Zum Tod von Arno Gruen

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Der deutsch-schweizerische Psychoanalytiker Arno Gruen, am 26.5.1923 in Berlin als Kind einer jüdischen Familie geboren, ist vor drei Tagen, am 20. Oktober 2015 in Zürich verstorben…

Arno Gruen gehörte zu den bekanntesten Psychoanalytikern hierzulande. In seinen zahlreichen Büchern, verfasst vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als jüdischer Emigrant und Rückkehrer, rief er immer wieder zu Menschlichkeit, zum Wahrnehmen der menschlichen Destruktivität auf.

1936 war Arno Gruen mit seinen Eltern aus Deutschland über Polen und Dänemark in die USA geflohen. Bei seiner Flucht nahm er drei Bücher mit: Ein Lexikon, einen Band mit Gedichten von Chaim Nachman Bialik und die Bibel. Er studierte in New York Psychologie und eröffnete dort 1958 eine psychoanalytische Praxis. Ein enger Freund von ihm war Henry Miller. 1979 übersiedelte er in seine Wahlheimat, nach Zürich. 1985 titelte der Spiegel einen Beitrag über ihn mit „Nur der verwundbare Mensch ist stark“ – Arno Gruens psychoanalytische Grundhaltung.

Einige Titel seines umfangreichen publizistischen Werkes: Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau; Der Wahnsinn der Normalität: Realismus als Krankheit; Falsche Götter. Über Liebe, Hass und die Schwierigkeit des Friedens; Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der „Ich will eine Welt ohne Kriege“.

Arno Gruen nahm bis zu seinem Tod am Leben teil. Auch mit 90 Jahren veröffentlichte er noch zwei Bücher: 2014 erschien bei Klett-Cotta sein Buch Wider den Gehorsam, und in diesem Jahr Wider den Terrorismus.

Zu seiner Würdigung veröffentlichen wir hier erstmals ungekürzt seinen 2012 verfassten Beitrag Identität, speziell: „Jüdische Identität“. (rk)

Identität, speziell: „Jüdische Identität“

Arno Gruen

Was ist Identität? Im Allgemeinen glauben wir, dass Identität eine Folge der Identifikation mit Personen ist, die wichtig waren in frühen grundsätzlichen Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt. Jedoch steigt die Frage auf: Wenn Identifikation die Grundlage für Identität ist, was ist dann eine eigene Identität? Waren wir einfach eine Tabula rasa, als wir zur Welt kamen, oder besaßen wir nicht schon Eigenschaften und Fähigkeiten, die nichts mit dem Prozess der Identifikation zu tun haben?

Da sind zum Beispiel die frühen kindlichen Reaktionen, die mit Bewegungen zu tun haben, die zu Annäherungen an oder dem Rückzug von Stimuli führen, die aber keine Basis in Erfahrungen haben, die zu einem Lernvorgang beigetragen hätten. Diese Reaktionen haben mit Strukturen im Nervensystem zu tun, die eine Entwicklung solch wichtiger Verhaltensmuster wie Annäherung an oder Rückzug von bemutternden Personen ermöglichen (Schneirla 1959). Dieser Prozess steht wiederum in Zusammenhang mit der Entwicklung von empathischem Verhalten, das grundlegend ist für unser Menschsein, also die Identität, die ein werdender Mensch aufzubauen beginnt. Daraus folgt, dass uns allen eine Basis für individuelle, originale Identität zueigen ist, die ja zur Vielfalt der Identitätsstrukturen führen sollte. In der Tat betonen Anthropologen immer wieder die Vielfalt von Persönlichkeiten in so genannten primitiven Kulturen (Diamond 1979, Radin 1971, Donner 1983), im Gegensatz zu einer Uniformität bei uns. Der englische Dichter Edward Young schrieb im 18. Jahrhundert über unsere Kultur: „Wir werden als Originale geboren, sterben als Kopien“ (1721).

Was sagt das über Identität? Vielleicht sollten wir den Unterschied zwischen Identität und Identifikation deutlich machen, indem wir erkennen, dass Identifikation nicht die Basis für eine eigene Identität bildet. Dass Identifikation und Identität einen Widerspruch in sich bergen, weil Identifikation eben nicht zur Entwicklung einer autonomen, originären Identität führt (Gruen 1968).

