Katzengesang und Eselsgeschrei

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Erzählungen aus Israel…

Von Gertrud Seehaus

Es war nichts als der Schrei eines Esels gewesen. Aber schon drang ein neuer Schrecken in sie ein. Jeden Tag kam jetzt ein neuer Schrecken dazu. Mitten im schönsten Sonnenschein fühlte Lydia sich von Ängsten angerührt, die ihre kalten, dürren Finger auf sie legten. Das langte aus irgendeinem Dunkel zu ihr hin, und sie hatte zuerst gedacht, sie könne es zurückbannen – in die Nacht, in die Träume, in die meist verschlossenen Fächer ihres Ichs, deren Schlüssel sie sorgsam vor Tag und Helligkeit versteckt hielt. Aber das war wie ein Druck hinter diesen verschlossenen Türen, sie sprangen am helllichten Tag auf, als gäre es dahinter.

Lydia fühlte ihr Inneres nach außen dringen, und das Außen drang in sie ein. Die Grenzen verwischen sich. Sie hörte den Schrei jetzt wieder, konnte aber das Tier nicht sehen. In der Stadt und in der Umgebung hatte sie Esel gesehen, die mit dem Mehrfachen ihres Körpergewichts beladen waren. Über und über mit Schwären bedeckt, standen sie in einer Starre, als bluteten sie nach innen in einem Leiden, das sich vor der Welt verschloß.

Es mußte, dachte sie, vor Jahrtausenden eine Übereinkunft getroffen worden sein – über Kontinente und Weltmeere hinweg – daß man Esel beladen könne. Nicht nur mit Lasten. Irgendwann mußte jemand begonnen haben, die grauen Tiere mit dem Leid der Welt zu beladen, und dann war es für alle Zeiten an ihnen hängengeblieben. Ihre Haut blieb bedeckt mit eitriger Krätze, die sie stellvertretend trugen für die Menschen, die sich ihrer ein für allemal bemächtigt hatten. Den Tieren war nichts Eigenes mehr geblieben, nicht einmal ihre Haut. Oder vielleicht diese Starre, die sie nur in einem mit keinem anderen vergleichbaren Schrei lösen konnten. Vielleicht, dachte Lydia, hatte einer zuerst diesen Schrei gehört, vor Tausenden von Jahren, und der Schrei hatte verraten, daß das Tier zu beladen und zu schinden sei, und daß die Möglichkeit zu leiden in ihm angelegt war wie in keiner anderen Kreatur.

Vor einem Monat war sie mit Paul in Jordanien gewesen. In der Schlucht von Petra waren sie von den Pferden abgestiegen, um das Relief des Tempels zu sehen, die aus dem roten Stein gehauenen Säulen. Aber was sie zuerst sah, war das in seinen Widerstand eingeschlossene Tier, die Fußtritte des Beduinen in seine Flanke. Er trat mit berserkerhafter Wut, immer wieder, konnte gar nicht mehr aufhören, die hellen Gewänder flatterten.

Sie mußte sich die Fäuste auf die Augen drücken, aber das nützte nichts, denn nun schrie das Tier. Es war ein Schrei, der die Luft zerriß, die Talsenke füllte. Irgendwann, hatte sie gedacht, mußten alle diese Kreaturen getröstet werden, irgendwo mußte ein anderer Ort für sie sein. Sie war empfänglich geworden für diese Dinge, seit der Winter ohne Vorwarnung hereingebrochen war. Und ohne Vorwarnung hatte er sie der Leichtigkeit des Sommers beraubt. Auch im Sommer hatten die Esel ihre Lasten getragen, hatten sie ihre heiseren Schreie unter den Fußtritten Halbwüchsiger ausgestoßen. Aber in der Sonne war ihr die Grausamkeit weniger grausam erschienen, oder war sie gleichgültiger gewesen, oder hatte sie sich mit anderen Dingen befaßt, die diese zugedeckt hatten. Dann hatte es plötzlich in Jerusalem diesen Tag schnell schmelzenden Schnees gegeben, und reißende Sturzbäche waren durch die abfallenden Altstadtgassen geschossen. Sie und Paul hatten begonnen, die provisorische Wohnung winterfest zu machen, hastig, als gelte es, sich gegen mehr als nur die Kälte zu schützen. Sie hatten Teppiche in der fast menschenleeren Altstadt gekauft, hatten in einem der wenigen offenen Läden bunte Decken erstanden, um die Betten zu warmen Höhlen zu machen, in denen es sich würde überwintern lassen, in denen sie mit ihren Träumen überdauern würden.

