Im Pariser Nordosten, der Hauptzielscheibe des Terrors

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Die Anschläge des 13.November haben den Parisern einen Blick in den Abgrund eröffnet. Islamisten zehren schon länger am Miteinander in volkstümlichen Vierteln. Das Gefühl der Dringlichkeit wächst, das Rad herum zu reißen. Ein Nachbarschaftsreport zwischen Bistro und Sozialbau-Siedlung…

Von Danny Leder, Paris

Der Tag beginnt, wie inzwischen üblich, mit dem Austausch von Trauermeldungen. Im Aufzug meines Hauses sagt eine Nachbarin: „Haben sie das schon gesehen? Der Geigenbauer in der Rue des Gatines (eine nahe Gasse) hat geschlossen. Den hat es auch erwischt. Meine Brigitte (die Tochter der Nachbarin) kam ganz aufgelöst aus der Schule, ein Klassenkollege hat seine beiden Eltern verloren.“

Der Terror hatte am 13.November in einer bisher noch nie dagewesenen Dimension im feierabendlichen Vergnügen des volkstümlichen Paris Einzug gehalten. Er hatte im „Stade de France“, dem Fußballstadion in der Vorstadt, angeklopft und hätte dort – fast – ein Gemetzel ausgelöst (die Kamikaze hatten Verspätung und zündeten ihre Bomben nicht wie vorgesehen unter den Wartenden vor den Kassen sondern vor den bereits leeren Eingängen). So zogen die Dschihadisten ihre blutige Schneise ausschließlich durch die lebenslustigen, aufstrebenden, intellektuell rührigen, ethnisch und sozial durchmischten neuen Ausgehmailen und alten Migrantenvierteln im Nordosten der Stadt  – im Umkreis der Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“, wo schon vor zehn Monaten Islamisten gewütet hatten.

In dieser trendigen und zugleich volkstümlichen Multikulti-Zone starben alle 130 Opfer der Terroristen, bis auf einen (ein Passant, der vor dem Fußballstadion durch die Explosion der Bombe eines der Kamikaze umkam). Rechnet man die Verletzten dazu, kommt man auf fast 500 Opfer. Mit den gerade noch Geretteten, die flüchten oder sich verstecken konnten, den Geschockten, den Verwandten und Freunden sind das tausende Betroffene im engen Umkreis von nur vier Pariser Bezirken. Es war, wie Bürgermeisterin Anne Hidalgo Tags darauf konstatierte, „ein Angriff auf das Paris der Vielfalt und des Zusammenlebens“.

Bei den kleinen Zwiebeln

Im Bistro „Les petits Oignons“ (Die kleinen Zwiebeln), paar Schritte von meinem Haus entfernt, ist der Koch verzweifelt: in der Terrornacht verlor er mit einem Schlag zehn Freunde – Personen, die in Kneipen arbeiteten oder gerade einkehrten.

Auf einem Tisch nahe dem Eingang sitzt Stammgast Roland und tippt auf seinem Notebook – ein gewohntes Bild im „Petits Oignons“. Auch er hat eine Tochter, eine Architekturstudentin, die um einen Studienkollegen trauert.

Roland ist Gastronomie-Kritiker bei einem angesehenen linken Kulturmagazin. Er schimpft über „Geldgier und Kapitalismus“, er kann sich über die „Armut und Vernachlässigung der Vororte“ in Rage reden. Aber Roland ist auch ein Nachkriegskind, das Entbehrungen erleiden musste, und, was die wenigsten wissen, der Sohn eines legendären jüdischen Pariser Gangsterboss. Vielleicht kommt daher seine urpariserische Verve, mit der er mich oft zum Lachen bringt, auch wenn ich manchmal Einspruch erhebe, weil seine kulinarisch gefärbten Tiraden gegen den islamischen Rigorismus an Intoleranz grenzen: „Als Kinder waren wir schon froh, dass  wir überhaupt was ordentliches zum Futtern bekamen. Die Islamisten machen ihre Mätzchen ums Essen. Sie wollen nur mehr Hallal-Speisen an den Schulen und in Firmen. Und was kommt dann? Darf man als nächstes indischen Kindern nur mehr Curry-Gerichte servieren und für die Vietnamesen Pho-Suppen anrichten?“