Was ist nun jüdische Identität? Was bedeutet es, Jude zu sein, sich jüdisch zu fühlen? Hier haben wir es sofort mit Zugehörigkeit zu tun, mit einer Notwendigkeit, sich von anderen Gruppierungen zu differenzieren, mit einer Identifikation mit einer Gruppe von Menschen, die einem ein Gefühl der Besonderheit, des Anderssein, vielleicht auch des Mehr-Seins geben, wodurch man sich gestärkt fühlt. Der Identifikation liegt also letztlich ein Gefühl der Schwäche zugrunde, gegen das man sich durch Zuflucht zu einer Gruppe, die größer erscheint als das eigene Ich, verteidigen muss.

Gruppenzugehörigkeit kann also stärken. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Art Stärkung einer psychischen Notwendigkeit entspringt, und dass der Anfang dieses Prozesses mit einem Gefühl zu tun hat, das sich um Angst um die eigene Sicherheit, Angemessenheit und Bedeutung dreht.

Ich war etwa sechs Jahre alt und ging in eine Berliner Volksschule, als die Lehrerin mich und einen anderen Schüler nach Hause schickte, da der Rest der Klasse zum ersten Mal in den Religionsunterricht eingeführt werden sollte. Vor der Tür unseres Hauses traf ich eine Nachbarin, die mich fragte, warum ich so früh nach Hause komme. Ich hatte keine Ahnung, was Religion ist, und antwortete ihr, meine Klasse habe so was wie Re-Relion. Mein Vater, der die Geschichte am Abend hörte, kündigte mir an, dass wir am Wochenende darüber ein Gespräch führen würden. Am Samstag erklärte er mir, dass wir jüdisch seien und dass es auch andere Religionen gäbe. Ich wunderte mich sehr, weil, wie ich ihm sagte, ich dachte, dass wir alle Menschen wären. Ich erfuhr, dass es noch andere Unterschiede gab. Da waren Franzosen, Engländer etc. Mein Vater, der ein Atheist war, politisch progressiv und international ausgerichtet, entschied, dass ich etwas über mich als Jude lernen sollte, um gegen die Voreingenommenheiten, denen ich ausgesetzt sein würde, gewappnet zu sein. So fing ich an mit einem Universitätsstudenten jüdische Geschichte zu studieren. Ein Gefühl, dass andere mich als nicht zugehörig sahen und mich als Juden für minderwertig hielten oder als Bedrohung erlebten, kam erst später und verstärkte sich mit Hitlers Machtergreifung.

1933 war auch das Jahr, in dem ich ins Gymnasium kam, das Fichte Gymnasium in Berlin Wilmersdorf. Gleich am ersten Tag wurden die sozialdemokratischen Lehrer aus der Schule geworfen. Unser Klassenlehrer, ein Professor Löschhorn, der Deutsch unterrichtete, las aus Hitlers „Mein Kampf“ vor und sprach davon, wie ihn im ersten Weltkrieg die Franzosen dauernd beschummelt hätten. Als wir Nazi-Lieder lernen mussten, die vom tropfenden Blut der Juden handelten, sagte ich zu meinem Vater, dass ich nicht mehr in diese Schule zurückgehen wollte. So kam ich auf eine zionistische Schule. Der Aufenthalt dort und die Tatsache, dass wir alle hebräisch lernten, um uns für die Jugend-Allija vorzubereiten, vermittelten uns ein positives Gefühl der Zugehörigkeit. Es war unser Ziel, am Aufbau einer neuen gerechten Welt mitzuwirken. Die Zugehörigkeit hatte mit diesem Gefühl des Aufbauens zu tun und nicht damit, dass ich mich durch das Beitreten gestärkt fühlte. Wenn wir hier von jüdischer Identität reden, ging es nicht um ein Sich-gestärkt-Fühlen durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern um ein Teilnehmen an einem positiven Ziel. Natürlich gibt es auch jüdische Gruppierungen, wie zum Beispiel viele der religiösen jüdischen Siedler in Israel, die durch eine Art des Nationalismus nicht nur ein Gestärktsein erleben, sondern sich auch per se zu Aggressionen gegenüber Arabern berechtigt fühlen. Solche Identitäten haben mit einem geschwächten Ego zu tun, das voller Wut und Aggression ist, und zwar nicht auf Grund gesellschaftlicher Unterdrückung, sondern in Folge frühester Erlebnisse, die es einen Kind unmöglich machen, ein wahres eigenes Selbst, eine eigene Identität, zu entwickeln (Gruen 2002). In andern Worten: Diese so genannten Identitäten, die – wie hier zum Beispiel – auf Nationalismus beruhen, sind das Resultat von Vorgängen, die eine eigentliche Identität verhindern.

