Die Kibbuzim

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Landwirtschaftliche Siedlungen als Geburtshelfer des jüdischen Staates in Palästina…

Von Jim G. Tobias

Historisch ist die Kibbuzbewegung untrennbar mit der Utopie einer nationalen jüdischen Heimstatt in Palästina verbunden und steht seit über hundert Jahren als Synonym für den real gewordenen Lebensentwurf eines kollektiven, freien und selbstbestimmten jüdischen Lebens in Erez Israel. Die ersten Konzepte hierfür wurden in Osteuropa entwickelt.

Rund 20 Jahre vor Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus, formulierten Frühzionisten wie etwa Aaron David Gordon oder Leon Pinsker die Idee jüdischer Siedlungen in Palästina. Hintergrund dieses Gedankens war die katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation der osteuropäischen Juden. Nur vereinzelt gelang es der jüdischen Minderheit, ihren Lebensunterhalt als Landwirt oder Handwerker zu verdienen. Gewöhnlich blieb ihr nur der Kleinhandel. Es herrschte bittere Armut in den klassischen Schtetl. Die immer wiederkehrenden Pogrome und der alltägliche Antisemitismus machten zudem jeden Versuch der Assimilation unmöglich.

Um der alltäglichen Ausgrenzung und Unterdrückung zu entfliehen, begaben sich bereits 1881 osteuropäische Juden auf den Weg nach Erez Israel. Dort wollten sie die „geistig-nationale Wiedergestaltung des hebräischen Volkes in Syrien und Palästina“ leben. Damit war die organisierte Alija geboren. „Die erste Welle der jüdischen Einwanderung veränderte die Situation der jüdischen Gemeinschaft von Grund auf“, schreibt der israelische Historiker Haim H. Ben-Sasson.

Bereits 1882 konnten die ersten landwirtschaftlichen Kolonien etabliert werden. Die Aktivitäten der Siedler waren aber von Misserfolgen und Rückschlägen gekennzeichnet. Allein mit Idealismus konnten die fehlenden Kenntnisse im handwerklichen und landwirtschaftlichen Bereich nicht ausgeglichen werden. Daher gründete man 1890 in Odessa die „Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien und Palästina“. Mit deren Hilfe konnte das Überleben der Siedlungen zunächst gesichert werden. Weiteren Beistand erhielten die Pioniere vom französischen Baron Edmond de Rothschild. Der bekannte Mäzen, auch „Vater des Jischuw“ genannt, finanzierte im großen Umfang den Ankauf von Land, ließ jüdische Farmen errichten und entsandte Spezialisten, die die Siedler unterweisen sollten. Doch das finanzielle Engagement des französischen Barons zeigte wenig Erfolg, weil die Kolonisten kaum Eigeninitiative entwickelten. Stattdessen beschäftigten sie arabische Tagelöhner auf den Feldern. Außerdem verschärfte die damalige osmanische Regierung als Reaktion auf die Gründung jüdischer Agrarkolonien die Einwanderungsbestimmungen rigoros. Den Immigranten blieb oft nur der Versuch, auf illegalem Weg ins Land einzureisen. Das Projekt geriet in eine ernsthafte Krise. Trotz der schwierigen Bedingungen glückte es um die Jahrhundertwende dennoch, einige Bauernhöfe in Palästina zu etablieren. Hier wurden die Siedler geschult und mit neuen landwirtschaftlichen Methoden vertraut gemacht. Mit der zweiten Alija, die zwischen 1904 und 1914 etwa 40.000 Einwanderer nach Palästina brachte, gelang der entscheidende Durchbruch des Versuches einer nationalen Wiedergeburt. Die Neuankömmlinge, die vor Pogromen aus Osteuropa flüchteten, waren zwar Anhänger sozialistischer Ideen, ahnten aber, dass eine siegreiche Revolution in Russland nicht das Ende der Unterdrückung der Juden mit sich bringen würde. Auch der junge David Grin, der später als David Ben-Gurion den Staat Israel proklamieren sollte, vertrat diese Meinung: „Sie kamen aus Verzweiflung nach Palästina. Sie betrachteten Erez Israel als das Ende ihres Weges, als letzte Zuflucht“. Vertreter der zweiten Alija gründeten 1909 mit dem Kibbuz Degania die erste Kollektivfarm in der Nähe des Sees Genezareth.

