betrifft: Ausstellung
"Nashorn macht Schule"
Sehr geehrte Frau Pohl,
leider muß ich Ihnen
mitteilen, daß die von Ihnen für den Katalog vorgeschlagenen Texte
von Herrn Jürgen Rennert seitens unseres Hauses nicht
akzeptiert werden. Ich schlage daher vor, die Texte
"Von der Gleichgewichtigkeit", "Vom Kunstwerk" und "Noachs Kasten"
zugunsten weiterer Abbildungen von Arbeiten der Kinder
ersatzlos entfallen zu lassen.
Die von uns zu
liefernden Texte des Präsidenten und von Dr. Biewald sowie die
überarbeitete Version des Impressums werden Sie wie verabredet am
Freitag, dem 2. Oktober 1998, per Fax erhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
gez. M. Smoltczyk |
Der Verein reagierte mit folgendem
Bittschreiben:
Anlage-2
ART und
weise e.V. Der Vorstand
Sitz: Bürgerhaus Grünau Regattastraße 141 12527 Berlin
an
Abgeordnetenhaus BERLIN
Betrifft: Ausstellung
"Nashorn macht Schule", Galerie im Parlament Texte für den Katalog
zur Ausstellung
Sehr geehrte Damen und
Herren,
in Kenntnis der
kategorischen Ablehnung der Texte des bekannten Berliner
Schriftstellers Jürgen Rennert durch den Vorsitzenden des
Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und kulturelle
Angelegenheiten im Abgeordnetenhaus in Berlin, Herrn Dr. Biewald,
bringen wir unser Befremden zum Ausdruck.
Wir halten die
Texte nicht nur für engagiert und wünschenswert, sondern auch für
unentbehrlich im Zusammenhang mit der Darstellung unseres Projektes.
Wo, wenn nicht im Parlament, gibt es die Gelegenheit, vor
versammelter politischer und kultureller Kompetenz über die Brisanz
des Lebens "Behinderter" in unserer Gesellschaft und über ihre
Fähigkeiten und Begabungen zu sprechen. Uns sind die Texte so
wichtig, daß wir bei weiterer Ablehnung erwägen. schweren Herzens
die Ausstellung zurückzuziehen und die Angelegenheit in der
Öffentlichkeit zu diskutieren.
Wir hoffen auf den
kritischen Sachverstand der Abgeordneten oder verschiedenen
Fraktionen, um die willkürliche Ablehnung der Texte zu verhindern.
gez. Antje Fretwurst
Colberg |
Am 1.Oktober
tagte der Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses, um über den
Einspruch (Anlage-2) des Vorstands des Selbsthilfeverein zur Förderung
von Kunst und Kultur gegen das am 30. September ergangene Verbot
(Anlage-1) zu beraten. Gegen 17h wurde mitgeteilt, daß an der Ablehnung
der Texte nicht zu rütteln sei. Es könne allenfalls erwogen werden,
Herrn Rennert um einen streng auf die "Arche Noah" (Anm.: Kurzfassung
des gleichfalls abgelehnten Rennert-Textes aus dem Kinderbuch "Noachs
Kasten") bezogenen neuen Textvorschlag zu bitten. Dieser müsse bis
spätestens am Morgen des 2.Oktober beim Vorsitzenden des Ausschusses für
Wissenschaft, Forschung und kulturelle Angelegenheiten, Herrn Dr.
Biewald (CDU), vorliegen, da der Katalog zur Ausstellung "Nashorn macht
Schule - Künstlerische Arbeiten anders begabter SchülerInnen" in der vom
Abgeordnetenhaus unterhaltenen "galerie im parlament" am Montag in Druck
gehe.
Da dieser Aufforderung
natürlich nicht nachzukommen war, hat Jürgen Rennert nun den Verein
gebeten, klein beizugeben, um - am Vorvorabend des Staatsfeiertages -
nicht die Chance zu vertun, den betroffenen Jugendlichen wenigstens
einmal im Leben Eingang ins Hohe Haus der Bundeshauptstadt Berlin zu
verschaffen.
Wäre dies ein Einzelfall, so
würden wir Ihre Aufmerksamkeit nicht für diesen Fall fordern. Dieser und
ähnliche Fälle sind beispielhaft für die Unglaubwürdigkeit der
Einflussreichen in unserem Staat. Diese Unglaubwürdigkeit ist der
Nährboden für die Rattenfänger der rechten Szene. Es ist leider eher die
Regel als die Ausnahme, dass staatliche Zuwendungen wie Almosen vergeben
werden. In den entsprechenden Gremien herrscht eine Gutsherrenmanier,
die davon ausgeht, dass die Förderung der Initiativen Einzelner vom
Wohlgefallen der zuständigen Sachbearbeiter abhängig zu machen sei. Ein
solcher Ansatz ist absolut undemokratisch. Er begreift nicht, dass die
Diener dieses Staates - und nichts anderes sind auch die Vorsitzenden
entsprechender Ausschüsse - nicht nach ihrem Empfinden sondern nur nach
dem pluralistischen Interesse aller, die diesen Staat tragen und
finanzieren (und dies sind die Einwohner dieses Landes), zu entscheiden
haben. Die Gelder, die sie vergeben, sind keine Mittel privater Mäzene
sondern die von der Allgemeinheit in ihrer Gesamtheit aufgebrachten
Mittel.
Gefordert werden
Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Kreativität, manchmal sogar
Zivilcourage - gefördert werden Duckmäusertum, Opportunismus,
Gleichgültigkeit und Egoismus. Interessant in diesem Zusammenhang ist
auch die Tatsache - und dies schon eher in eigener Sache, dass 95% der
staatlichen Fördermittel im Bereich neuer Medien in die Kassen der
Medienzaren Bertelsmann, Kirch, Holzbrinck und Burda fliessen.
Brot und Spiele am Fürstenhof
dg
Die abgelehnten, als
auch weitere Texte von Jürgen Rennert finden Sie
hier.