Wie
Grace wieder zu Susi wurde Eine Ausstellung
im Gasteig beschrieb
Schicksale jüdischer Kinder im Dritten Reich
Als Grace Mann zum ersten Mal merkte, daß mit ihrem Namen
irgend etwas nicht stimmte, war sie 16. Bei der Abschlußprüfung mußten sich
die Mädchen in alphabetischer Reihenfolge aufstellen, Grace gesellte sich zu
denen, deren Namen mit M anfing. „Grace, du stellst dich heute zu den B’s“,
sagte die Lehrerin. „Susi Bechhöfer, so heißt du doch eigentlich.“ Nicht
einen Satz konnte Grace während des Examens zu Papier bringen, nur diese
zwei Worte: Susi Bechhöfer. Hatte sie diese beiden Wörter nicht schon einmal
gesehen? Und diese komischen Pünktchen auf dem o? Sie war sich nicht sicher.
Erst im Alter von 52 Jahren wußte Susi Bechhöfer mit Sicherheit,
wer sie war und wie ihre Eltern hießen. Sie war eines der mehr als 10
000 jüdischen Kinder, die von Dezember 1938 bis September 1939 von
Deutschland nach England gebracht wurden, um sie vor der Verfolgung
durch die Nazis zu schützen. Einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag kam
Susi mit ihrer Zwillingsschwester Lotte mit 158 anderen Kindern im
Londoner Bahnhof Liverpool Street an, Namensschild um den Hals,
Kuscheltier im Arm. 36 Stunden zuvor hatten sich die Zwillinge in
München von ihrer Mutter verabschiedet. Sie sahen sie nie wieder.
„Das letzte Lebewohl“ heißt die vom Münchner Flüchtlingsrat und
dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde initiierte
Ausstellung, die gestern im Gasteig (Foyer des Kleinen Konzertsaals)
eröffnet wurde. Die gesammelten Photographien, Dokumente und
Erlebnisberichte von den „Kindertransporten“ waren erstmals 1992 im
Jüdischen Museum in London zu sehen, danach in Hannover, Bergen-Belsen
und Frankfurt. Im Begleitprogramm zur Ausstellung diskutieren am 22.
Februar Betroffene von einst und heute mit Vertretern von Organisationen
der Flüchtlingshilfe. Der Dokumentarfilm „Whatever happened to Susi?“
ist am 3. März zu sehen, 16 Tage später liest die Protagonistin aus
ihrer mit dem Journalisten Jeremy Josephs verfaßten Autobiographie
„Rosas Tochter – Bericht über eine wiedergefundene Kindheit“.
Wenn Susi Bechhöfer am 18. März ihr Haus in Rugby,
Mittelengland, verläßt und ein paar Stunden später in ihrer Heimatstadt
München landet, wird sie von Alan Stocken begleitet, ihrem Ehemann, der
sie auf der jahrelangen Suche nach ihrer wahren Identität begleitete.
Sie wird ihm ihr Geburtshaus in der Rosenstraße zeigen, Nummer sechs,
ein imposantes, herrschaftliches Haus. Ihre Mutter lebte in einer
kleinen Kammer über der Drogerie, heute ist dort eine große Apotheke,
Sport Schuster heißt der Nachbar. Susi wird ihrem Mann zeigen, wo ihr
Vater geboren wurde, nicht weit entfernt, in der Salvatorstraße. Joseph
Otto Hald war ein Hallodri, ein Frauenheld. Susis Mutter fiel auf seinen
Charme herein, der Gauner ließ sie mit den Zwillingen sitzen. Er hatte
erfahren, daß Rosa Jüdin war. Das war im Mai 1936. Als zwölftes von 13
Kindern war Rosa nach dem frühen Tod der Eltern in Fürth im Waisenhaus
aufgewachsen, von der Familie war keine Unterstützung zu erwarten. So
mußte auch sie ihre Kinder in ein jüdisches Waisenhaus geben, das
Antonienheim in Schwabing.
Nach den Ereignissen in der „Kristallnacht“, zweieinhalb Jahre
später, bewilligte die britische Regierung die visafreie Einreise
jüdischer Kinder aus Deutschland, Österreich, Polen und der
Tschechoslowakei. Jüdische Organisationen sammelten Geld, suchten
Pflegefamilien. Susi und Lotte verschlug es nach Cardiff, Wales. Der
Baptistenpfarrer Edward Mann und seine Frau, die keine Kinder haben
konnten, nahmen sie auf – der Beginn eines jahrzehntelangen Alptraums.
Die erste Amtshandlung der Pflegeeltern: Namensänderung. Aus
Lotte wurde Eunice, aus Susi Grace. Keiner sollte wissen, daß die beiden
aus Deutschland kamen und Juden waren. Lotte erkrankte bald an einem
unheilbaren Tumor, der Vater widmete sich mit manischer Hingabe Grace:
„Vergiß nicht, daß du das Wort Adoption nie im Mund führen darfst. Das
brauchst du nicht. Es ist ein ganz großes Geheimnis, das du niemandem
verraten darfst. Du gehörst nämlich mir, und alle sollen glauben, daß du
mir gehörst.“ Als Grace neun Jahre alt war, manifestierten sich die
Obsessionen des Pfarrers: Er zwang seine Pflegetochter zum
Sexualverkehr, mehrmals am Tag, sogar im öffentlichen Schwimmbad. Grace
kam es zunächst gar nicht in den Sinn, zu widersprechen. Erst zehn Jahre
später begann sie zaghaft aufzubegehren, verliebte sich in andere
Männer. Mit einem Selbstmordversuch bemühte sich der verzweifelte Vater
vergebens, Grace weiter an sich zu binden. Mit 27 Jahren heiratete sie
Alan Stocken und begann endlich ihr eigenes Leben – mit der Suche nach
ihrer Vergangenheit.
„Ich erkannte, daß ich, um mein Leben fortzuführen,
herausbekommen mußte, wer ich war. Daß ich es nicht wußte, hing wie eine
dunkle Wolke über mir und beeinflußte mich in jeder Beziehung. Wenn man
nicht weiß, wer die richtigen Eltern sind, hat man nichts, woran man
sich festhalten kann. Es ist, als säße man mitten im Ozean auf einem
Floß – man treibt dahin, ankerlos, und weiß nicht, woher man kommt. Ich
habe immer gewußt, eines Tages würde ich mich der Frage stelllen müssen.
Aber ich fand immer wieder eine Ausrede, um diesen Tag hinauszuschieben.
Es kam mir alles zu anstrengend vor.“ 1987 gab sie ihren Job als
Krankenschwester auf, widmete sich nun völlig der Recherche ihrer
verlorenen Wurzeln. „Unsere Ängste rühren vom Unbekannten her. Das
Nicht-Wissen war von jeher am schwersten zu ertragen, schlimmer als
alles, was ich je erfahren kann.“ Durch mehrere Suchanzeigen erfuhr sie
von ihrer jüdischen Herkunft, von Verwandten in New York, von einer
Halbschwester in Leipzig, von ihrem verstorbenen Vater – nur das
Schicksal ihrer Mutter blieb ungewiß. Erst vor sieben Jahren fand sich
im Münchner Stadtarchiv ein Eintrag im Gestapo-Register: Am 3. März 1943
wurde Rosa Bechhöfer nach Auschwitz deportiert. Die mittlerweile
55jährige hatte ihre Mutter endlich gefunden – und im selben Moment
wieder verloren.
Die Ausstellung dauerte bis zum 20. März
Quelle: SZ vom 17.02.1998 THOMAS BECKER
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