"Zu feige für die Barrikade"
Auf den Fluren der Arbeitsämter herrscht eher Resignation als
Aufbruchstimmung
Von Berit Schmiedendorf
Peter Heilig, 34, ist arbeitslos. Noch. Am Montag tritt
der Bürokaufmann eine neue Stelle als stellvertretender Versandleiter in
München an. Den Job hat er ganz allein gefunden. "Ich bin sehr enttäuscht
vom Münchner Arbeitsamt", sagt Heilig. Seit fünf Wochen sei er nun
arbeitslos gemeldet, doch das Amt habe ihm nicht ein einziges Angebot
gemacht. Nicht mal gemeldet habe es sich bei ihm. Daß die
Arbeitslosen in Frankreich für mehr Rechte und Leistungen auf die Straße
gehen, das hat er an diesem Morgen erstmals aus dem Fernsehen gelernt. Gut
findet er das, doch in Deutschland, glaubt er, "sind die Leute zu feige
dazu". Er selbst würde, wenn er noch keine Arbeit gefunden hätte,
"auch bei so einer Demonstration mitmachen", obwohl "ich sonst mehr der
Einzelkämpfer bin".
"Wenn die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter
auseinandergeht, dann gehe ich auch auf die Straße", sagt Walter Koerner
(Name geändert). Der 59jährige hat als selbsthaftender Unternehmer vor drei
Jahren mit einem Weinhandel Konkurs gemacht und sitzt auf einem
Schuldenberg. Nun muß er Sozialhilfe beantragen. "Als ich bei der
Existenzberatungsstelle des Arbeitsamtes war, da hat mir der Berater gesagt:
,Eigentlich bleibt Ihnen ja nur noch der Selbstmord‘", erzählt der
Exunternehmer. Wenn er, nach dem französischen Vorbild, "auf die Barrikaden
gehen würde, dann nur, um die Republik wirklich zu reformieren. Ich
bin für eine freie Wirtschaft, aber wenn die Leistung des einzelnen nichts
mehr zählt, sondern nur noch das Kapital, dann stimmt irgend etwas nicht."
Hilfe findet Walter Koerner, der nach der Pleite weder bei Banken noch bei
staatlichen Institutionen Unterstützung erhielt, bei dem Berliner Verein
"Ausweg", einer Selbsthilfegruppe von in Not geratenen Unternehmern. "Mit
denen solidarisiere ich mich", sagt er. "Ausweg" zählt mittlerweile 2000
Mitglieder.
Sabine Knorr, 27, ist seit September arbeitslos. Die seit
Wochen währenden Proteste französischer Arbeitsloser hält die Apothekerin
lediglich "für einen netten Versuch". Sie findet, "daß solche Aktionen
selten etwas bringen". Deshalb würde sie bei Arbeitsloseninitiativen in
Deutschland auch auf keinen Fall mitmachen. "Ich bin mir
sicher, bald Arbeit zu finden", sagt sie. Im Bonner Arbeitsamt quittiert
eine Frau die Frage nach ihrer Teilnahme an einer Arbeitslosendemo mit
ungläubigem Staunen: "Ja, dürfen wir denn so was überhaupt?
Demonstrieren darf doch nur, wer auch einen Job hat." Daß die
Demonstrationsfreiheit ein Grundrecht und nicht an den Besitz eines
Arbeitsplatzes gekoppelt sei, hat sie noch nie gehört: "Das glaube ich
nicht."
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