Nebenbei sollte seinem Widersacher, der sich durch
jahrelanges Kanzler-watching die großen Gesten bei ihm abgeschaut hatte,
mit diesem staatsmännisch segnenden Umgang bedeutet werden, wer der
wahre Meister der Inszenierung war. Dumm nur, daß der neue
Regierungssprecher, in Schwarze Pumpe hinter den Kanzler aller Deutschen
geklemmt, in einem Interview überraschend undiplomatisch formuliert
hatte: „Die Menschen in Ostdeutschland sollten aber wissen, daß die
Hilfsbereitschaft mit der Wahl von Extremisten nicht überstrapaziert
werden darf.“ Außerdem sei die PDS sowieso eine Nazi-Partei. Wenn einer
so ahnungslos parforce reitet, wird selbst den Herrenreitern von der
Frankfurter Allgemeinen der Historikerstreit zu billig gewonnen. Helmut
Kohl aber stellte sich mannhaft vor und hinter seinen Knappen.
Modern Talking in Bonn
Aber das Unglück nahm bereits seinen Lauf. Jahrelang
hatte die atombegeisterte Regierung Kohl den Tanzbären der
Energiewirtschaft gespielt, fröhlich pfeifend Millionen für den Einsatz
von Polizisten ausgegeben, die auf Verlangen gern in die Kamera sagten,
daß die Castor-Transporte todsicher seien, und dann mußte die
Umweltministerin zugeben, daß sie ebenfalls jahrelang schwerbelastete
Castor-Behälter durchs Land hatte fahren lassen. Helmut Kohl wachte auch
hier über sein Gesinde und warf sich im Bundestag vor die hoffnungslose
Angela Merkel und ihre „großartige Arbeit“. Und dann die Berufung von
Hans-Hermann Tiedje zum Wahlkampfberater. Beim letzten Mal mußte der
Auto-Propagandist Peter Boenisch aushelfen, jetzt hilft nur noch der
Berater von Dieter Bohlen und Schalk-Golodkowski. Es wird langsam ernst
und ziemlich finster um Helmut Kohl.
Alle Angeklagten sind schön, heißt es bei Franz
Kafka im „Prozeß“, und Helmut Kohl, dem gußeisernen Kanzler, eignete an
jenem Tag im Kraftwerk Schwarze Pumpe etwas selten Edles. Was er auf
seine späten Tage an Vernunft verliert, gewinnt er unerwartet an Tragik.
Jahrelang gab er sich willig als ABM-Projekt für
Kabarettisten und Karikaturisten her, spielte Birne und den Tolpatsch
auf der Weltbühne. Heimlich aber nahm er zu an Weisheit und Umfang und
reifte unter der Hand zum Staatsmann. Zwar gab es eine Zeit, da
wollte er Schlesien zurückhaben und verglich Gorbatschow mit Goebbels,
gab sogar Ronald Reagan das Ehrengeleit zu den SS-Gräbern in Bitburg,
aber außer Otto Hauser erinnert daran nichts mehr. Sogar der
wütende Kohl ist vergessen, der in Halle auf Tomatenwerfer losging und
sie am liebsten erwürgt hätte. Deutschland ist wiedervereinigt, Europa
eurofiziert, Kohls geschichtlicher Auftrag erfüllt. Der einzige, der das
noch nicht recht weiß, ist der Kanzler. Sei’s wegen des Newtonschen
Gesetzes oder einer anderen politischen Mechanik, Kohl ist immer noch
da, obwohl es längst vorbei ist mit ihm.
Inzwischen läßt er die Akten aus den ersten Jahren
seiner unendlichen Amtszeit erscheinen, als wär’s eine längst vergangene
Epoche, dabei ist er immer noch im Amt. Vielleicht dämmert ihm dennoch
langsam die Einsicht des nahenden Endes, verhält er sich deswegen immer
weniger rational. Die Umfragen sind gegen ihn, die Wähler würden ihn
liebend gern gegen seine jüngere Version Gerhard Schröder austauschen,
aber Kohl sitzt weiter auf seinem Posten, benimmt sich merkwürdig und
holt seinen alten Feind Tiedje als Berater für seine letztes Stündlein
und den ahnungslosen Tropf Hauser als Regierungssprecher.
Offenbar regiert in Bonn nicht mehr das
„Ungeschick“, das Michael Rutschky so kennzeichnend fand für die
achtziger Jahre, sondern ein schwerdepressives Selbstmordkommando.
Westerwelle und Möllemann die ewigen Windhunde von der FDP, heben schon
den Finger und wollen auch beim nächsten Mal dabei sein und bitte nicht
verantwortlich gemacht werden für die Niederlage. Wolfgang Schäuble weiß
nicht, ob er drinnen oder draußen ist, ob er noch der Kronprinz ist oder
schon wegen Verrats verurteilt.
Helmut Kohl hält weiter die Stellung, auch wenn
alles vorbei ist. Mit frischen Subventionen wird sich die
Arbeitslosigkeit vielleicht kleinerreden lassen. Jeder weiß, daß es
vorbei ist, aber Kohl macht weiter. Es fehlt eigentlich nur noch der
„Nero-Befehl“ und die Erklärung, daß Deutschland einen wie ihn, Kohl
nicht verdient habe. Immerhin ist da die Demokratie vor, der gestürzte
und abgewählte Kanzler kann sein Volk vielleicht verwünschen, aber nicht
mit in den Untergang reißen. So geht alles seinen Gang in den Herbst.
Die nächste Regierung wird das Versagen der gegenwärtigen bezahlen
müssen, und die FDP wird wie immer dabei sein. Nur Helmut Kohl wird
furchtbar schmollen über sein undankbares Volk. Demokratie ist, wenn man
trotzdem lacht.
Alle Angeklagten sind schön, sagt Kafka, aber der
Prozeß geht nicht gut aus: ''Es war, als sollte die Scham ihn
überleben.''
aus / nach WILLI WINKLER SZ-0698