Wir schliessen uns, unter dem
Eindruck einer immer ungerechter werdenden Umverteilung von Einfluß,
Reichtum und Macht - und einem immer unverantwortlicheren Umgang mit dieser
Macht - der Erfurter Erklärung an.
Erfurter Erklärung:
Bis hierher und nicht weiter
Verantwortung für die
soziale Demokratie
"Eigentum
verpflichtet.
Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
Grundgesetz Artikel 14.2
1. Die regierende Politik in
unserem formal vereinten Land ist in einem Zustand von gnadenloser
Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven versunken. Im
fünften Jahrzehnt ihrer Existenz wird in der Bundesrepublik der soziale
Konsens, auf dem ihr Erfolg beruhte, durch radikale Umverteilung
zugunsten der Einfluß-Reichen zerstört. Der kalte Krieg gegen den
Sozialstaat hinterläßt eine andere Republik. Was von der Bundesregierung
unter der Vorspiegelung von Reformen verfügt wird, erweist sich als
geistig-moralischer Bankrott. Der Notstand ständig steigender
Arbeitslosigkeit führt Staatshaushalte und Sozialversicherungssysteme in die
Krise, und der öffentliche Schuldendienst vermehrt den Reichtum der
Banken und der Besitzer großer Geldvermögen. So entsteht
Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist. Es handelt sich
nicht um einen Konjunktureinbruch, vielmehr stehen wir mitten in einem
Epochenwechsel. In dieser Lage müssen sich in unserem Land alle
gesellschaftlichen Kräfte zusammenfinden, die bereit und imstande sind, die
Verantwortung für die soziale Demokratie mit der Bindung an ein soziales
Europa zu übernehmen.
2. Gerechtere Verteilung der
Einkommen und Güter ist die zentrale Aufgabe einer neuen Politik.
Die deutsche Einheit wird zum massivsten Umverteilungsprozeß - von unten
nach oben - seit Bestehen der Bundesrepublik mißbraucht. Niemand
unterschätze die Dramatik der Lebenssituation in den ostdeutschen Ländern:
Sehr viele neue Bundesbürger erleben, was gegenwärtig geschieht, als
Enteignung ihrer erworbenen Rechte und ihrer Hoffnung auf Freiheit,
Gleichheit, Mitmenschlichkeit. Im Westen meinen viele, sie geben ihr Bestes
dem Osten, dort meinen viele, man nimmt ihnen das Letzte. In Ost und
West gemeinsam sehen sich jedoch Millionen Mitbürger durch immer
schwerwiegendere Belastungen vor unlösbare Probleme gestellt.
3. Wir brauchen eine andere
Politik, also brauchen wir eine andere Regierung. Wer sie will, muß aus der
Zuschauerdemokratie heraustreten. Wir brauchen eine außerparlamentarische
Bewegung. Sie muß auf die Opposition in den Parlamenten überspringen. Die
Erfahrung von 1968 und der Geist von 1989 sind für 1998 aufgerufen, den
Machtwechsel herbeizuführen. Resignation löst kein Problem. Sie
richtet nur Schaden an. Viele denken: bis hierher und nicht weiter!
Ihr Sammelpunkt ist der Wunsch nach Verwirklichung der sozialen
Menschenrechte und die Verantwortung für die Bewahrung der natürlichen
Lebensgrundlagen. Wir brauchen eine Regierung, die das Volk nicht als Gegner
behandelt, dessen Widerspruch es zu brechen gilt.
4. Wir brauchen eine andere
Politik. Oberstes Ziel muß das Überwinden der Massenarbeitslosigkeit sein.
Es fehlen in der Bundesrepublik 6 bis 7 Millionen Arbeitsplätze.
Die Gründe dafür liegen nicht im mangelnden Export. Auch nicht bei den
Lohnstückkosten und angeblich überteuerten Sozialpflichten. Die
Gründe dafür liegen bei der enorm gestiegenen Produktivität, den
rückläufigen Wachstumsraten und den versäumten Konsequenzen für die
Arbeitszeit. Auch fehlt es an Nachfrage im eigenen Lande und an einem
vorausschauendem Management. "Kapitalisten, hört die Signale!"
überschrieb unlängst die Züricher Weltwoche einen Leitartikel, der fragte:
Wer soll die Waren kaufen, wenn die Bevölkerung immer weniger verdient?
