Über die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in
Deutschland war man sich allerdings einig: Bis zum Jahr 2000 wird ihre
Zahl von jetzt 75 000 auf 100 000 gestiegen sein. Vor Hitlers
Machtergreifung lebten 600 000 Juden in Deutschland, nach dem Holocaust
wurden 1950 in Westdeutschland nurmehr 15 000 gezählt.
Der Anstieg ist allein mit der Zuwanderung aus
Osteuropa zu erklären; diese führt, wie Brenner berichtete, zu
überraschenden Phänomenen, denn in einigen deutschen Städten leben jetzt
mehr Juden als vor 1933. Hinsichtlich der geistig-religiösen Entwicklung
der durch Zuwanderer sich neu bildenden Gemeinden zeigte sich Korn
jedoch pessimistisch: sie seien wenig stabilund stellten keine Stärkung
des religiösen Judentums dar. Er sprach von „Richtungslosigkeit“ und
„Abspaltungstendenzen“, jetzt seien „Verwalter“ am Werk. Brenner
hingegen sieht die in Deutschland lebenden Juden sich nach Europa
orientieren.
Die Frage nach der jüdischen Identität
wurde auch bei diesem Dialog gestellt; Jonathan Webber (Oxford) erkennt
ihre heutige Basis im Holocaust, der den Judaismus ersetzt habe. Diese
These blieb nicht unwidersprochen; Brenner plädierte dafür, die jüdische
Identität „positiv“ auszulegen, worunter wohl die Einbeziehung der
Herkunft, der Religion und der Geschichte des jüdischen Volkes für die
Fundierung jüdischer Existenz zu verstehen ist. Der Holocaust wird nie
vergessen und verziehen, aber er soll nicht einzige Basis jüdischer
Identität sein.
Dem widerspricht nicht, daß als Folge des Holocaust
die Solidarität unter den deutschen Juden „stark ist wie nie zuvor“, wie
Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland,
anmerkte. Die variierenden Identitäts-Konflikte beleuchtete Fritz Stern
(Columbia-Universität) mit dem Verweis auf Albert Einstein, der von
einer Tribalismus-Identität zur selben Zeit gesprochen habe, da er sein
Jüdischsein entdeckte. Niemand widersprach Felix Posen (Oxford), der die
Verschiedenartigkeit des Judentums als Vorteil, nicht als Nachteil
empfindet, und das intellektuelle Zentrum in Israel und in den USA
ausmacht, keineswegs in Europa.
Auch um Goldhagens Thesen entspann sich eine kurze
Diskussion, in der Fritz Stern und Hans Mommsen (Bochum) unisono die
Forderung vertraten, den Holocaust nicht isoliert zu betrachten, sondern
im Kontext mit der Geschichte und zeitgleichen Ereignissen. Das reichte
offensichtlich aus, um nur Goldhagen-Kritikern die Zunge zu lockern.
Sterns Diktum, Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker sei ein
„Rückschlag“ (für die Forschung) gewesen, wirkte anscheinend
einschüchternd. So fiel das Lob für junge deutsche Historiker, die sich
mit bisher vernachlässigten Aspekten der Nazi-Diktatur beschäftigen,
umso deutlicher aus. Mommsen erklärte die Phase der Verdrängung in der
Bundesrepublik für beendet und kündigte Untersuchungen über das
Verhalten der deutschen Industrie im Hitler-Staat an.
Die auf der Tagung herrschende entspannte Atmosphäre
schien deutsche Referenten wie Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und
Joachim Bitterlich, Leiter der Abteilung Außenpolitik im
Bundeskanzleramt, dazu zu animieren, an den USA nicht mehr zu
überhörende Kritik zu üben. Sie gipfelte in dem Vorwurf, die USA nähmen
in ihrer Nahostpolitik wenig Rücksicht auf ihre Verbündeten, verführen
nach Gutdünken und erwarteten widerspruchslose Gefolgschaft – wohingegen
die Europäer doch versuchten, nach allen Richtungen hin Kontakt zu
halten, um Spannungen abzubauen.
Als jedoch am zweiten Tag der Veranstaltung die
Ergebnisse der allerneuesten Umfrage des „American Jewish Committee“
über die Haltung der amerikanischen Juden gegenüber Israel vorgelegt
wurden, zeigte es sich, daß drei Viertel von ihnen die Sorge um Israel
als wichtigen Teil ihres Selbstverständnisses ansehen. Dies gilt auch
trotz der Tatsache, daß 62 Prozent der amerikanischen Juden noch nie in
Israel waren. Eben das aber beweist, wie stark die Achse USA-Israel ist
und angesichts dessen war es nicht überraschend, daß auch die Politik
des israelischen Regierungschefs Netanyahu von einer Mehrheit der
Befragten gutgeheißen wurde.
JOSEF RIEDMILLER