Von Beate Seel
In einer vornehmen Gegend von Tel Aviv hat kürzlich
das "Cafe Like" aufgemacht. Man erhält dort, für einen Gegenwert von
neun Mark, alles, was das Herz begehrt: eine Tasse Kaffee oder ein
erlesenes Menü mit einem guten Glas Wein. Doch Tasse und Glas sind leer,
wenn sie von der Kellnerin serviert werden; und wer die silberne
Wärmehaube über dem stilvoll arrangierten Gedeck hochhebt, wird keine
appetitlichen Köstlichkeiten darunter finden. Nichts als Design; das
Dekor ist alles. Die Stammgäste aber sind's zufrieden. "Ich mag den Stil
hier", sagt ein Besucher und greift zu seiner mitgebrachten Zigarette.
Anderthalb Autostunden von Tel Aviv entfernt liegt
die palästinensische Stadt Hebron mit 150.000 Einwohnern. Dort leben
auch 400 jüdische Siedler, beschützt von 1.000 israelischen Soldaten.
Die Siedler haben für die Tel Aviver Szene, für westlichen Lebensstil
überhaupt nur Verachtung übrig. Schließlich leben sie nach Gottes Wort.
"In New York war das Ghetto, hier ist das Ghetto, das Ghetto ist
überall, wo Juden leben", sagt eine aus den USA eingewanderte Siedlerin,
die Kinder auf einem Spielplatz hinter einem Stacheldrahtzaun
beaufsichtigt.
Kontraste in einem kleinen Land, wie sie kaum
stärker sein könnten. Doch während die Tel Aviver Schicki-Micki-Szene
mit ihrer Orientierung am neuesten Lifestyle harmlos ist, kann man das
von Eiferern wie in Hebron nicht sagen. Wo Gott das Sagen hat, bleibt
kein Raum für einen Kompromiß - weder in religiösen noch in
territorialen Fragen. Im Extremfall ist ihnen demokratisches Miteinander
gleich; die schlimmsten Fanatiker schrecken inzwischen selbst vor Mord
nicht zurück.
50 Jahre nach der Staatsgründung erscheint Israel
innerlich so zerrissen wie nie. Der Friedensprozeß mit den
Palästinensern spaltet die Gesellschaft in zwei etwa gleich große
Blöcke. Die immer tiefere Kluft zwischen Säkularen und Orthodoxen wirft
grundsätzliche Fragen auf, die an die Identität des Staates rühren: das
Verhältnis von Religion und Politik und die Frage, wer eigentlich Jude
ist.
Neue, ethnisch orientierte Parteien verweisen auf
die Probleme bei der Integration großer Gruppen der Bevölkerung. Neben
den Parteien arabischer Israelis gibt es heute die
orthodox-orientalische Shas und die Partei der russischen Immigranten,
Jisrael be Alija. In Israel stehen heute, nach den ersten Jahrzehnten
eines sogenannten nationalen Konsenses, viele Interpretationen der
Geschichte und Visionen für die Zukunft nebeneinander.
Wenn dieses Potpourri auch verwirrend erscheinen
mag, so ist es doch eine Vereinfachung, denn jede dieser Richtungen
zerfällt in weitere Untergruppen. Was man, beispielsweise, das
"religiöse Lager" nennt, splittert sich auf in Zionisten und
Antizionisten, in orientalische und anglo- europäische Orthodoxe; in
jene, die ein Großisrael anstreben; jene, die den Staat bis zur Ankunft
des Messias ablehnen, und jene, die einen Gottesstaat nach den Gesetzen
der Thora errichten wollen. Auch die Siedler sind keine homogene Gruppe.
Israel war immer pluralistisch und ein nach dem
"Recht auf Rückkehr" (für Juden) definiertes Einwanderungsland, dessen
Einzugsbereich die ganze Welt ist - und in diesem Sinne vergleichbar mit
den USA, Kanada oder Australien. Juden aus Deutschland, Rußland, aus dem
Jemen und Äthiopien oder den USA, die hier eine neue Heimat gesucht
haben, brachten ihre Sprache und Kultur mit.
So war Israel auch immer eine offene, streitlustige
Gesellschaft. Die Art, wie Israels Medien mit politischen Gegnern
umspringen, zeigt, daß ihnen die deutsche Haltung gegenüber sogenannten
Würdenträgern fremd ist.
Für die Risse in der israelischen Gesellschaft gibt
es viele Ursachen, die zum Teil schon auf die Zeit vor der
Staatsgründung zurückgehen. So ist es unter anderem dem frühen Konflikt
um das Verhältnis zwischen Staat und Religion geschuldet, daß es bis
heute keine Staatsverfassung gibt. (Der andere Grund ist, daß der
spätere erste Ministerpräsident des Landes, David Ben Gurion, sich nicht
auf Grenzen festlegen wollte - was als Problem bis heute nachwirkt.)
Damals argumentierten die Orthodoxen, daß es längst eine Verfassung
gäbe, nämlich die Halacha, das jüdische Religionsgesetz. Eine
Auffassung, der sich der weltlich orientierte Zionist Ben Gurion nicht
anschloß. In einem Abkommen mit den Orthodoxen sicherte er ihnen einen
gewissen, aber begrenzten Einfluß auf die Gesellschaft zu, vor allem in
der Zuständigkeit des Oberrabbinats für zivilrechtliche Angelegenheiten.