Die Schulden der einen sind die
Gewinne der anderen: Jede Schuldenmilliarde der öffentlichen Hände macht
Bund, Länder und Kommunen abhängiger von den Geldgebern. Kapital ist
reichlich vorhanden: Neuneinhalb Tausend Milliarden Mark macht die Summe der
persönlichen Vermögen in der Bundesrepublik aus. Die Hälfte davon gehört
zehn Prozent der Haushalte. Zugleich wirken angekündigte
Massenentlassungen wie Siegesmeldungen an der Börse. Sie treiben die
Aktienkurse nach oben und machen die Aktionäre zu Profiteuren der sozialen
Perspektivlosigkeit der Arbeitslosen. Wer für die Benachteiligten
nur noch den Zynismus "Sozialneid!" übrig hat, verhöhnt die Sozialpflicht
des Eigentums nach dem Grundgesetz. Die herrschende Politik
zerteilt die sozial begründete Republik. In ihrem Polarkreis erstarrt das
Eintreten füreinander.
- Wenn Mangel an Arbeit herrscht,
muß sie neu und gerecht verteilt werden, durch weitere radikale
Verkürzung der Arbeitszeit bei angemessenem Lohnausgleich.
- Die Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit muß sich an dem Leitbild eines neuen Typs von
Vollbeschäftigung für Männer und Frauen orientieren. Die Erwerbsarbeit
der Zukunft muß stärker denn je auf gesellschaftlichen Nutzen und
ökologische Nachhaltigkeit verpflichtet werden. Finanzierung von
Arbeit statt Arbeitslosigkeit.
- Wir brauchen den Einstieg in
eine ökologische Steuerreform, und wir brauchen Reformen des
Sozialstaats, die den Namen verdienen: Die Systeme der sozialen
Sicherung müssen armutssicherer gemacht werden. Der
historisch-politische Auftrag des Grundgesetzes erfordert angesichts
sich ausbreitender Massenarmut eine Stärkung der Prinzipien des
Solidarausgleichs und der sozialen Mindestsicherung.
- Statt die "Zwänge" der
deregulierten Güter- und Kapitalmärkte als Schicksal hinzunehmen,
brauchen wir eine Regierung, die handelt: Sie muß in der Europäischen
Union, der Welthandelsorganisation, gegenüber dem internationalen
Währungsfonds und der Weltbank für sozialökologische und demokratische
Rahmenbedingungen eintreten.
5. Wie ist das alles finanzierbar?
Ein einziges Kriterium würde Entscheidendes ändern: Steuerehrlichkeit. Die
Finanz- und Steuerpolitik muß ihren Kurs korrigieren. Geldtransfers,
Gewinne, Groß-Erbschaften, Vermögen, Spekulationen mit Grund und Boden und
Umweltzerstörung müssen spürbar stärker besteuert werden. Durch einen
gesetzlichen Ausgleich der Lasten zwischen West und Ost, Alt und Jung, Erben
und Armen kann die Bundesrepublik um vieles humaner werden. Was in den
fünfziger Jahren an Umverteilung gelang, sollte angesichts des Reichtums
Hunderttausender und der Vermögen von Millionen nicht wiederholbar sein?
6. Gebraucht wird eine Opposition,
die den Wechsel mit allen Kräften will. Sie kann nur aus den bisher
getrennten Oppositionskräften entstehen. Kein Nichtberührungsgebot darf sie
schrecken, zumal die amtierende Macht sich in eigener Sache keineswegs darum
schert: Der Kanzler versichert Reformsozialisten in Osteuropa seiner
Freundschaft. Im Inneren der Republik sind Reformsozialisten für ihn der
böse Feind, obwohl seine Regierung 1990 und 1994 mit Kadern der vier
früheren SED-Schwesterparteien die Mehrheit errang. Allzu schnell hat sich
die veröffentlichte Meinung darüber hinwegtäuschen lassen. Wir brauchen eine
Regierung, die ohne inneres Feindbild regiert. Das Gut-Böse-Schema aus der
Zeit der Systemkonfrontation kann das Vollenden der Einheit nicht leisten.