Der Kibbuz Degania in der Anfangszeit. Foto: Archiv Degania
Der Kibbuz Degania in der Anfangszeit. Foto: Archiv Degania

Der Zusammenschluss der frühen Pioniere war der erste Schritt in eine neue Gesellschaftsordnung, die auf einer sozialistisch geprägten Zukunftsvision und auf jüdischem Geschichtsbewusstsein basierte. Nicht mehr das Blut sollte bestimmen, wer zu einer Familie gehörte, sondern die freie Vereinigung und die gemeinsam angestrebten Werte. Ferner betonte die Bewegung den besonderen Status der Arbeit. Körperliche Arbeit bedeutete nicht nur Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern wurde als eigenständiger ethischer Wert betrachtet. Der Grundsatz der „jüdischen Arbeit“ schloss eine Beschäftigung von Lohnarbeitern aus. Ein wichtiger Führer und tätiges Vorbild dieser Idee war Aaron David Gordon. Er kam 1904 nach Palästina und lebte ab 1909 bis zu seinem Tod 1922 im Kibbuz Degania. Seiner Auffassung nach werden die Menschen insbesondere durch die landwirtschaftliche Arbeit zu Brüdern und mit deren Hilfe geistig genesen. Zudem glaubte Gordon an die erlösende Kraft der hebräischen Sprache. Es zeigte sich bald, dass die Kibbuzidee ein Erfolg werden sollte. Ende der zwanziger Jahre lebten bereits 4.000 Juden in Kibbuzim. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges umfasste die Bewegung rund 25.000 Menschen. Das entsprach etwa fünf Prozent der jüdischen Bevölkerung in Erez Israel. „Nach zwei Jahrzehnten hatte der Kibbuz die Experimentierphase überwunden und war volljährig geworden“, beurteilt der deutsch-jüdische Historiker Walter Laqueur die rasante Entwicklung. Die landwirtschaftlichen Kommunen spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des jüdischen Gemeinwesens.

Palästina wird englisches Mandatsgebiet

Nach dem Ersten Weltkrieg ging die osmanische Herrschaft in Nahost zu Ende. Mit der neuen englischen Oberhoheit über Palästina und der am 2. November 1917 veröffentlichten „Balfour Declaration“ begann eine neue Ära für die jüdische Siedlungsbewegung. Mit dieser Erklärung erkannte der englische Außenminister Lord Arthur James Balfour das Recht des jüdischen Volkes auf eine nationale Heimstätte in Palästina an. „Die Regierung seiner Majestät betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina wohlwollend und wird größte Anstrengungen unternehmen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern.“ Für die zionistische Bewegung bedeutete die Balfour-Erklärung einen wichtigen Schritt in Richtung Staatsgründung. Bis Ende der zwanziger Jahre brachten mehrere Einwanderungswellen knapp 100.000 Juden ins Land. Theodor Herzls 1896 formulierte Vision schien wahr zu werden: „Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen“, schrieb er in seinem Buch „Der Judenstaat“. Die massive jüdische Zuwanderung führte jedoch zu ernsten Auseinandersetzungen mit der einheimischen arabischen Bevölkerung in Palästina. Durch die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland 1933 wurden weitere Juden zur Emigration nach Erez Israel gezwungen, sodass die Konflikte zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung zunahmen. Als die Proteste der Araber in offene Rebellion umschlugen, schraubten die Briten die legale jüdische Zuwanderung immer mehr herunter; obwohl zehntausende Emigranten ungeduldig auf ihre Visa warteten. Als Gegenmaßnahme verstärkten die zionistischen Organisationen die klandestine Einwanderung. „Einige von ihnen gelang es, erfolgreich die Blockade zu überwinden, andere wurden entdeckt und festgenommen. 1939 kamen etwa 11.000 illegale Immigranten.“

