Armenische Fluchtstationen – eine musikalische Reise

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Ein Interview mit der armenischen Pianistin Nare Karoyan (Köln)…

Von Uri Degania

Uri Degania: Nare, Du bist in Armenien aufgewachsen und bist zum Studium nach Deutschland gekommen. Was waren Deine Beweggründe?

Nare KaroyanNare Karoyan: Die 90er Jahre – Jahre meiner Kindheit –  waren eine sehr turbulente Zeit für Armenien: Untergang der Sowjetunion, Gründung der Republik, Krieg, Inflation, Migration, Jahre ohne Strom… Gleichzeitig waren das, wie so oft, Jahre, in denen die Künste einen Aufschwung ohnegleichen erlebten. Und da meine Eltern beide Künstler sind, spürte ich hautnah diese intensive Welle.

Wie die meisten Kinder in meiner Generation fing ich früh an zu musizieren. Irgendwann entschied ich mich für den Musikerberuf und hatte kurz vor meinem Schulabschluss das Glück einen wunderbaren französischen Geiger zu treffen, der mich bei einem seiner berühmten Freunde empfahl. Er hieß Pascal Devoyon. Das Unglaubliche daran war, dass ich die Aufnahmen dieses Pianisten seit meiner Kindheit kannte und liebte. Ich habe schließlich die Aufnahmeprüfung für seine Klasse in Berlin bestanden und bin nach Berlin gezogen.

Am 24. April ist der 100. Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern. Fünf Tage später wirst Du in Armenien eine musikalische Performance darbieten, in der Du die Fluchtstationen Deiner armenischen Familie musikalisch entfaltest. Was werden die Themen des Abends sein?

Die Geschichten über meine Familie sind noch immer sehr lebendig bei den großen Familienfesten. Es wird viel erzählt und diskutiert über Menschen, die seit Jahrzehnten nicht mehr leben. Diese Geschichten mit all‘ ihren offenen Fragen sind ein Teil meiner Identität. Der Fakt, dass man die Verwandtschaftsverhältnisse aufgrund des Genozids kaum zurückverfolgen kann, macht mir und vielen Freunden bewusst, wie wichtig unser eigenes Erinnern für die Verbindung der Vergangenheit und der Zukunft ist. Aus diesem Grund war mir wichtig mit eigenen Mitteln meinen Beitrag dazu zu leisten und ein musikalisches Programm zu gestalten, das die Fluchtstationen meiner Familie verfolgt: Aus der Türkei nach Frankreich und wieder zurück nach Sowjet- Armenien.

Es war ein langer musikalischer und persönlicher Weg. Ursprünglich wollte ich „nur“ Stücke aus Armenien, aus der Türkei und aus Frankreich spielen, für ein Abendprogramm über die Fluchtstationen meiner Familie. Bis ich dann im Rahmen meiner familiären Recherchen herausgefunden habe, dass meine Familie auch in Syrien gelebt hat…

Ein anderer wichtiger Punkt war auch der Gedanke, dass –  wenn wir irgendwo gewollt oder ungewollt leben – wir von dieser Kultur beeinflusst werden und wir diese dann in uns tragen. Am Ende sind wir das Resultat all dieser Erfahrungen.

Nach dem Genozid sind Deine Urgroßeltern nach Syrien gelangt. Sie haben 3 Jahre lang in einem armenischen Waisenhaus in Syrien gelebt. All dies ist Dir erst in den letzten Monaten bekannt geworden.

Stimmt, das war ein Detail in der Familiengeschichte über das ich all die Jahre nichts wusste. Meine Urgroßeltern wurden von Nachbarn versteckt und überlebten die Vernichtung. Irgendwann wurden sie, wie hunderte andere überlebende Kinder, von einem wohlhabenden Armenier namens Boghos Nubar freigekauft und in armenische Waisenhäuser nach Syrien und dem Libanon in Sicherheit gebracht. Die armenischen Waisen wurden damit zusammengeführt und die armenische Identität konnte damit vor der Vernichtung gewahrt werden.

Der Gedanke, dass ich auch Stücke aus diesen beiden arabischen Ländern in mein Programm aufnehmen musste, hat mir keine Ruhe gelassen. Die Suche nach Klaviermusik aus Syrien und Libanon gestaltete sich jedoch als sehr schwierig. Schließlich kontaktierte ich Daniel Agi. Ohne seine Hilfe wären meine Recherchen womöglich fruchtlos geblieben. Ein herzlicher Dank an dieser Stelle!

Die Geduld hat sich gelohnt!

Das kurze farbenvolle Stück des namhaften libanesischen Komponisten Karim Haddad mit dem Titel ’47 lat. Nord, 3 long. Ouest‘ hat zwar in dem musikalischen Material keine direkte Verbindung mit seiner Heimat, ist aber insofern interessant, dass seine Wahlheimat Frankreich ist und die geographischen Koordinate, die der Titel des Stückes ausmachen, auf eine bestimmte Insel in der Bretagne hindeuten. Somit verbindet sich seine Geschichte zu der meiner Vorfahren.