Der Winter war schwer gewesen und unerwartet düster. Nachts hatte Lydia die Katzen schreien hören. Sie hatten auch den Sommer über geschrien, aber jetzt schrie eine eigene kleine unterdrückte Stimme in den Katzenschreien mit. Oft wurde sie im Dunkeln wach und hatte nasse Wangen, und etwas preßte ihr Herz zusammen und drosselte ihren Atem, und sie wußte, sie war im Schlaf an einem bedrohlichen Ort gewesen.

Im Winter hatte die grauweiße Straßenkatze, die von der alten Frau im ersten Stock mit Abfällen gefüttert wurde, einen Wurf Junge bekommen. Manchmal, wenn Lydia spätabends mit Paul nach Hause kam, lag die Katze mit ihren Jungen auf der angeketteten Fußmatte unterhalb der Treppe oder auf dem noch warmen Blech eines der untergestellten Autos. Sie stoben von der Fußmatte oder vom Autoblech weg, sobald jemand auftauchte. Lydia sah die kleinen dreckigen Gesichter dann hinter einem Mülleimer, unter einem Kotflügel verschwinden. Sie wollte, daß die Katze mit ihren Jungen liegenblieb und ging deshalb manchmal sehr vorsichtig, aber immer rannten sie davon.

Selbst die Kleinen hatten schon ihre Lektion gelernt. Nach einiger Zeit hatte sich die Anzahl der Jungen verringert. Lydia hatte sie nie gezählt, aber es mußten mehr als drei gewesen sein. Dann waren es nur noch zwei, und am Ende blieb eines übrig, das sich eng an die Mutter schmiegte. Das war, was man den Lauf der Welt nannte, aber Lydia schien es ein Drama zu sein. Wo waren die anderen? Waren sie überfahren worden, waren sie entlaufen und hatten sich verirrt, hatten sie Gift gefressen? Sie sah die unergründlichen kleinen Gesichter im Traum, wenn die Schreie ihren Weg durch die offene Höhlung des Treppenhauses in ihren unruhigen Schlaf fanden.

Lydia erinnerte sich jetzt des Winters, als habe es darin lauter Zeichen gegeben, die auf etwas hindeuteten. Einmal, das mußte Ende Januar gewesen sein, war sie mit Paul zum armenischen Restaurant hinter dem Jaffator geschlendert. Sie mußten bald ihre Hände loslassen, denn die kleine, schlammige Gasse war ausgehöhlt wegen Erdarbeiten, und sie balancierten vorsichtig über ausgelegte Bretter, die sich unter ihnen bogen. Am Ende der Gasse war eine Mauer, und da sah sie es: Zwei Jungen hatten etwas an einem Seil befestigt und schlugen es weitausholend gegen die Wand. Ein Laut wie ein Schrei zerplatzte in der Luft. Es war wie das Zerbersten einer ekelerregenden, unbekannten Materie. Sie stand auf dem Brett, mit den Händen in der Luft, und es war, als schwanke alles um sie herum.

Reglos stand Paul auf einem anderen Brett und starrte wie sie auf den blutigen rötlichbraunen Katzenkadaver. Heiser flüsterte sie: Wie können sie nur so grausam sein? Eine müßige Frage war das. Sie selbst war grausam. Alle waren grausam. Die Luft war erfüllt von zerrissenen Schreien. Jeder menschliche Schritt ging über Anhäufungen blutiger Kadaver. Manchmal sah oder ahnte sie diesen blutigen Untergrund friedlicher Bilder.

Sie hatte viel in der Bibel gelesen in diesem Jahr. Gelegentlich hatte sie, das Heilige Buch in der Hand, in der wuchtigen Sprache der Jeremiaden laut zu Paul ins andere Zimmer hinüberzitiert. Immer schon war die Stadt voller Klagen gewesen, und die Mauern hatten nichts entweichen lassen, so daß vielleicht heute noch die Steine schrien, die Mauern seufzten und flüsterten.

Auf der blauweißen Matratze in der leergeräumten Wohnung lag die schwarze Katze mit ihrem übriggebliebenen Kleinen, den sie Flitzer genannt hatten, weil er immer vorweg war und schneller als die anderen drei, die schon untergebracht waren. Die Sonne fiel ungehindert durch die vorhanglosen Fenster auf Mutter und Sohn. Sie saß auf dem Boden des leeren Zimmers. Die Möbel waren abgeholt, die Bücher verstaut, das Geschirr verpackt.

Sie sah auf die beiden schwarzen Kreaturen, die im Frieden waren mit der Welt und mit sich. Sie würde es sein, die ihnen den blauweißen Untergrund, den Streifen Sonne und die Gemeinsamkeit raubte. Eine Stunde noch, dann würde sie den Kleinen packen und wegbringen.

Sie konnte es nicht ändern, daß in letzter Zeit jedes Bild diesen dunklen Untergrund bekam, jedes Ding eine Geschichte, in der die Geschichten der Welt verborgen waren. Das strengte sie an, so daß sie manchmal, wie jetzt, gegen ihre Tränen ankämpfen mußte, die sie niemanden hätte erklären können, der diese Katzen nicht so sah wie sie – zwei fröhliche Kreaturen, deren Geschick sie bestimmte, deren Frieden sie stören würde.