Von der SPD fordern wir: Mut
zur Opposition auf ganzer Linie. Die Mehrheit der Bevölkerung traut ihr mehr
Gerechtigkeit zu, aber noch nicht die Entschlossenheit zur Macht, sie auch
zu verwirklichen. Die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat überträgt
ihr eine zwiespältige Rolle, weil nur zu oft der Eindruck einer großen
Koalition entsteht. Die SPD muß ihrer Herkunft als Partei der
sozialstaatlichen Reformen auf neue Weise gerecht werden: sie muß auch in
nachhaltig veränderten Zeiten mehr Demokratie wagen.
Von Bündnis 90/Die Grünen fordern
wir: Den begonnenen Weg der Überwindung ihrer
"Ein-Punkt-Kompetenz" (Ökologie) fortzusetzen. Sie sollte auch
Kontur als soziale Reformkraft gewinnen und den Eindruck widerlegen, sie
wolle am Ende die FDP ersetzen. Wer von den Grünen diese Vorstellung absurd
empfindet, wird die Mathematik der Mehrheit realistisch sehen. Es gilt, für
eine parlamentarische Kraft neben der SPD, die in den ostdeutschen Ländern
eindrucksvoll gewählt wird, offen zu sein.
Von der PDS fordern wir: Ihre
Positionen zum historisch gescheiterten Sozialismusmodell weiter zu klären.
Es geht nicht um Demutsgesten und den Verzicht auf antikapitalistische
Strömungen. Es geht um demokratische Zuverlässigkeit bei
aller Entschiedenheit, eine demokratisch-sozialistische Kraft im Spektrum
der Parteien zu sein.
An alle drei Parteien: Sie
dürfen der Verantwortung nicht ausweichen, sobald die Mehrheit für den
Wechsel möglich wird. Lassen Sie niemand im Zweifel, wie schwierig es sein
wird, Kompromisse einzugehen und dennoch die eigene Unverwechselbarkeit zu
bewahren. Gleichzeitig die Kraft für neue Konzeptionen, Theorie und Vision
aufzubringen, erfordert Toleranz in den eigenen Reihen.
7. Wir brauchen eine andere
Regierung. Ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch
kann die Mehrheit in Bonn und für Berlin verändern. Parteiförmige Politik
allein kann das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Demokratie nicht mehr
hinreichend begründen.
Unzählige sagen sich heute: Grundlegendes muß sich verändern. Und viele
fragen sich:
Wer soll es tun, wenn nicht wir, und
wenn nicht jetzt, wann dann?
(*) Wir brauchen ein Bündnis für soziale Demokratie.
Lassen wir uns an der Schwelle zum neuen Jahrtausend den Wert von Visionen
nicht ausreden und beginnen wir zu handeln.
Berlin/Erfurt, den 9. Januar 1997
Die Erstunterzeichnenden:
Prof. Dr. Elmar Altvater; Daniela Dahn, Schriftstellerin; Prof. Dr. Ulrich
Duchrow, Landeskirchlicher Beauftragter für Mission und Ökumene; Ulrike
Duchrow, Studienrätin; Dr. Dr. Heino Falcke, Probst i. R.; Matthias Freitag,
Bezirksvorsitzender der Eisenbahner Gewerkschaft Thüringen und Sachsen; Max
von der Grün, Schriftsteller, Stefan Heym, Schriftsteller; Prof. Dr. Rudolf
Hickel; Dieter Kelp, Pfarrer; Dieter Lattmann, Schriftsteller; Dr. theol.
Gerhard Liedke, Pfarrer; Marion Liedke, Oberstudienrätin; Prof. Dr. Peter
von Oertzen; Prof. Dr. Norman Paech; Bodo Ramelow, HBV-Vorsitzender
Thüringen; Dr. Edelbert Richter, Theologe, MdB; Dr. Erika Runge,
Schriftstellerin und Psychotherapeutin; Herbert Schirmer, Kulturminister a.
D.; Gisbert Schlemmer, Vorsitzender Gewerkschaft Holz und Kunsstoff; Horst
Schmitthenner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied IG Metall; Friedrich
Schorlemmer, Theologe und Publizist; Prof. Dr. Dorothee Sölle; Frank Spieth,
DGB-Vorsitzender Thüringen; Eckart Spoo, Journalist; Prof. Dr. Uwe Wesel;
Gerhard Zwerens, Schriftsteller, MdB.
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