Zu guter Letzt kontaktierte ich den syrischen Komponisten und Emmy Nominé Kareem Roustom. Ich setzte mein Schreiben aus lauter Perspektivlosigkeit auf, denn ich hatte auf seiner Liste der Werke kein Klavierstück gesehen. Die prompte Antwort war voller Menschlichkeit. Er schrieb, dass er zwar kein Klavierstück hätte aber sehr berührt wäre von meinem Projekt und ein Stück für mich schreiben würde. Ich freue mich sehr darauf und bin gespannt was mich erwartet!

Und wenn ich dies nachtragen darf, beim Korrekturlesen dieses Interviews: Soeben, heute ist das neu komponierte Klavierstück von  Emmy Nominé Kareem Roustom hier bei mir angekommen!

Vor 4 Jahren hast Du im WDR in Köln bei der Veranstaltung des Exil-PENs zum Tag des inhaftierten Schriftstellers auch einige Klavierstücke des hierzulande kaum bekannten armenischen Musikers Komitas Vardapet  aufgeführt. Wer war Komitas?

Komitas Vardapet war ein armenischer Geistlicher, der Anfang des 20.Jahrhunderts in Westarmenien, der heutigen Osttürkei, lebte. Er war vielseitig begabt und studierte zunächst im Priesterseminar in Edschmiadzin (Katholikat). Dort erhielt er ein Stipendium für ein Promotionsstudium in Berlin. Für seine Dissertation machte er eine Studienreise nach Westarmenien, der heutigen Osttürkei, und sammelte armenische, aber auch kurdische, Volkslieder, die er dann neu interpretierte und in die Moderne überführte.  So wie Bela Bartok die osteuropäische – insbesondere ungarische und rumänische – Musik niederschrieb, weiterverarbeitete und somit vor Vergessenheit bewahrte, so konnte Komitas sein Wissen der westlichen Musik mit den Besonderheiten der armenischen Musik so verbinden, dass das Resultat mit seiner Reinheit, Schlichtheit und Authentizität bezaubert.

Dank seiner wertvollen Arbeit konnte die armenische Musik vor der Vernichtung und der Vergessenheit bewahrt werden. Dies konnte allerdings nicht verhindern, dass Komitas angesichts der Vernichtung der Armenier, in eine tiefe Psychose verfiel und nach 1915 psychisch nicht mehr in der Lage war seine Studien fortzusetzen.

Komitas hatte ein tragisches Schicksal. Am 24. April 1915 wurde Komitas im Rahmen der Verhaftungswelle gegen armenische Intellektuelle verhaftet. Seelisch soll er daran zerbrochen sein.

Der 24. April 1915 ist sozusagen der Nullpunkt der armenischen Geschichte. Das war der Tag, der die natürliche Entwicklung eines ganzen Volkes gewaltsam unterbrach. Ein Volk, das seit Jahrtausenden dort lebte, musste den Weg freimachen für die Ideologie einer ultranationalistischen Politik der damaligen Türkei. Am 24. April 1915 unternahmen Talat, Enver und Cemal Paschas eine  beispiellose Verhaftungswelle der gesamten armenisch-stämmigen Elite. Hunderte Schriftsteller, Journalisten, Musiker, Anwälte und Ärzte wurden deportiert. Darunter war auch Komitas – damals schon ein berühmter Geistlicher und Musiker in Konstantinopel. Dank der Intervention des US- Botschafters Henry Morgenthau und des türkischen Dichters Mehmet Emin Yurkadul kam Komitas, als einer der wenigen, frei und entging so dem Tod. Aber als einer, der die Hölle mit den eigenen Augen gesehen hatte, konnte er sich davon nicht erholen und verbrachte den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt in Paris.

Welche Bedeutung hat Komitas für die heutige armenische Musik?

Historisch war Armenien seit Jahrhunderten ein Zankapfel zwischen den Türken und den Persern. Selbstverständlich war dieser Einfluss anderer Kulturen überall zu spüren. Komitas, als einer der wichtigsten Träger der jahrhundertealten armenischen Musiktradition, schaffte es, die Melodien neu zu interpretieren und den Melodien den typisch armenischen Charakter zu verleihen. Die Wirkung seiner Kunst ist überall zu spüren. Die Dankbarkeit die er postum vom gesamten armenischen Volk für seine Leistungen bekommt, kann nicht hoch genug geschätzt werden.

An diesem Abend im WDR hattest Du auch ein Stück „Denge“ der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu aufgeführt. Ich habe gehört, dass sie dieses Stück bewusst als Türkin für Dich als Armenierin geschrieben hat.

Das Interesse mit Zeynep Gedizlioglu zusammenzuarbeiten war schon da bevor ich die Anfrage vom Exil PEN bekam. Als ich ihr davon erzählte, kam bald der Gedanke diesen Auftritt als Anlass dafür zu nehmen. Als das Stück zu Ende komponiert war, trafen wir uns und sie erzählte über ihre Gedanken und Gefühle. „Denge“ bedeutet auf Türkisch „Balance“. Einerseits ging es um den symbolischen Balanceakt zwischen ihrer und meiner Geschichte, andererseits um das Balancieren zwischen zwei Tönen (in dem Fall „h“ und „cis“)  auf denen das Ganze basiert. Ironischerweise ist der Ausgangspunkt von diesen zwei Tönen ein Disbalance – Gefühl des Tinnitus, in dem genau diese Töne entstehen.