Der sich abzeichnende Krieg mit dem Deutschen Reich veranlasste die Engländer bald zu einer grundlegenden Wende in ihrer Palästinapolitik. Man wollte die Araber als Verbündete gewinnen und eine offene Feindschaft mit ihnen auf jeden Fall verhindern. Die englische Regierung revidierte im Mai 1939 ihre in der „Balfour Declaration“ gemachte Zusage und reglementierte den weiteren Zuzug jüdischer Immigranten rigoros. Das sogenannte White Paper verfügte, dass für die nächsten fünf Jahre maximal 75.000 Juden nach Palästina einreisen durften. Danach sollten weitere jüdische Siedler nur noch mit dem Einverständnis der Araber ins Land gelassen werden. Der Jischuw protestierte aufs Schärfste. David Ben-Gurion schrieb: „Der größte Verrat, den die Regierung eines zivilisierten Volkes unserer Generation begangen hat, ist mit der Kunstfertigkeit von Experten für Hinterlist und vorgetäuschter Rechtschaffenheit formuliert und erläutert worden.“ Bereits vor dem Erlass des „White Papers“ war die Immigration durch eine Fülle von Vorschriften reglementiert. Die britische Mandatsmacht versuchte beispielsweise, über Einwanderungszertifikate den Zustrom zu steuern. Nur wer ausreichende finanzielle Mittel vorweisen konnte, war kaum Einschränkungen unterworfen. Viele verfügten aber nicht über die geforderte Summe von 1.000 Palästina Pfund. Diesen Menschen blieb nur der Weg, über ein sogenanntes Arbeiterzertifikat nach Palästina zu gelangen. Mittels dieser Urkunden lenkten die Briten die Einwanderung gemäß ihrer wirtschaftlichen und politischen
Interessen. Im Allgemeinen konnten die Einreisewilligen aber nicht die geforderte Berufsausbildung oder gleichwertige handwerkliche Fertigkeiten vorweisen. Damit auch diese Menschen eine Chance zur Einreise erhielten, entschloss sich die Jewish Agency entsprechende Fortbildungskurse anzubieten.

Die Hechaluz-Bewegung

Eine wichtige Rolle bei der Weiterbildung oder Umschulung der zukünftigen Palästinasiedler spielte die Hechaluz-Bewegung, wie Walter Laqueur schreibt: „Die Organisation der jungen jüdischen Pioniere bereitete eine ganz Diaspora-Generation auf ein Leben körperlicher Arbeit in Palästina vor.“ Die Wurzeln dieser Organisation lagen in Russland. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde die – in den Augen der Sowjets konterrevolutionäre, weil jüdisch-nationalistisch ausgerichtete – Vereinigung unterdrückt. Das Zentrum der Bewegung verlagerte sich nach Westen. Bereits in den frühen 1920er Jahren eröffnete der Hechaluz Büros in Berlin und Warschau. 1923 zählte der internationale Verband über 5.000 Mitglieder, fünf Jahre später 8.000. Zu einer zionistischen Massenbewegung entwickelte sich der Hechaluz in den 1930er Jahren. Zu dieser Zeit waren weltweit rund 80.000 Pioniere registriert. Mancher Farmer war verblüfft angesichts des Anblicks jüdischer Stadtkinder, die verzweifelt versuchten Kühe zu melken, Mist zu schaufeln und andere schwere Arbeiten zu verrichten.

Auf einer Hachschara in Deutschland (1920er Jahre)
Auf einer Hachschara in Deutschland (1920er Jahre) Foto: Israel Free Image Collection Project (Public Domain)