Die Reaktion von Roland nach den jüngsten Anschlägen hat mich überrascht: „Das ist jetzt eine Chance. Jetzt müsste die Polizei den Jungen in den Siedlungen, die da herumdealen, sagen: Aus der Spaß! Jetzt müsst ihr Euch entscheiden, ob ihr zu Frankreich hält oder zu den Monstern. Mein Vater hat mir immer gesagt: Auch bei Unterweltlern gibt es solche und solche. Im zweiten Weltkrieg gab es Gangster, die für die Gestapo und solche, die für die Resistance arbeiteten.“

Mutprobe in der Rue Helene Jakubowicz

Dann fällt das Stichwort „Jakubowicz“. Roland und ich wissen, worum es geht. Gleich um die Ecke befindet sich eine nicht allzu große Sozialbau-Siedlung, eigentlich ein wunderschönes Ensemble aus Backsteinbauten mit Grünanlagen, das nach einer in Ausschwitz umgekommenen Widerstandskämpferin, Helène Jakubowicz, benannt ist. Eine verkehrsberuhigte Gasse führt durch die Siedlung, aber Roland und ich wissen, dass dieser bequeme Verbindungsweg zu einem jenseits der Siedlung liegenden Park uns jedes Mal eine Mutprobe abverlangt. Vermummte Dealer und andere, aggressive Jugendliche können einem den Weg versperren. Das ist allerdings nicht ständig der Fall, und es bedeutet auch nicht, dass man unablässig mit Zusammenstößen rechnen muss. In dem auf der anderen Seite der Siedlung liegenden Park spielen die Kinder einer jüdischen ultra-orthodoxen Schule, die an den Park angrenzt  – bisher, so versicherten mir die Schulbetreuer, habe es noch nie Zwischenfälle mit den Jugendlichen aus der Siedlung gegeben.

Aber mein latentes Unbehagen über die Stimmung in der Siedlung nährt sich aus eigenen Erlebnissen. „Monsieur, das ist verboten“, rief mir mal ein Halbwüchsiger zu, weil ich eine Wandmalerei auf einer Fassade fotografierte, die noch zu meinem Wohnungsensemble gehört, die sich aber bereits am Beginn des Wegs durch die Sozialsiedlung befindet. Dealer hatten ihn losgeschickt, weil sie auch diesen Ort als ihr Territorium betrachten und ein Fotografier-Verbot verhängt hatten. Eine Passantin, mit islamischen Kopftuch, die aus der Siedlung kam, ergriff für mich Partei: „Er hat doch wirklich nur diese Fassade fotofiert.“

Mehrmals sah ich in der Gasse, wie Wanderprediger in Islamistischen-Kluft Gruppen von Jugendlichen um sich scharten. Ein algerischer Freund, der dort eine Wohnung mietete, nutzte die erste Gelegenheit, um auszuziehen. „Wenn die Polizei kam, wurde sie mit Wurfgeschossen aus den Stockwerfen traktiert“, erzählte er mir: „Das sollen die sich in Algerien trauen“. Die Polizei hob Waffenverstecke aus.

Tatsächlich bewegten sich nicht alle, aber viele Dschihadisten ursprünglich an der Schnittstelle zwischen Jugendkriminalität und religiöser  Radikalisierung in sozialen Problemvierteln. Ob  im nunmehr weltberühmten Brüssler Molenbeek, ob in den Krisenzonen im Großraum Paris, Lille, Toulouse oder Marseille – überall ist eine hochgerüstete und transnational vernetzte Dealer-Szene erwachsen, die ganze Siedlungen beherrscht,  mit-ernährt, blutige Fehden untereinander ausficht und der Polizei trotzt.

Etliche der späteren Dschihadisten haben ihre ersten Lehrjahre in denselben Dealer-Klicken absolviert. Als Kinder und Halbwüchsige wollten sie den älteren Bandenangehörigen nacheifern, dann überboten sie den Gewaltkodex der Älteren und irgendwann ließen sie das „Business“, den Alltag der großen und kleinen Drogengeschäfte und Reibereien, hinter sich zugunsten des ultimativen Trips der Glaubenskrieger. Sie finden allerdings noch immer in dieser ihnen vertrauten Szene Waffen, falsche Papiere, Unterschlupf.  Das ist ihre Stärke und wohl auch Schwäche, weil es in diesem Milieu Leute gibt, denen ihre Geschäfte wichtiger sind, und die daher einen allzu starken Druck der Behörden, wie er jetzt ausgeübt wird, vermeiden wollen.