Die Arbeit mit Zeynep war insofern sehr spannend, da wir beide das Gefühl hatten, dass wir tatsächlich von zwei Kulturen kommen, die viel Gemeinsames haben. Die musikalische Sprache von „Denge“ war mir überhaupt nicht fremd.

Im Rahmen Deiner musikalischen Forschungen anlässlich dieses wichtigen Gedenktages hast Du viele Details Deiner Familiengeschichte entdeckt, die Dir bisher unbekannt waren. Was magst Du davon erzählen?

Das Dorf meiner Vorfahren hieß Habusi und lag in der Zentraltürkei. Seit einigen Jahrzehnten steht es unter Wasser, da ein riesiger Staudamm gebaut worden ist. Dieser Umstand gibt mir das Gefühl als wären meine Wurzeln buchstäblich untergegangen.

Meine Familie war eine der größten Familien in dem Dorf. Ein Bruchteil davon hat überlebt und konnte fliehen. Deren Odyssee endete in Valence, einer kleinen Stadt bei Lyon, wo auch mein Großvater geboren wurde. Irgendwann entschied sich ein Teil der Familie zusammen mit einigen Nachbarn, die in Habusi auch schon Nachbarn waren, nach Sowjet-Armenien auszuwandern. Und da all diese Leute in das gleiche Viertel in Jerewan gezogen sind, sind sie bis heute Nachbarn.

Mit dem in Frankreich verbliebenen Rest der Familie konnte kein Kontakt nicht aufrechterhalten werden. Erst Anfang dieses Jahres habe ich per Zufall die Telefonnummer von einer Verwandten  in Valence gefunden und sie kontaktiert.

Das französische Stück in meinem Programm heißt „Suite française“ von Francis Poulenc. Es ist eine Sammlung von Tänzen aus verschiedenen Regionen Frankreichs des 16. Jahrhundert.

Ein Teil Deiner Familie stammt aus dem Südosten der Türkei gelegenen Stadt Van. In der Umgebung von Van haben früher auch viele Juden gelebt. Was ist Dir darüber bekannt?

Spätestens seit der Herrschaft des armenischen Königs Tigranes des Großen (140-55 v. Chr.) gab es viele Juden in der Region um Van. Und da meine mütterliche Seite teilweise aus Van stammt, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es auch Juden in der Familie gab.

Es gibt sehr vieles, was Armenier und Juden teilen. Nicht nur eine tragische Geschichte und große Diaspora.

Zum Gedenken dieses besonderen Jahres hast Du weitere Projekte geplant u.a. ein Projekt mit einem israelischen Cellisten. Aufführungen in Armenien und Israel sind geplant. Welche Stücke habt ihr dafür vorgesehen?

Vor einigen Jahren spielte ich einer israelischen Freundin ein altes armenisches Volkslied vor. Daraufhin meinte sie, dass wenn der Text nicht wäre, sie denken würde, dass es sich um ein sephardisches Lied handele. Mir kam daraufhin die Idee mit meinem israelischen Cello Partner Ira Givol ein Programm zusammenzustellen, indem wir armenische und jüdische Volkslieder sowie zeitgenössische Musik von Tigran Mansurian und Israel Sharon miteinander verbinden. Dieses für uns emotional sehr wichtige Programm werden wir erstmals in diesem Jahr am 22. April in Jerewan spielen. Dass dieser Auftritt überhaupt zustande kommen konnte, ist der Unterstützung des israelischen Honorarkonsulats in Armenien zu verdanken. Außerdem planen wir weitere Auftritte in Deutschland und Israel. [i]

Website von Nare Karoyan einschließlich Kontaktmöglichkeiten für weitere Konzerte:
http://www.narekaroyan.com/

Bevorstehende Auftritte:
http://www.narekaroyan.com/dch/demnachst.html

Musikalische Aufnahmen von Nare Karoyan 

http://www.narekaroyan.com/dch/opus.html
https://www.youtube.com/watch?v=YKQHyQz1aiA
https://www.youtube.com/watch?v=HaeGWZMFzeI
https://www.youtube.com/watch?v=tDAxC_pZUIw
https://www.youtube.com/watch?v=9VPirQyJX0w
https://www.youtube.com/watch?v=HEl1gW3OMrE

Weitere Armenien-Links:

https://www.hagalil.com/2015/01/18/hrant-dink/
https://www.hagalil.com/2015/03/09/ilias-uyar/
https://www.hagalil.com/2014/09/21/gedaechtnisraum/

[i] 22.04.2015 / 18:00 Eriwan, Cafesjian Center for the Arts (Armenien) Performing Arts Festival Yerevan
„Zwischen den Welten“, Ira Givol (Cello) & Nare Karoyan (Klavier): Armenische und Jüdische Folkslieder, Israel Sharon (*1966) – Desert Music, Tigran Mansurian (1939) – Sonate für Cello und Klavier nr. 2.