Die Kibbuzbewegung im NS-Staat

Der deutsche Hechaluz zählte 1934 annähernd 14.000 Mitglieder. Aus einem Bericht der jüdischen Reichsvertretung geht hervor, dass auf insgesamt 26 landwirtschaftlichen Gütern 1.000 Chaluzim in Deutschland ausgebildet werden konnten. Hinzu kamen weitere 18 Auslands-Hachscharot etwa in Belgien, Holland, Frankreich und Schweden mit 920 Plätzen. In den ersten Jahren zeigte sich der NS-Staat mit den Umschulungsmaßnahmen und der damit verbundenen Auswanderung einverstanden. „Die Tätigkeit der zionistisch eingestellten jüdischen Jugendorganisationen, die sich mit der Umschichtung zu Landwirten und Handwerkern zum Zwecke der Auswanderung nach Palästina befassen, liegt im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung. Es obliegt natürlich zu prüfen, ob die Umschichtung auch tatsächlich mit dem Ziele der Auswanderung erfolgt“, ordnete Reinhard Heydrich, SD-Leiter und späterer Chef des Reichssicherheitshauptamtes in einem Rundbrief an alle Polizeidienststellen an. Mit der Zeit änderten die Nazis ihre „wohlwollende“ Haltung und unterwarfen die Hachscharot-Kibbuzim immer stärkeren Restriktionen. Auch das Ausweichen auf Auslands-Bauernhöfe bot nur bis Kriegsanfang eine Alternative. Nachdem die Deutschen fast ganz Europa besetzt hatten, wurden die Hachscharot geschlossen. Alle arbeitsfähigen Juden mussten Zwangsarbeit leisten und die Nazis wandelten die noch bestehenden deutschen Kibbuzim in „Wohngemeinschaften für jüdische Zwangsarbeiter“ um. Ein Überlebender der Hachschara in Steckelsdorf bei Rathenow (Brandenburg) beschreibt die Situation wie folgt: „Die Verwandlung der Palästina-Vorbereitungsschule in ein Arbeiterlager legte uns erhebliche Anstrengungen auf. Nicht allein der Hunger setzte uns zu, auch die Kleidung und das Schuhwerk wurden schneller abgenutzt. Dafür gab es keinen Ersatz; Juden erhielten keine Kleiderkarte.“ Wie Steckelsdorf wurden ab 1942 alle Einrichtungen nach und nach aufgelöst und die Männer und Frauen in den Osten verschleppt. Eine Gruppe von etwa 160 Juden wurde von der letzten bestehenden Hachschara in Neuendorf im April 1943 nach Auschwitz deportiert.

Die Kibbuzidee lebt

Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus reorganisierten die wenigen Shoa-Überlebenden die zerschlagene Tradition der Hachschara-Bewegung. Nur einige Wochen nach Kriegsende entstand Anfang Juni 1945 bereits ein Trainingskibbuz auf einem großen Landgut in der Nähe von Weimar. „Sechszehn Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald gründeten den ersten Trainingskibbuz im befreiten Nachkriegsdeutschland“, schreibt die israelische Historikerin Judith Baumel. Im Sommer übersiedelten die Chaluzim nach Hessen und richteten sich auf einem Gehöft in Geringshof bei Fulda ein. Dieses Anwesen beherbergte schon vor dem Krieg eine Hachschara und existierte als Trainingskibbuz Buchenwald bis Herbst 1948. Gut ein halbes Dutzend Gruppen mit jeweils etwa 80 Personen immigrierten nach Abschluss ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung nach Palästina. Einige Kibbuzniks gründeten 1948 die heute noch in Israel bestehende Gemeinschaftssiedlung Nezer Sereni.

Mitglieder des Kibbuz Buchenwald in Geringshof
Mitglieder des Kibbuz Buchenwald in Geringshof. Repro: nurinst-archiv

Nicht wenige der überlebenden europäischen Juden träumten schon vor dem Krieg vom Kibbuzleben in Erez Israel. Angesichts des Shoa entwickelten die Davongekommenen nun eine fast religiöse Palästinasehnsucht und konnten manchen Leidensgenossen für ihre Ideen begeistern. Nach einer Erhebung vom April 1947 machten die Kibbuzniks etwa zwölf Prozent der DP-Bevölkerung in Westdeutschland aus. Nur mit der Gründung eines eigenen Staates war nach Überzeugung der Scheerit HaPlejta eine erneute Katastrophe zu verhindern. Einzig mit der Einrichtung bäuerlicher Gemeinschaften könne das Land erfolgreich weiter besiedelt werden, so ihre Meinung. Dadurch würden Arbeitsplätze und Wohnraum geschaffen, die in den wenigen Städten Palästinas nicht zu realisieren waren. Die Errichtung von Kibbuzim in unmittelbarer Nähe zu arabischen Dörfern diente aber auch zur militärischen Absicherung der jüdischen Territorien. Die Kollektivfarmen hatten somit gleichfalls die Funktion von „Wehrdörfern“. Alle diese Gegebenheiten wurden auf den rund 40 Nachkriegs-Hachscharot-Kibbuzim in der US-Zone mit berücksichtigt und bestimmten die konkrete Schulung ihrer Bewohner.