Weniger wissen wir über die spezifischen Qualitäten
der Anpassung, die das Überleben in der Hölle vom einzelnen verlangte.
Es ist dies die vielleicht tödlichste Frucht vom Baum der Erkenntnis,
die selbst ein erschütternder Bericht wie Primo Levis „Ist das ein
Mensch?“ (1958) nur streifte. In seinem kurz vor seiner Selbsttötung
publizierten Resümee „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (1986)
stieß Levi immerhin eine Tür auf zu jener intellektuellen „Grauzone“, in
der Täter und Opfer – innerhalb eines Vernichtungslagers! – nicht mehr
ohne weiteres zu trennen sind.
Zehn Jahre später geht Paul Steinberg, wie Levi ein
Überlebender des Lagers Auschwitz-III-Monowitz, genannt „Buna“, einen
Schritt weiter. In seiner „Chronik aus einer dunklen Welt“ versucht der
Ex-Häftling mit der Nummer 157 239 die „Verwandlung in eine Abart des
Menschen“, die nicht mehr Homo sapiens genannt werden kann, am eigenen
Beispiel nachzuzeichnen.
Ein Kurzporträt Steinbergs existierte bereits. Unter
dem Decknamen Henri charakterisierte Primo Levi den damals 17jährigen
Steinberg, der derselben – privilegierten – Chemikerkolonne wie er
angehörte, in „Ist das ein Mensch?“ mit den Worten, er sei „hart und
unnahbar, verschlossen in seinem Panzer, ein Feind aller, unmenschlich
schlau und unbegreiflich wie die Schlange in der Genesis“ gewesen.
Unversöhnlichere Worte über einen Mithäftling lassen
sich kaum denken. Man kann nur erahnen, welche Überwindung es den heute
72jährigen Steinberg gekostet haben muß, vierzig Jahre später auf ein
solches Verdikt zu antworten. Seine Entgegnung: „Zweifellos hat er
richtig gesehen! Ich war wahrscheinlich dieses Wesen, das von dem
Gedanken besessen war zu überleben.“ Und: „Aus einem naiven,
verletzbaren Jungen kam, wie ein Schmetterling aus einer Puppe, jenes
kalte, berechnende Wesen zum Vorschein, das Primo Levi erwähnt.“ Und:
„Ich war mir vollkommen im klaren darüber, daß ich mich wie eine Hure
benahm; und gleichzeitig fühlte ich mich in der Haut eines Dompteurs,
der, nur mit einem Hocker und einem Stück Fleisch bewaffnet, den
Tigerkäfig betritt.“ Schließlich: „Ich werde niemals wissen, ob ich das
Recht habe, die Nachsicht der Geschworenen zu erbitten. Ist man derart
schuldig, wenn man überlebt?“
Die Frage bedrängt den Leser auf jeder Seite von
Steinbergs Chronik. Beantworten kann er sie indes noch weniger. Der
Betroffene selbst formuliert Fragen nach persönlicher Verantwortung,
Schuld und der Fähigkeit, damit zu leben, denn auch nur in Parenthese.
Es sind gleichsam Nebensätze einer Chronik, deren Hauptanliegen
radikalerer Natur ist. Er macht das Wesen, das er selbst einmal war, zum
schonungslosen Studienobjekt. Sein Erkenntnisinteresse gilt einem neuen
Typus, dem „Menschen des Vernichtungslagers“, einer „Gattung, deren
Existenz flüchtig gewesen sein wird. Zwei oder drei Jahre. Im Gegensatz
zu den dreißigtausend Jahren des Neandertalers oder zu den
einhundertfünfzigtausend Jahren des Homo habilis. Doch eine Gattung,
reich an Lehren für zukünftige Soziologen.“ Es geht – nach einem Wort
Jorge Sempruns – um eine möglichst authentische Beschreibung des „nicht
mehr weiter reduzierbaren Restbestands“ Leben, zu dem jemand im
Vernichtungslager dauerhaft erniedrigt wurde.
Steinberg ist sich des Problems bewußt, daß er aus
der Rückschau schreibt, daß er als Erzähler immer mehr weiß als der
damalige Akteur P. S. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gelingt
ihm streckenweise ein beklemmendes Präsens in der Schilderung einer
dunklen Welt: Momentaufnahmen, in denen er einzelne Stationen noch
einmal passiert, als Geworfener, der nichts weiß, der nur diffuse
Ahnungen hat und seinen Instinkten folgt. Wir tauchen ein in eine Welt,
in der moralische Kategorien wie Grausamkeit, Brutalität,
Unmenschlichkeit etc. aufgehört haben zu existieren; in der Begriffe wie
Berechnung oder Schlangenhaftigkeit reine Überlebensstrategien, aber
kein ethisch begründetes Verhalten mehr anzeigen.
Am Ende ist man der im Grunde unbeschreiblichen
Realität eines Vernichtungslagers einen kleinen Schritt nähergerückt.
Etwa der Frage, auf welche „menschlichen“ Qualitäten am ehesten
verzichtet werden kann, welche möglicherweise sogar das Überleben in der
Hölle behindern. Aus der Psychoanalyse kennen wir das klinische Syndrom
der „Identifikation mit dem Aggressor“: um nicht unter die Räder zu
kommen, verinnerlicht man, zumindest für den Augenblick, den
Verhaltenskodex des Aggressors. Im Fall von Auschwitz hieße das, sich
mit den Lagerherren zu identifizieren. Paul Steinbergs „Chronik aus
einer dunklen Welt“ zeigt jedoch, daß das in der Praxis keineswegs
bruchlos funktionierte.
Der Häftling durfte sich seinen Herren keineswegs so
sehr anpassen, daß die Distanz verlorenging. Gerade den gefürchteten,
kriminellen Lagerkapos wurde genau das zum Verhängnis. Sie fielen
kollektiver Feme zum Opfer. Aber auch zu hündisches Verhalten zahlte
sich nicht aus. Der ideale Überlebenstypus war ein anderer. Welcher? Er
mußte unauffällig sein, aber nicht zu unauffällig; skrupellos, aber
nicht brutal; gewitzt, aber nicht schlau; willfährig, aber nicht
hündisch; eine Schlange, die sich gelegentlich daran erinnert, daß sie
einmal Mensch gewesen war.
Am Ende steht der Leser vor der Frage: Wie hätte ich
überlebt, wenn ich überlebt hätte? Und: Wie hätte ich später damit
gelebt? Paul Steinbergs einzigartiger Fall gibt eine Ahnung davon, wie
es möglich war – und zu welchem Preis.
PAUL STEINBERG: Chronik aus einer dunklen
Welt. Aus dem Französischen von Moshe Kahn.
Hanser Verlag, München 1998. 168 Seiten, 34 Mark
Publikation:
Samstag, 14. Dezember 2013