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SZ vom 21.04.1998sz.gif (8011 Byte)

Schuldig, wer so überlebt?
Paul Steinbergs Antwort auf Primo Levis „Ist das ein Mensch?“

MICHAEL BASSE

Seit der Lektüre von Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ (1996) wissen wir, daß es sogar „Glücks“-Momente in Auschwitz gab; daß der unbändige Wunsch zu leben, sich daran zu erfreuen, selbst unter unsäglichsten Bedingungen, vorhanden ist. Auch der dafür notwendige Schutzmechanismus ist bekannt: möglichst keine Persönlichkeit, keine Identität zu haben, die zerstört werden kann.

Weniger wissen wir über die spezifischen Qualitäten der Anpassung, die das Überleben in der Hölle vom einzelnen verlangte. Es ist dies die vielleicht tödlichste Frucht vom Baum der Erkenntnis, die selbst ein erschütternder Bericht wie Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ (1958) nur streifte. In seinem kurz vor seiner Selbsttötung publizierten Resümee „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (1986) stieß Levi immerhin eine Tür auf zu jener intellektuellen „Grauzone“, in der Täter und Opfer – innerhalb eines Vernichtungslagers! – nicht mehr ohne weiteres zu trennen sind.

Zehn Jahre später geht Paul Steinberg, wie Levi ein Überlebender des Lagers Auschwitz-III-Monowitz, genannt „Buna“, einen Schritt weiter. In seiner „Chronik aus einer dunklen Welt“ versucht der Ex-Häftling mit der Nummer 157 239 die „Verwandlung in eine Abart des Menschen“, die nicht mehr Homo sapiens genannt werden kann, am eigenen Beispiel nachzuzeichnen.

Ein Kurzporträt Steinbergs existierte bereits. Unter dem Decknamen Henri charakterisierte Primo Levi den damals 17jährigen Steinberg, der derselben – privilegierten – Chemikerkolonne wie er angehörte, in „Ist das ein Mensch?“ mit den Worten, er sei „hart und unnahbar, verschlossen in seinem Panzer, ein Feind aller, unmenschlich schlau und unbegreiflich wie die Schlange in der Genesis“ gewesen.

Unversöhnlichere Worte über einen Mithäftling lassen sich kaum denken. Man kann nur erahnen, welche Überwindung es den heute 72jährigen Steinberg gekostet haben muß, vierzig Jahre später auf ein solches Verdikt zu antworten. Seine Entgegnung: „Zweifellos hat er richtig gesehen! Ich war wahrscheinlich dieses Wesen, das von dem Gedanken besessen war zu überleben.“ Und: „Aus einem naiven, verletzbaren Jungen kam, wie ein Schmetterling aus einer Puppe, jenes kalte, berechnende Wesen zum Vorschein, das Primo Levi erwähnt.“ Und: „Ich war mir vollkommen im klaren darüber, daß ich mich wie eine Hure benahm; und gleichzeitig fühlte ich mich in der Haut eines Dompteurs, der, nur mit einem Hocker und einem Stück Fleisch bewaffnet, den Tigerkäfig betritt.“ Schließlich: „Ich werde niemals wissen, ob ich das Recht habe, die Nachsicht der Geschworenen zu erbitten. Ist man derart schuldig, wenn man überlebt?“

Die Frage bedrängt den Leser auf jeder Seite von Steinbergs Chronik. Beantworten kann er sie indes noch weniger. Der Betroffene selbst formuliert Fragen nach persönlicher Verantwortung, Schuld und der Fähigkeit, damit zu leben, denn auch nur in Parenthese. Es sind gleichsam Nebensätze einer Chronik, deren Hauptanliegen radikalerer Natur ist. Er macht das Wesen, das er selbst einmal war, zum schonungslosen Studienobjekt. Sein Erkenntnisinteresse gilt einem neuen Typus, dem „Menschen des Vernichtungslagers“, einer „Gattung, deren Existenz flüchtig gewesen sein wird. Zwei oder drei Jahre. Im Gegensatz zu den dreißigtausend Jahren des Neandertalers oder zu den einhundertfünfzigtausend Jahren des Homo habilis. Doch eine Gattung, reich an Lehren für zukünftige Soziologen.“ Es geht – nach einem Wort Jorge Sempruns – um eine möglichst authentische Beschreibung des „nicht mehr weiter reduzierbaren Restbestands“ Leben, zu dem jemand im Vernichtungslager dauerhaft erniedrigt wurde.

Steinberg ist sich des Problems bewußt, daß er aus der Rückschau schreibt, daß er als Erzähler immer mehr weiß als der damalige Akteur P. S. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gelingt ihm streckenweise ein beklemmendes Präsens in der Schilderung einer dunklen Welt: Momentaufnahmen, in denen er einzelne Stationen noch einmal passiert, als Geworfener, der nichts weiß, der nur diffuse Ahnungen hat und seinen Instinkten folgt. Wir tauchen ein in eine Welt, in der moralische Kategorien wie Grausamkeit, Brutalität, Unmenschlichkeit etc. aufgehört haben zu existieren; in der Begriffe wie Berechnung oder Schlangenhaftigkeit reine Überlebensstrategien, aber kein ethisch begründetes Verhalten mehr anzeigen.

Am Ende ist man der im Grunde unbeschreiblichen Realität eines Vernichtungslagers einen kleinen Schritt nähergerückt. Etwa der Frage, auf welche „menschlichen“ Qualitäten am ehesten verzichtet werden kann, welche möglicherweise sogar das Überleben in der Hölle behindern. Aus der Psychoanalyse kennen wir das klinische Syndrom der „Identifikation mit dem Aggressor“: um nicht unter die Räder zu kommen, verinnerlicht man, zumindest für den Augenblick, den Verhaltenskodex des Aggressors. Im Fall von Auschwitz hieße das, sich mit den Lagerherren zu identifizieren. Paul Steinbergs „Chronik aus einer dunklen Welt“ zeigt jedoch, daß das in der Praxis keineswegs bruchlos funktionierte.

Der Häftling durfte sich seinen Herren keineswegs so sehr anpassen, daß die Distanz verlorenging. Gerade den gefürchteten, kriminellen Lagerkapos wurde genau das zum Verhängnis. Sie fielen kollektiver Feme zum Opfer. Aber auch zu hündisches Verhalten zahlte sich nicht aus. Der ideale Überlebenstypus war ein anderer. Welcher? Er mußte unauffällig sein, aber nicht zu unauffällig; skrupellos, aber nicht brutal; gewitzt, aber nicht schlau; willfährig, aber nicht hündisch; eine Schlange, die sich gelegentlich daran erinnert, daß sie einmal Mensch gewesen war.

Am Ende steht der Leser vor der Frage: Wie hätte ich überlebt, wenn ich überlebt hätte? Und: Wie hätte ich später damit gelebt? Paul Steinbergs einzigartiger Fall gibt eine Ahnung davon, wie es möglich war – und zu welchem Preis.

PAUL STEINBERG: Chronik aus einer dunklen Welt. Aus dem Französischen von Moshe Kahn.
Hanser Verlag, München 1998. 168 Seiten, 34 Mark

Publikation: Samstag, 14. Dezember 2013

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