Ein Machtkampf der
kommunistischen Partei führte 1968 zu einer antisemitischen Kampagne.
20.000 Juden wurden vertrieben. Heute werden die ersten Opfer von
damals geehrt. Schuld war "das System".
Im Jüdischen Theater Warschau ist es
stockdunkel. Ein Spot geht an. Grell ausgeleuchtet steht Golda Tencer
auf der riesigen Bühne. Allein. "Mein Bruder ist in Schweden",
deklamiert die Schauspielerin. "Renia, Elka, Sonia, Lilka, Heniek, Leon
sind in Amerika, Hanka, Nysa in Israel, Jurek, Celina, Michal in
Schweden, Mirka, Heniek in Kanada, Freda in England, Ewa in der
Schweiz." Golda Tencer rezitiert kein literarisches Werk. Es ist die
Geschichte ihrer Familie und ihrer Freunde. Das Vertreibungdrama der
Juden aus Polen hat sich tatsächlich zugetragen. Golda Tencer ist eine
der wenigen Juden, die nach dem März 1968 in Polen geblieben sind.
Vor 30 Jahren genau bürgerte die
polnische kommunistische Regierung knapp 20.000 sogenannte "Zionisten"
und "Systemfeinde" aus. Viele von ihnen kamen in den vergangenen Tagen
zum ersten Mal zurück in die Heimat, um an Diskussionen und Gedenkfeiern
teilzunehmen.
Zehn Jahre nach der politischen Wende
in Polen, beginnt sich die Gesellschaft nun auch offiziell an die
schwarzen Seiten ihrer Geschichte zu erinnern. Doch den Politikern fällt
das Gedenken schwer. "Dank Jacek Kuron und Karol Modzelewski kann Polen
mit ruhigen Gewissen in den Spiegel sehen", deklamiert auch
Staatspräsident Aleksander Kwasniewski. Die intellektuellen
KP-Dissidenten Kuron und Modzelewski waren 1968 zum zweiten Mal binnen
kurzem für drei Jahre inhaftiert worden. Aus einer Schatulle holt der
Präsident den höchsten Orden Polens, den "Weißen Adler". Die Szene - sie
spielt im Präsidentenpalais - hat etwas Unwirkliches. Kwasniewski, ein
Postkommunist, dessen Partei vor 30 Jahren die antisemitische Kampagene
vom Zaun gebrochen hatte, um den Machtkampf innerhalb der Partei vor der
Gesellschaft zu kaschieren, überreicht den beiden den höchsten Orden
Polens. "Die Jugend lernte damals den Geruch der Lüge kennen und den
bitteren Geschmack des Gefängnisbrotes", erklärt er feierlich. Und,
bereits ins Metaphysische abhebend: "Nicht sie verließen Polen. Es war
Polen, das sie verließ." Applaus. Die Geehrten verneigen sich.
Verantwortlich oder schuldig ist laut Kwasniewski niemand. Allenfalls
"das System". Immerhin, der Präsident kündigt an, daß die damals
Ausgebürgerten die polnische Staatsbürgerschaft zurückerhalten können,
wenn sie einen Antrag stellen.
"Der März 1968 war für uns alle, für
meine Generation, ein Schlüsselerlebnis," erklärt
Konstanty Gebert, Herausgeber der jüdischen Zeitschrift 'Midrasz'.
"Ich war damals 15 Jahre alt, flog von der Schule, viele meiner Freunde
emigrierten." Die Familie blieb trotz vieler Schikanen, weil - wie
Gebert es ausdrückt "meine Eltern zu stolz waren, um sich einfach aus
ihrem Land jagen zulassen."
Begonnen hatte alles im Januar 1968 mit
der Absetzung der "Totenfeier" des polnischen Nationaldichters Adam
Mickiewicz vom Theaterspielplan in Warschau. Das Stück sei geeignet, so
hieß es offiziell, die polnisch-sowjetische Freundschaft zu stören. Das
Publikum hatte an antirussischen Stellen geklatscht. Für die Studenten
war das Maß nun voll. Die Zensur griff immer stärker in das geistige
Leben des Landes ein. Die Studenten gingen auf die Straße, wurden von
"Vertretern der Arbeiterklasse" verprügelt, wie es später in der Presse
hieß, und landeten im Gefängnis. Auf Transparenten forderten Arbeiter in
"spontanen" Kundgebungen: "Raus mit den Zionisten!" und "Säubert die
Partei von den Zionisten".
Erst heute, da die Archive geöffnet
werden, wird deutlich, daß das Verbot der Theateraufführung eine
staatlich geplante Provokation war. Der Machtkampf innerhalb der
kommunistischen Partei sollte den "Partisanenflügel" um Innenminister
Mieczyslaw Moczar an die Spitze bringen. Die "Moskowiter" hingegen,
Kommunisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Roten Armee nach
Polen gekommen waren, kämpften um den Erhalt ihrer Macht. Parteichef
Wladyslaw Gomulka, der 1956 nach Arbeiterunruhen in Poznan (Posen)
enthusiastisch als Reformer von Partei und Staat begrüßt worden war,
hatte im Lauf der Jahre alle Hoffnungen auf eine Änderung des Systems
enttäuscht. Im Lande gärte es. An Reformen glaubte niemand mehr. Gomulka
verlor das Vertrauen der Intelligenz und galt immer mehr als ein Mann
mit nur beschränktem Horizont.
Mieczyslaw Moczar bereitete seinen Coup
langfristig vor. Die Juden sollten als Sündenbock dienen. Bereits Anfang
der 60er Jahre hatte der ehemalige Geheimdienstchef eine "Abteilung für
Ahnenforschung" eingerichtet, die die "arische" oder "nichtarische"
Herkunft der Parteikader, Offiziere und Wissenschaftler bis in die achte
Generation hinein überprüfte.
Als die Polen während des
Sechs-Tage-Krieges immer häufiger das Victory-Zeichen machten und auf
"unsre Juden" anstießen, die "ihre Araber verhauen", war das so
eindeutig antisowjetisch, daß Gomulka nach Konsultationen mit
sowjetischen Beratern eine Hetzrede gegen Israel und Amerika hielt. Er
warnte vor den "Zionisten", der "fünften Kolonne im Lande". Moczar und
seine "Partisanen" schienen auf dieses Stichwort nur gewartet zu haben:
der "Kampf gegen die "Vaterlandsverräter und Zionisten" begann.
Insgesamt mußten 20.000 Juden das Land
verlassen. Mit dem Überschreiten der Grenze verloren sie automatisch
ihre Staatsbürgerschaft. Diejenigen, die im Lande ausharrten, gingen in
die innere Emigration. "Nach dem März 1968 war uns endgültig klar", so
Gebert, "daß uns die kommunistische Ideologie und der naive
Nationalismus nichts geben konnten. Mit dem Einmarsch der Warschauer
Pakt-Staaten - unter ihnen Polen - in die Tschechoslowakei erloschen für
uns endgültig die Ideen eines wie auch immer verstandenen Sozialismus."
Aus Warschau Gabriele Lesser
(in: taz, 31.03.1998)
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