Der Tag, an dem dieses relativ ruhige Nebeneinander
von Frommen und weniger Frommen vorbei war, läßt sich exakt bestimmen:
Es war der 17. Mai 1977, als unter Menachem Begin erstmals die
politische Rechte die Wahlen zur Knesset gewann. Begin erreichte diesen
Sieg, weil es ihm gelang, die Stimmen der benachteiligten
orientalistischen Immigranten auf seine Seite zu ziehen. Doch Begin
brauchte Koalitionspartner. Da schlug die Stunde der religiösen
Parteien, die zum Zünglein an der Waage wurden, eine Rolle, die sie im
Poker zwischen Rechts und Links zu nutzen wußten. So konnten sie sich
erheblichen Einfluß auf Politik und Gesellschaft sichern.
Hinzu kam, daß die religiös-nationalistischen Kräfte
seit dem Juni-Krieg 1967 mit der expansiven Siedlungstätigkeit in den
eroberten palästinensischen Gebieten einen enormen Aufschwung erlebten.
So schlugen die Siedler ein neues Kapitel nicht nur im Konflikt beider
Völker auf, sondern auch im Verhältnis von Religion und Politik. Ihre
Haltung war: Wenn Gott das Land gegeben hat, wie kann eine Regierung es
dann wieder nehmen?
Doch das Jahr 1967 war zugleich die Geburtsstunde
einer Gegenbewegung. Für einen Teil der Gesellschaft bedeutete dieses
Datum einen tiefen Bruch im Verhältnis zu Geschichte und Staat. Israel
war Besatzungsmacht geworden - und Besatzung und Demokratie paßten nicht
zusammen. Das wurde im Zuge des Palästinenseraufstandes zwischen 1987
und 1993 besonders virulent, als die Bilder von prügelnden und
schießenden israelischen Soldaten gegenüber gewaltbereiten, aber
unbewaffneten palästinensischen Jugendlichen über die Bildschirme
flimmerten. Hatte Israel den Sechs-Tage-Krieg noch als David gegen
Goliath gewonnen, so war es nun selbst ein Goliath geworden.
Dieser Bruch, der zur Entstehung des Friedenslagers
führte, ist auch das Ergebnis einer veränderten Werteorientierung in der
Gesellschaft. Während frühere Generationen in dem Glauben aufgewachsen
sind, daß das Leben nur sinnvoll ist, wenn es sich in das Epos von
Heimkehr, Befreiung und Aufbau einordnet, hat die Bedeutung der
Geschichte für die persönlichen Biographien nachgelassen.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust sind
frühere Selbstverständlichkeiten Zweifeln gewichen. Israel war allen
Juden in der Welt Staat genug: eine rettende Insel vor dem
Antisemitismus. Doch wie soll die Gesellschaft heute beschaffen sein?
Multikulturell und demokratisch innerhalb des breiten jüdischen
Spektrums? Oder sich öffnend zu den arabischen Mitbürgern und den
Nachbarn Israels?
Mit zunehmendem Wohlstand spielen subjektive
Lebensentwürfe eine größere Rolle. Die alten kollektiven Orientierungen
werden weniger wichtig, wie man etwa am Niedergang der Kibbuzbewegung
verfolgen kann. Heute gibt es Identität in Israel nur noch im Plural.
Die tiefen Spaltungen in der Gesellschaft verweisen
darauf, daß die kommenden Jahre "eine richtungsweisende und gefährliche
Zeit der Umwälzung" sein und wahrscheinlich zu weiterer Instabilität
führen werden, wie der israelische Autor Yaron Ezrachi in seinem Buch
"Gewalt und Gewissen" schreibt.
Ist das nun Anlaß zum Pessimismus? Vielleicht. Aber
erinnern wir uns an den 25. Geburtstag Israels, der in das Jahr des
letzten Krieges mit Ägypten, 1973, fiel. Bei den vier Kriegen im ersten
Vierteljahrhundert seines Bestehens veränderten sich die "Grenzen"
Israels und die Zusammensetzung der Bevölkerung ständig. Der einzige
Krieg seither war die Libanon-Invasion 1982, ein Feldzug, der auf die
Zerschlagung der PLO im nördlichen Nachbarland und damit auf eine
Befriedung der besetzten palästinensischen Gebiete zielte.
Mit Ausnahme des Sonderfalles der sogenannten
"Sicherheitszone" im Südlibanon sind die Grenzen des von Israel
beherrschten Gebietes seit 1967 stabil geblieben - das ist ein
deutlicher Fortschritt.
Dieser Umstand war eine Voraussetzung für den
Frieden mit Ägypten und alle weiteren Abkommen seit 1993. Insofern
bietet das nächste Vierteljahrhundert auch die Chance, daß Israel ein
Staat mit definierten Grenzen und einer klaren
Staatsbürgerschaftsregelung wird. Ob das zu einem Homeland für die
Palästinenser führt, einem unabhängigen Staat oder einer Konföderation,
wird auch davon abhängen, für welche Staatsauffassung sich die Israelis
selbst entscheiden.
Auch wenn das Abkommen mit den Palästinensern
erhebliche Mängel hat, auch wenn die katastrophale Politik von
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das, was vom Friedensprozeß übrig
geblieben ist, zum Erliegen gebracht hat: Es gibt keinen Grund zu
glauben, daß es zum 75. Geburtstag Israels nichts zum Feiern gibt.
50 Jahre Israel - TAZ-Bericht Beate Seel