„Die antizionistische Rhetorik gilt nicht als antisemitisch“

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Dimitri Kravvaris schreibt seit 2009 für den Blog »Against Antisemitism« und dokumentiert regelmäßig antisemitische Vorfälle in Griechenland. Seit 2014 arbeitet er an dem europäischen Projekt »Watch: Antisemitism in Europe«. Die Jungle World sprach mit ihm über den Umgang der griechischen Linken mit Antisemitismus…

INTERVIEW: CAROLIN MOTHES
Jungle World v. 05.02.2014

Sie beobachten seit einigen Jahren antisemitische Vorfälle in Griechenland. Wie würden Sie die Situation der vergangenen Monate beschreiben?

In letzter Zeit ist eine rechtsextreme Gruppe namens »Unaligned Meander Nationalists« besonders aktiv. Sie ist gewaltbereit und verurteilt sogar die Neonazi-Partei »Goldene Morgenröte« als nicht radikal genug. In ihren Texten ist von der Notwendigkeit der »Vernichtung« der griechischen Demokratie die Rede. Ihre Angriffsziele sind Linke, Anarchisten und Juden. Sie attackierten bereits einige Lokale von linken Organisationen in Athen. Im Oktober 2012 schändeten sie das Denkmal für die ermordeten Juden von Rhodos und Kos und im vergangenen Herbst das Holocaust-Mahnmal in Athen. Anfang des Jahres bloggten sie »in Solidarität« ein Foto der vier Personen, die im Dezember 2014 die Mauer und den Haupteingang des jüdischen Friedhofs von Larissa mit antisemitischen Graffiti und Hakenkreuzen beschmierten. Auffällig ist, dass der griechische Staat gegen die Täter bisher absolut nichts unternommen hat, obwohl sich die Angriffe in der letzten Zeit häufen. Überdies wies der Sprecher der NGO »Greek Helsinki Monitor«, Panayote Dimitras, im November 2014 darauf hin, dass in Griechenland seit 1990 kein einziger Angriff auf Synagogen, Friedhöfe und Denkmäler aufgeklärt wurde, auch wenn Verdächtige gefasst wurden. Vielleicht kann die Regierung von Alexis Tsipras dieses Problem beseitigen, immerhin verurteilt seine Partei rechtsextreme und antisemitische Gewalt in Griechenland systematisch. Man sollte aber erst konkrete Ergebnisse abwarten.

Der Wahlsieger Syriza ging mit den »Unabhängigen Griechen« ein Querfront-Bündnis ein. Wie wird in der Gesellschaft diskutiert?

Wenn man die Kommentare auf Facebook beobachtet oder an alltäglichen Diskussionen teilnimmt, spürt man sofort die Enttäuschung, die Skepsis und die Ironie vieler Bürger angesichts der sehr schnellen Entscheidung von Alexis Tsipras, mit einer antieuropäischen, xenophoben und antisemitischen Partei zu koalieren. Einige Fernsehjournalisten versuchen hingegen, das widersprüchliche Regierungsbündnis als eine Notwendigkeit zu verkaufen und Panos Kammenos, den Vorsitzenden der »Unabhängigen Griechen«, als einen unproblematischen Partner zu präsentieren, der sich lediglich für das Verteidigungsministerium interessiere. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Syriza auch die Möglichkeit zur Koalition mit To Potami, einem Bündnis von proeuropäischen Linksliberalen, hatte. Stavros Theodorakis, der Vorsitzende dieser neuen Partei, hatte sich vor der Wahl bereit erklärt, mit Syriza Sondierungsgespräche zu führen. Dass Syriza eine solche Koalition sofort ablehnte, lässt sich dadurch erklären, dass sich in Griechenland bereits seit 2011 eine breite und informelle Koalition gegen das Memorandum formiert hat. An dieser Koalition – deren Hauptanliegen die Ablehnung jeglicher Reform im Namen der »Würde der Nation« ist – nahmen sehr heterogene Kräfte teil, wie Syriza, die Kommunistische Partei, die Kirche, die »Goldene Morgenröte« und die »Unabhängigen Griechen«. Der Kampf gegen »Merkel und die Spardiktate« oder die »fremden Mächte« und die überparteiliche Widerstandsrhetorik heben jede Trennung zwischen links und rechts auf.

Beide Parteien sind in der Vergangenheit auch durch antisemitische Äußerungen und Hetze gegen Israel aufgefallen. Wie werden solche Ausfälle in der griechischen Öffentlichkeit diskutiert?

Die antizionistische Rhetorik von Syriza wird in Griechenland nicht als antisemitisch wahrgenommen, sondern als eine legitime Kritik an der israelischen Politik. Die ehemalige Athletin Sofia Sakorafa nahm 2004 etwa die »palästinensische Staatsangehörigkeit« an, setzt im Europaparlament regelmäßig die Israelis mit den Nazis gleich und verteidigt den Widerstand gegen die »israe­lische Besatzung« mit allen Mitteln. Das griechische Fernsehen und ein großer Teil der griechischen Presse sehen den Nahost-Konflikt mit den Augen von Sofia Sakorafa. Sie identifizieren »die Palästinenser« mit dem machtlosen Guten und »die Israelis« mit dem Bösen, das seine Feinde zu vernichten versuche. In diesem Kontext ist es sehr schwierig, Antizionismus als Form des Antisemitismus zu thematisieren.

Wie interpretieren Sie das Wahlergebnis der »Goldenen Morgenröte«?