Man muss also differenzieren, was genau sich hinter dem Begriff „Jüdische Identität“ verbirgt. Für meinen Vater zum Beispiel bedeutete jüdische Identität Verachtung für Nichtjuden. Er wuchs in extremer Armut auf und musste schon als Achtjähriger in einem Klima des Antisemitismus in Polen für seine Mutter und Geschwister sorgen. Seine Verachtung war gemischt mit einer unbändigen Kraft, die sich in körperlichem Mut gegenüber allen ausdrückte. Er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann in Deutschland, und sein Erfolg beruhte zum Teil darauf, dass er, genau wie Hitler in „Mein Kampf“, wusste, wie man mit Verachtung umgeht. Die Deutschen, auch Nazis, liebten es, so herablassend behandelt zu werden. Mein Vater war der starke Mann, dem sie sich ergaben. In den USA, wohin wir 1936 emigrierten, war er weniger erfolgreich. Ich nehme an, der Grund lag darin, dass die meisten Amerikaner nicht wie die Deutschen damals auf verachtendes Verhalten mit Unterwerfung eingingen. Für mich heißt das, dass die „Identität“ meines Vaters gekennzeichnet war durch eine Identitätsbildung, die durch Unterdrückung seiner eigenen kreativen Möglichkeiten geprägt war. Identität die auf solcher Unterdrückung basiert, wurzelt in Identifikationen, die nicht mit eigenen Anlagen zu tun haben und deshalb auch keine eigentliche Identität spiegeln (Gruen 1997, 2006).

Es ist deshalb falsch, von einer jüdischen Identität oder auch anderer „nationaler“ Identitäten zu sprechen. Es geht um Zugehörigkeit, und diese basiert eigentlich auf einer Notwendigkeit sich gegen feindlichen gesellschaftlichen Druck zu verteidigen. Die „Identität“, die sich daraus entwickelt, hat nichts mit einer eigenen Identität zu tun. Das bedeutet, dass die Identifizierung mit einer Gruppe dazu führt, sich stärker zu fühlen, weil man mehr ist als nur ein einzelner. Teil einer Gruppe zu werden kann also dadurch motiviert sein, dass man sich allein geschwächt fühlt. Diese Art von Identifikation und Identität wird also von einer feindlichen Macht bestimmt. In einem gewissen Sinne hatte der Nazi-Ideologe Carl Schmitt recht, als er schrieb: „Der Feind ist unsere eigene Frage der Gestalt“ (1927). Mit anderen Worten: Sage mir, wer dein Feind ist, und ich sage dir, wer du bist (Meier 1994, Gruen 2000). Das heißt, dass diese Art von Identität durch den Unterdrücker definiert ist und nicht durch das Eigene. Es bedeutet, dass in unseren „zivilisierten“ Kulturen, im Gegensatz zu den so genannten „primitiven“ Kulturen, Identität fremdbestimmt ist. Das ist die Tragödie, die hinter dem Paradox des Widerspruches zwischen Identität und Identifikation steht.

Literatur:

Diamond, S. (1979). Kritik der Zivilisation. Frankfurt/M.: Campus.

Donner, F. (1983). Shabono. Eine Frau in der magischen Welt der Iticoteri. Wien: Zolnay.

Gruen, A. (1968). Autonomy and Identification: The Paradox of Their Opposition. International Journal of Psycho-Analysis 49, 4.

Gruen, A. (1997). Der Verlust des Mitgefühls. München: dtv.

Gruen, A. (2000). Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gruen, A. (2002). Der Kampf um die Demokratie: Der Extremismus, die Gewalt und der Terror. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gruen, A. (2006). „Ich will eine Welt ohne Kriege“. Stuttgart: Klett-Cotta.

Meier, H. (1994). Die Lehre Carl Schmitts. Stuttgart: Metzler.

Radin, P. (1971). The world of the primitive. New York: Norton.

Schmitt, C. (1927). Der Begriff des Politischen. Archive für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58, 1-33.

Schneirla, T. C. (1959). An evolutionary and developmental theory of biphasic processes underlying approach and withdrawal. Nebraska: University of Nebraska Press.

Young, E. (1721). The complaint: or and Night thoughts on life, death, and immorality. London: Bell and Daldy 1958.

Dieser Beitrag Arno Gruens ist 2012 erschienen in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung. Nr. 1/2012, Schwerpunktthema: Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust, Gast-Herausgeber: Roland Kaufhold & Bernd Nitzschke, Euro 12,00, Bestellen?

Wir danken dem Verlag und den Autoren für die Nachdruckrechte-

Ein Gespräch mit Arno Gruen über Empathie:

https://www.youtube.com/watch?v=O0g6DvI56pg