So stellte sie sich immer noch einen Gott vor: Er saß in seinen Wolken, wie sie auf diesen Fliesen saß. Er sah auf die Menschenameisen wie sie auf diese Katzen. Er bewegte seinen göttlichen Willen oder seine Gedanken oder seine unsichtbaren Hände und änderte damit die Schicksale ahnungsloser Menschen, schleuderte Krankheiten und Tod in die Welt, ließ Trennung und Verrat entstehen, brachte die Menschen zum Zerbrechen in Sünde und Angst. Das war ihr Kinderglaube, und das glaubte sie immer noch.

Sie streichelte das weiche schwarze Fell der Tiere. Ihre Hand machte die sanften Bewegungen, in ihrem Herzen war schon Verrat. Das Telefon läutete. Paul duschte und hörte das Klingeln nicht. Sie ging nicht hin, hob nicht ab – ein Protest, der niemandem etwas nützen würde. Kein Protest würde groß genug sein gegen diesen Zwang zum Bösen. Das war das Eigentliche, Schlimme, Hassenswerte an dieser Welt, daß sie zum Bösen zwang – zum Betrug, zum Verlassen.

Noch immer streichelte ihre Hand das Tier, doch in einer Stunde würde sie das letzte seiner Kleinen in eine Tasche stecken und ein paar Straßen weiter bringen – zu Leuten, die es für H. verwahren würden, der gerade in Europa war. Abends würde die Alte maunzend durch die Wohnung streichen und ihr letztes Kind suchen. Am nächsten Tag würde auch sie ins Auto verfrachtet werden und in Haifa in einem Garten landen, wo ihre Zukunft als Straßenkatze beginnen würde. Sie würde unter einem Balkon ihr Fressen aus Abfällen bekommen wie all die anderen, würde sich mit ihnen um die Brocken zanken müssen, würde eine Erinnerung bewahren an warme Kissen, gutes Fressen und die überschwängliche Fürsorge vergangener Zeit, in der bereits Verrat gesteckt hatte.

Lydias Augen waren jetzt wirklich naß, aber sie wollte nicht, daß Paul das sah, der in ein Handtuch gewickelt hereinkam. Seine Füße machten kleine Pfützen auf den glänzenden Bodenplatten. Er verrät mich, wie ich ihn verrate, dachte sie unwillkürlich, wie jeder jeden verrät, weil es daraus keinen Ausweg gibt.

Wie schlecht sie aber ertrug, daß es Kreaturen gab, die an diesem Verrat keinen Anteil hatten. Sie sah die Tiere in jener Schuldlosigkeit, die ihr selbst aufgrund irgendeines Fehlers im Universum nicht zuteil geworden war. Vor einem Jahr, auf dem Ausflug nach Timna zu den Kupferminen König Salomons, hatte sie die kleine Katze wohl nicht nur gerettet, um ihr den Tod zu ersparen. Sie nahm ja den Tod vieler Tiere hin, zertrat Würmer, erschlug Fliegen, aß vom Fleisch getöteter Tiere. Wahrscheinlich war schon da der Wunsch in ihr gewesen, sich auch in diesem einen Jahr mit einem schuldlosen Wesen zu umgeben. Zu Hause in Deutschland hatte sie einen kleinen Hund gehabt. Sie wollte nie zu weit von jenem Wissen entfernt sein, daß es Wesen gab, die ohne Täuschung waren. Aber vielleicht bestand gerade darin die Täuschung: ihre Sehnsucht nach Unschuld sah diese Unschuld in andere Kreaturen hinein, deren Sprache sie zum Glück nicht verstand.

Solange sie ein Tier um sich herum hatte, war es leichter, gut zu sein. Was immer sie sonst auch tat, solange sie einen Hund oder eine Katze hatte, konnte sie die Hand ausstrecken zu einem Streicheln, konnte sie einen Freßnapf mit gutem Fressen füllen, konnte sie eine Kiste mit weichen Tüchern auslegen, konnte sie spüren, daß sie ein Mensch war mit der Fähigkeit zum Guten.