Trotz Verlusten bleibt die »Goldene Morgenröte« die drittstärkste Partei Griechenlands. Das ist ein unglaubliches Resultat, wenn man bedenkt, dass ihre führenden Mitglieder im Gefängnis sitzen. Es scheint, dass ihre Weltanschauung einen sehr großen Erfolg bei vielen jungen Wählern hat. Wähler, die die Neonazis nicht nur aufgrund ihrer Position gegen das Memorandum unterstützen wollen, sondern auch, weil sie die Idee der »Überlegenheit der griechischen Nation« aufrichtig teilen. Solche Mythen werden in griechischen Schulen seit je unterrichtet. Dem griechischen Bildungssystem ist es nie gelungen, das friedliche Miteinander innerhalb einer Demokratie, die Erinnerung an die Shoah als notwendige Bedingung für die europäische Identität und die Akzeptanz der Alterität zu thematisieren. Der Erfolg der »Goldenen Morgenröte« ist der Ausdruck dieses Versagens. Sie ist nicht vom Himmel gefallen und kann nicht als Produkt der Finanzkrise interpretiert werden. In der »goldenen Zeit« des Klientelismus und der Korruption konnten die Wähler zwischen der sozialistischen Pasok und der konservativen Nea Dimokratia entscheiden. Mit dem Memorandum ist diese Zeit definitiv vorbei und viele Wähler können nun zeigen, was sie wirklich sind, nämlich Sympathisanten der Gewalt, der Holocaust-Leugnung und der ­radikalen Xenophobie.

Wie nimmt die jüdische Bevölkerung die Entwicklungen wahr?

Heute leben in Griechenland ungefähr 5 000 Juden, vor allem in Athen, Thessaloniki und Larissa. In vielen Städten, wie Veria, gibt es keine jüdischen Gemeinden mehr und in anderen Städten, wie Ioannina, leben so wenige Juden, dass man von einem Überlebenskampf sprechen kann. Nach einer weltweiten Studie zum Antisemitismus, die von der Anti-Defamation League durchgeführt wurde, hegen 69 Prozent der griechischen Bevölkerung antisemitische Überzeugungen. Das ist der höchste Prozentsatz in Europa. Trotz dieser Realität zeigen sich viele griechische Juden zuversichtlich, etwa äußerte der Oberrabbiner Gabriel Negrin in einem Interview mit der Times of Israel, dass Griechenland den Umfrageergebnissen und »Goldener Morgenröte« zum Trotz ein »sicheres Land« für die griechischen Juden sei. Auf meinem Blog erhalte ich manchmal Kommentare von griechischen Juden, die die Situation in Griechenland mit den Entwicklungen in Paris oder Malmö vergleichen und meinen, Griechenland sei nicht so schlecht, wenn man bedenke, dass physische Angriffe auf Juden kaum zu verzeichnen sind. Vielleicht spielt der Bürgermeister von Thessaloniki auch eine positive Rolle, da er in den vergangenen Jahren das jüdische Leben enorm gefördert hat. Der Blogger ­Abravanel sieht die Situation eher kritischer: In seinen Beiträgen weist er darauf hin, dass Anti­semitismus in der griechischen Politik seit der Regierung Samaras sehr sichtbar geworden sei – notorische Antisemiten wie Adonis Georgiadis, der den Holocaust-Befürworter Kostas Plevris verehrt, durften Schlüsselpositionen in der Politik einnehmen. Die Regierung Tsipras werde diese Tendenz nicht in Frage stellen, denn er koaliert auch mit Antisemiten. Abravanel befürchtet zudem, dass die Regierung Tsipras dazu neigen würde, gegen Israel zu hetzen, da Syriza sich generell mit »den Palästinensern« identifiziere. Eine solche Hetze kann negative Auswirkungen für die jüdische Bevölkerung Griechenlands haben.

Die Beziehungen zwischen Griechenland und Israel wurden in der jüngeren Vergangenheit enger und sind für Israel auf verschiedenen Ebenen, allen voran in der militärischen Zusammenarbeit und der Energieversorgung, von großer Bedeutung. Was bedeutet die Wahl von Syriza für Israel?

Im Juli 2014 verurteilte Syriza in einer Pressemitteilung die Operation Israels in Gaza als »Verbrechen gegen die Menschheit« – die Hamas wurde darin gar nicht erwähnt. Zudem nahm Alexis Tsipras mit Kufiya behangen an einer Pro-Palästina-Demonstration teil. Kurz vor der Wahl versuchte er, sich von seinem eigenen Ra­dikalismus zu distanzieren. In einem Interview betonte er, die Beziehungen mit der arabischen Welt intensiveren zu wollen, ohne jedoch die guten Beziehungen mit Israel in Frage zu stellen. Tsipras will offenbar einen Kompromiss zwischen Pragmatismus und Ansichten über den Nahost-Konflikt erreichen, die in den achtziger Jahren in Griechenland sehr populär waren. Die damalige sozialistische Regierung von Andreas Papandreou identifizierte sich leidenschaftlich mit der Politik Yassir Arafats und erklärte Diktatoren wie Muammar al-Gaddafi zum Vorbild. Von dieser Politik und Rhetorik lässt sich Tsipras inspirieren.

1 Kommentar

  1. „Tsipras will offenbar einen Kompromiss zwischen Pragmatismus und Ansichten über den Nahost-Konflikt erreichen, “

    Alleine der Zusammenschluss mit der rechten »Unabhängigen Griechen« zeigt, dass man hier von „linken“ nicht sprechen kann. Außer, daß sie die typische antisemitische Haltung der „alten Linken“ eingenommen haben.

    So wie die jetzige Regierung auftritt darf, sogar gemäß deren Finanzministers, die EU ihnen kein Geld mehr geben.
    In anderen Worten: sie ist bezüglich Wirtschaft und den aktuellen, kapitalistischen System nicht kritisch sondern nur dumm gegenüber.

    Kyniker

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