Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“

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Der Terror stößt auf eine bereits zermürbte französische Zivilgesellschaft. Die dschihadistischen Mörder stellen ein chronisch verunsichertes Land vor eine besonders schwere Herausforderung…

Eine Analyse von Danny Leder, Paris

Hält die französische Gesellschaft stand oder zerreißt sie unter den Schlägen der winzigen Irrläuferkreise, die sich an der Schnittstelle zwischen gewalttätiger Stadtviertel-Bande, hoch gerüsteter Unterwelt und Web-inspirierten Dschihadismus bewegen? Das ist – jenseits der aktuellen französischen und globalen Empörung – die entscheidende Frage.

Zwar sind sämtliche politischen und gewerkschaftlichen Führer ebenso wie die religiösen Würdenträger und unter ihnen selbstverständlich auch die muslimischen zur Stelle, um die Einheit der Nation zu beschwören, aber die eigentliche Substanz der französischen Zivilgesellschaft, ihr aktivster und im weitesten Sinn humanistisch ausgerichteter Kern, zu dem auch „Charlie Hebdo“ zählt, wurde in den letzten Jahren verunsichert und zermürbt, seine Anhängerschaft schmolz dahin.

Die Gründe sind vielfältig. Mehrfache islamistische Anschlagswellen haben den Erfahrungshorizont mehrerer Generationen verdunkelt. Die antijüdischen Gewaltakte – von Übergriffen in Migrantenvierteln bis hin zum Feuerüberfall auf eine jüdische Schule in Toulouse 2012, bei dem ein junger Franko-Algerier drei Kinder und einen Lehrer aus nächster Nähe erschoss – haben die bereits schwächelnde Anti-Rassismus-Szene zerrissen. Und zwar zwischen jenen, die auf die antijüdischen Taten heftig reagierten, und jenen, die sich eher zurückhaltend zeigten, aus Sorge vor einer weiteren Stigmatisierung der bereits benachteiligten muslimischen Vorstadtjugend.

Tatsächlich sind die jungen Muslime – wobei es sich vielfach bereits um die zweite oder dritte Generation in Frankreich Geborener handelt – nicht die einzigen aber wohl unter den Hauptleidtragenden der seit 30 Jahren chronischen Krise des französischen Arbeitsmarkts. Das Ausblieben jeder diesbezüglichen Aufhellung hat nicht nur die Glaubwürdigkeit der regierenden Sozialisten,  sondern auch der Gewerkschaften und der zuvor amtierenden und ebenso glücklosen Bürgerlichen (unter Präsident Nicolas Sarkozy) schwerstens erodiert.

In diesem Klima gedeihen hier (bei den jungen Muslimen) religiöse Abkapselung und dort (bei der Mehrheitsbevölkerung) die Nationalistin Marine Le Pen. Umfragen weisen die Franzosen im weltweiten Pessimismus-Ranking  als Rekordhalter aus. Auf spektakuläre Weise haben auch nationalistische  Untergangspropheten in der Medienszene den ursprünglich einflussreicheren Intellektuellen des Zentrums und der Linken die Show gestohlen. Während in der Parallelwelt des Webs und der sozialen Netzwerke antisemitische Verschwörungstheoretiker und islamistische Einpeitscher ein hunderttausendfaches Publikum finden.

All diese Faktoren beeinträchtigen ein halbwegs vertrauensvolles Durchhaltevermögen der Bevölkerung. Darauf kommt es aber an, um nicht in die Falle der Dschihadistenführer zu tappen. Deren verrücktes Ziel ist die Aufsplitterung Frankreichs in ethnoreligiöse Bürgerkriegsparteien, ihr Vehikel ist der individuelle Terror durch Kleinstgruppen (wie bei den jetzigen  Attentätern), die auch durch die optimalste Behördenkontrolle nicht komplett ausgeschaltet werden können. Aber andererseits hat die französische Gesellschaft immer wieder ihre Regenerationsfähigkeit und Ressourcen in entscheidenden Phasen unter Beweis gestellt. Ein neuer Schulterschluss um die jüngsten Opfer ist denkbar: unter ihnen befanden sich auch drei Muslime – zwei Redakteure von „Charlie Hebdo“ und ein Polizist.