„Dem Westen aufs Dach gestiegen“

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Ein Gruß zum 61. Geburtstag von Anetta Kahane…

Von Martin Jander

„Dem Westen aufs Dach gestiegen“ sollte vor etwa einem Jahr ein Artikel heißen, den Anetta Kahane verfasst hat. Es ging um die Flüchtlinge, die in Kreuzberg auf das Dach einer Schule gestiegen waren, um für eine ständige Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik zu demonstrieren. Anetta Kahane kündigte in dem Artikel an, dass sich die westlichen Demokratien erst am Anfang eines neuen Aushandlungsprozesses befinden. Die Flüchtlinge aus Afrika, dem Nahen Osten und aus vielen anderen Gegenden der Welt, lassen sich nicht mehr so einfach abschieben. Sie schalten sich in die Debatte der reichen Gesellschaften ein und fordern ihre Rechte, die die Rechte aller Menschen sind.

Der Artikel erschien dann nicht unter der von der Autorin vorgeschlagenen Überschrift. Stattdessen titelte die Frankfurter Rundschau „Das Signal von Kreuzberg“[1]. Den ursprünglichen Titel „Dem Westen aufs Dach steigen“ aber könnte man ganz gut für die Beschreibung der politischen Aktivistin und Schriftstellerin Anetta Kahane verwenden, deren 61. Geburtstag wir am 25. Juli feiern.

Ich bin ein großer Fan von Anetta, eben weil sie, seit ich sie bewusst kenne, schon mehrfach „dem Westen“ aufs Dach gestiegen ist. Ohne sie, vielleicht klingt das ein bischen zu pathetisch und dennoch ist es wahr, wäre die frühere DDR niemals demokratisch geworden. Der „Westen“ hatte nach dem Fall der Mauer an alles Mögliche gedacht. Westdeutsche Politiker ordneten einige der allerbesten schon etwas in die Jahre gekommenen Verwaltungsbeamte ab und die leisteten, wie das hieß, „Aufbauhilfe“. Es wurde in dieser großen und aufregenden Zeit eigentlich an fast alles gedacht. Autos, Vereinssatzungen, Lebensversicherungen, Südfrüchte, neue Gesetze und sogar eine komplette Verfassung. Bis heute werden diese „Aufbauleistungen“ von Zeit zu Zeit besungen.

Anetta Kahane
© Burghard Mannhöfer

Anetta Kahane ist bis heute leider eine nicht besungene Heldin der Einführung der Demokratie in den fünf neuen Bundesländern. Sie brachte etwas ein, was „der Westen“ schlicht vergessen hatte. Heute wird das was sie einbrachte, beförderte, vorantrieb und dessen bedeutendste Stimme sie meiner Meinung nach wurde, etwas schmucklos „Zivilgesellschaft“ genannt. Es handelt sich gewissermaßen um den Unterbau der Verfassungen demokratischer, offener  Gesellschaften. Wenn ihre Mitglieder in Vereinen, Kommunen, der Feuerwehr, in Schachclubs, Krabbelstuben, im Fußballstadion, in den Schulen und was weiß ich wo, Demokratie nicht leben, dann können Verfassungen so gut sein wie sie wollen, den Krieg, die Verachtung, Hass und Demagogie, die alle in der Nachbarschaft beginnen, verhindern sie nicht.

Als die DDR zusammenbrach, war an alles gedacht worden, bloß eben nicht an diese „Zivilgesellschaft“. Als in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda, in Eberswalde und anderswo Menschen zu Tode gehetzt wurden und unzählige Journalisten und Politiker nichts Eiligeres zu tun hatten, als uns zu erklären, dass das eben so sei in einem Landstrich in dem es über 60 Jahre lang keine Demokratie gegeben habe und dass dies nur vorübergehende Erscheinungen des Transformationsprozesses wären, da hat Anetta mit anderen zusammen zunächst die Regionalen Arbeitsstellen gegen Ausländerfeindlichkeit (RAA) aufgebaut und später die Amadeu Antonio Stiftung.

Viele weitere kleinere Stiftungen, Gruppen und Preise rief sie ebenfalls mit ins Leben. Die RAA und die Amadeu Antonio Stiftung bilden, ich glaube das kann man ohne Übertreibung sagen, den Kern eines neuen Demokratie-Bewusstseins, einer neuen demokratischen Lebenskultur in den fünf neuen Bundesländern. Gemeinsam schafften sie es, die im öffentlichen Diskurs vorherrschende Entschuldung des nazistischen Mobs zurückzudrängen und den angegriffenen und verfolgten Menschen eine Stimme und Unterstützung zu geben.

Sicher ist es nicht Anetta alleine gewesen, die das alles in Gang brachte, aber sie tat das an sehr entscheidender Stelle und sie wurde, mit ihren 2004 veröffentlichten autobiografischen Geschichten[2] und ihrer „Montagskolumne“ in der Berliner Zeitung gewissermaßen „die“ Stimme dieser Demokratie-Gründung in den fünf neuen Ländern. Sie hat die wesentlichen Ideen dieses Demokratieaufbaus popularisiert und, was besonders häufig übersehen wird, Formen gefunden und mit gegründet, in denen Menschen, die diesen Demokratieaufbau befördern wollten, agieren und ihren eigenen Beitrag einbringen können.