Schlechte Zeiten für Verschwörungstheoretiker

Die andere Facette ist freilich, dass ein Teil der jungen Menschen in diesen Randvierteln auch für die meisten traditionellen muslimischen Glaubensträger kaum mehr erreichbar sind.

Es mangelt zwar nicht an Imamen und Initiativen muslimischer Bürger, die den nationalen Zusammenhalt Frankreichs gegen den Terror predigen, was auch zweifelsfrei der Haltung der Mehrheit der Muslime entspricht. Außerdem ist der Effekt der jetzigen Anschläge derartig erdrückend und der bedrohte Personenkreis derartig breitgefächert, dass auch die Verfechter von Verschwörungstheorien ins Hintertreffen geraten sind. Zumindest haben sie diesmal weniger Echo an den Schulen gefunden als vergangenen Jänner: damals, nach den Anschlägen gegen „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt, hatten stellenweise Schüler ihre Lehrer in Verlegenheit gebracht mit Behauptungen wie: der „Staat“ oder „Israel“ hätten die Attentate „inszeniert“, nicht alle Toten wären „echte Tote“.

Solche Hirngespinste sind jetzt zwar passé. Aber dafür haben sich ultra-pietistische islamische Strömungen festgesogen. So mancher Anhänger dieser religiösen Rigoristen, darunter etliche Konvertiten, finden in strengsten und demonstrativen Ritualen ihr Auslangen. Für einige freilich ist genau das der Übergang zum Dschihad. „Der Obskurantismus nimmt zu“, klagt eine franko-arabische Apothekerin: „Erst gab es Kollegen, die mich nicht mehr umarmen wollten („Faire La Bise“ – die in Frankreich geläufige Begrüßung unter engeren Bekannten). Jetzt wollen sie einer Frau auch nicht mehr die Hand reichen.“

Busfahrer mit Frauenphobie

Der Werdegang eines der Kamikaze, der sich in der Konzerthalle „Bataclan“ sprengte, Samy Amimour, brachte genau diese Thematik an die Öffentlichkeit. Amimour war, bevor er nach Syrien zum „Islamischen Staat“ ging,  fünfzehn Monate lang als Busfahrer bei den Pariser Verkehrsbetrieben, der RATP, beschäftigt. Ein Gewerkschafter enthüllte, dass sich Zwischenfälle mit islamistischen Busfahrern seit fünf Jahren häufen: „Manche weigern sich, einen Bus zu übernehmen, weil sie gerade im Depot ihr Gebet verrichten. Sie wollen weibliche Kollegen nicht mehr grüßen oder sogar einen Bus nicht fahren, wenn beim vorgehenden Turnus eine Frau hinter dem Lenkrad gesessen ist.“ Manche dieser Fahrer wurden absichtlich in Siedlungen des nördlichen Pariser Vorortegürtels rekrutiert, um dortige Halbwüchsige zu besänftigen, die die Busse gelegentlich mit Steinen bewarfen.

Dass islamistische Arbeitnehmer ihren weiblichen Kollegen und Vorgesetzten den Handschlag verweigern und manchmal auch die Zusammenarbeit quasi unmöglich machen, ist auch aus anderen Betrieben bekannt.

Die RATP hat inzwischen, wie etliche weitere französische Firmen, eine „Charta der Laizismus“ beschlossen, die religiösen Aktivismus vom Arbeitsplatz verbannt – auch auf Drängen besorgter muslimischer Bediensteter.

„Es ist noch nicht zu spät, aber wir, die normalen Muslime, dürfen  jetzt nicht mehr die Konfrontation mit den Fanatikern scheuen.“ sagt Ahmed, Trainer eines Amateur- Fußballvereins in einem naheliegenden Viertel: „Junge Spieler wollten sich auf unserem Gelände vor und nach allen Matchs zum kollektiven Gebet auf die Knie werfen. Damit ist jetzt Schluss. Die meisten verstehen das auch“.  Den fünf Millionen Muslimen Frankreichs steht ein bitteres, inneres Ringen bevor. 

Erstveröffentlichung in der österreichischen Tageszeitung „Kurier“.