Wir müssen Esther anrufen, um zu sagen, daß wir Flitzer bringen, sagte Paul und kämmte sich die nassen Haare an den Kopf. Machst du die Tasche fertig? Sie erhob sich schwerfällig. Es könnte ganz einfach sein zu sagen: Wir nehmen die Katzen mit. Es wird unbequem sein, aber wenn wir wollen, wird es gehen. Aber er wird ihr klarmachen, daß es einfach nicht ginge. Sie drehte sich um, ging auf die rückwärtige Veranda, um die Tasche zu holen und zu entstauben. Wie tausende Male in ihrem Leben würde sie etwas tun, was sie weder wollte, noch richtig fand. Sie würde den Verrat, gegen den sie sich sträubte, ruhig und vernünftig ausführen. Ihre Hände arbeiteten, während etwas in ihrem Innern weitermurmelte, daß die Welt voller Morde sei, weil die Menschen, obwohl sie nicht schießen wollten, ihre Gewehre nicht wegwarfen, daß die Welt voller Verlassener sei, weil die, die sie verlassen hatten, den unsinnigen Satz gesagt hatten: Es geht nicht anders.

Die Tasche war voller alter Zeitungen, die er das Jahr über gesammelt hatte, Informationen, die er nie wieder ansah. Sie zerrte das vergilbte Papier aus der Tasche und zerknüllte es mit all dem Nachdruck, den sie nicht in die Weigerung eingehen ließ, die Katzen wegzugeben.

Alles, was wirklich wichtig war in ihrem Leben, schien ihr plötzlich geordnet nach einer Vernunft, die sie dem besseren Wissen in sich abgetrotzt hatte – dem Wissen des Gefühls, das immer, vor dem Wissen der Vernunft dagewesen war, untrüglich, und genau. Wissend, was sie tun sollte, tat sie das andere. So war sie.

Wieder läutete das Telefon. Esther war am Apparat, denn sie hörte Paul sagen, gleich, jetzt gleich, sie macht schon die Tasche zurecht. Sie ging in die Diele und hielt ihm die Tasche hin, nahm Zipora, die Katze, auf den Arm und ging in ein anderes Zimmer, während er Flitzer in die Tasche packte. Sie hörte die Tür ins Schloß fallen. Sie ließ Zipora los. Der Kühlschrank würde erst morgen abgeholt werden. Sie hatte zwei Flaschen Sauvignon hineingetan. Auch Käse und Oliven waren noch da. Sie breitete vor der Matratze Papierservietten aus und stellte Gläser hin. Sie wollte nachher mit Paul hier sitzen. Sie würden Abschied nehmen – von der Wohnung, von der Stadt, von diesem unruhigen Jahr. Er hatte ihr die Entscheidung für die Katzen abgenommen, damit sie sich weniger schlecht fühlte. Sie schob ihm oft solche Pflichten zu, deckte ihn mit der Verantwortung ein für alles, was nach Verrat roch.

Der Sonnenstreifen wanderte. Es war still in der Wohnung. Morgen früh würde auch der alte Herd abgeholt werden, dessen Tücken sie gerade alle kannte. Dann würden sie die Matratzen wegbringen. Die Pflanzen waren schon verschenkt. Es war nicht mehr viel zu regeln. Sie würden Zeit haben für ihren Abschied. Das hatten sie so eingerichtet, daß sie ihr gefülltes Glas dem mit Lichtpunkten übersäten Hügel entgegenhalten und le chaim und Schalom sagen würden, vor allem aber: nächstes Jahr in Jerusalem.

Das Telefon klingelte wieder. Nein, sagte sie, wir haben leider keine Zeit mehr. Deborah lud sie auf einen letzten Drink ein. Ein Jahr war eine lange Zeit. Ein Jahr war eine kurze Zeit. Ein Jahr war Zeit genug gewesen, eine Katze an die eigene Hand zu gewöhnen, so zu tun, als könnte alles für immer sein. Ein Jahr war Zeit genug gewesen, viele Geschichten zu hören. Sie hatte sich in jeder dieser Geschichten gesucht, und sie hatte sich in jeder gefunden.

Sie schloß die Augen, weil die Sonne genau gegenüber war. Plötzlich waren sie da – die Bilder vom getretenen Esel, vom Katzenpaar, das den Verrat noch nicht ahnt. Und von irgendwoher, von ganz weit, kamen jene anderen Bilder, die sich hier befreit hatten aus dem Wust von Lügen, mit denen sie zugedeckt gewesen waren.

Schattenhafte Gestalten kamen auf sie zu. Beichten waren erfunden worden, Absolutionen, damit sie ihren Sauvignon trinken konnte, damit die Welt zu ertragen war, wie sie war – mit den heiseren Schreien getretener Esel und den Todesschreien der an die Wand geschmetterten Katzen. Es schrie aus den Seiten der Geschichtsbücher, es schrie aus den Berichten der Zeitung. Es schrie unablässig, und dennoch weit weg von ihr und Paul und den Freunden.

Aber in der Nacht oder wie jetzt, bei geschlossenen Augen, war alles ganz nah.

Erschienen in: VIA REGIA – Blätter für internationale kulturelle Kommunikation Heft I/ 11 Juni 1993, herausgegeben vom Europäischen Kultur- und Informationszentrum in Thüringen.
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