Wenn ich Bundespräsident wäre, was Gott verhüten möge, ich wäre damit komplett überfordert, dann würde ich als eine meiner ersten Amtshandlungen Anetta Kahane den Orden für unaufgeforderte und man kann schon sagen unerbetene Beteiligung an der Demokratiegründung verleihen.

Die Aktivistin und Schriftstellerin Anetta Kahane stieg „dem Westen“ seit dem Fall der Mauer gehörig aufs Dach und erinnerte diesen Westen mit ihren Interventionen an fundamentale Einsichten, man kann es auch Werte oder Haltungen nennen, die eine Demokratie als Lebensweise überhaupt erst möglich machen. Wir alle sind frei und gleich geboren, genießen dieselben Rechte und erst wenn jeder von uns ohne Angst anders zu sein frei leben kann, erst dann ist diese Gesellschaft wirklich demokratisch.

Und da sind wir beim zweiten Grund warum ich ein so großer Fan von Anetta Kahane bin und warum sie auf jeden Fall den allerhöchsten Orden dieser Republik verdient hat. Ich kenne keine andere Publizistin, die mit solcher Eindringlichkeit eine Sache vorträgt, die genuin westlich ist und die mit der Neugründung von Demokratie nach der Shoah zu tun hat. Hier wird dem Westen gewissermaßen aufs Dach gestiegen um ihm an seine ureigenste Botschaft zu erinnern.

Im Jahr 1945 hat es nicht sehr viele, aber doch einige Politiker, Remigranten, Angehörige der alliierten Armeen einfache Menschen, Überlebende von Konzentrationslagern gegeben, die sich darüber klar waren, dass Demokratie in Deutschland nur dann eine Chance haben würde, wenn der Zivilisationsbruch anerkannt und seinen Opfern soweit als überhaupt möglich Gerechtigkeit und Wiedergutmachung widerfahren würde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang u. a. an Heinz Galinski. Ohne ihn und viele andere Menschen und Ihre Initiativen wäre die deutsche Gesellschaft heute keine Demokratie.

Mit der Shoah und dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion hatte die deutsche Gesellschaft jegliche Zivilisation über Bord geworfen. Ohne die Wiedereinführung der Idee, dass wir alle frei und gleich geboren sind und dass moderne westliche Gesellschaften sich dadurch auszeichnen, dass wir alle ohne Angst verschieden sein können, ist eine Rückkehr zur Demokratie in Deutschland unmöglich. Die Mehrheit der Deutschen brauchte ein wenig, bis sie sich diesen Vorstellungen anschloss. Bis heute ist dieser Prozess nicht abgeschlossen.

Anetta Kahane hat demokratische Ideen, besser vielleicht gesagt Haltungen, bereits im Widerspruch zu der Gesellschaft in der sie aufwuchs, geformt und war deshalb in der Lage, das entscheidende fehlende Stück beim Demokratieaufbau in der früheren DDR, die Zivilgesellschaft, zu finden. Ihre Publikationen, Artikel und Kampagnen der Amadeu Antonio Stiftung sind getragen von einer Melodie essenzieller Vorstellungen der westlichen Demokratie, die ihre herausragende Rolle beim Demokratieaufbau in den fünf neuen Bundesländern erst möglich machte.

In gewisser Weise trägt Anetta Kahane damit auch die unerfüllten Wünsche derjenigen weiter, die sich bereits 1945 darüber im Klaren waren, dass die Menschenrechte seit der Shoah eine entscheidend neue Aktualität haben. In diesem Sinne steigt Anetta Kahane „dem Westen“ nicht so sehr aufs Dach, sie appelliert an seine Kernbestände. Damit aber steigt sie einigen aus dem Westen auf das Dach, die nicht erst seit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Diktaturen sowjetischen Typs, eine Relativität der Werte, einen Kulturrelativismus predigen. Das aber wäre eine andere Geschichte, die jetzt hier zu weit führt.

Liebe Geburtstagsgäste, sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich plädiere am 25. Juli 2015 dafür, dass Anetta Kahane den Preis für unerbetene Einmischung beim Demokratieaufbau erhält und dass wir uns zur Feier der Übergabe dieses bislang noch nicht existierenden Ordens demnächst im Garten des Schlosses Bellevue versammeln. Da sich die Vorbereitung dieser offiziellen Feierlichkeit noch hinziehen könnte, möchte ich die Leser dieses Geburtstagsgrußes bitten, sich jetzt schon einmal mit mir zu erheben und auf Anetta Kahanes 61. Geburtstag anzustoßen: Liebe Anetta, schön dass es Dich gibt, alles Gute zum 61. Geburtstag, vorwärts zum 120ten.

Dr. Martin Jander, Historiker und Journalist, unterrichtet Deutsche und Europäische Geschichte im Programm der Stanford University (Berlin) und dem European Studies Programm der Freien Universität Berlin (FU-BEST), außerdem forscht er über linksradikalen Terrorismus am Hamburger Institut für Sozialforschung.  

[1] Anetta Kahane, Das Signal von Kreuzberg, in: Frankfurter Rundschau vom 6. Juli 2014.
[2] Anetta Kahane, Ich sehe was, was Du nicht siehst, Berlin 2004.