Fast „unsichtbar“ – Juden in der SBZ/DDR 1945–89

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In der Forschung wie in der populärwissenschaftliche Literatur und den Medien der DDR waren die eigenen Juden eine Art weißer Fleck in der Landschaft. Ihre Situation lässt sich gut an dem ablesen, was in der DDR über sie publiziert wurde: Nämlich fast nichts. Bis zum Ende der 70er Jahre gab es hier Juden eigentlich nur im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus…

Von Judith Kessler

Eine Ausnahem sind hier die erst 1999 vollständig erschienenen Beschreibungen der Nachkriegssituation von Victor Klemperer – eine seismographische Alltagschronik, die vieles von den Widersprüchen und Dilemmata dieser Zeit aufscheinen lässt, von den Zweifeln und Enttäuschungen des getauften Juden, der sich dem Kommunismus, der Partei und der DDR zugewandt hatte und hier doch schon fast täglich Beispiele für die »LQI«, die »Sprache des Vierten Reiches«, sammelte.

Neben Erinnerungen einiger (meist kommunistischer) Juden wie Max Seydwitz, Arnold Zweig oder Lea Grundig, in denen deren Jude-Sein aber kaum vorkommt oder die als Juden in der Öffentlichkeit nicht kenntlich waren, berichteten allenfalls einige Zeitungen über Neueinweihungen von Gemeindehäusern oder Gedenksteinen. Darüber hinaus gab es das von 1961 bis 1990 vierteljährlich herausgegebene »Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik«. Dies war aber ein staatlich kontrolliertes Verlautbarungsorgan und spiegelte kaum die Realität wider, bis auf ein paar Öffnungszeiten von Gemeindebibliotheken oder der einzigen koscheren Metzgerei.

Angesichts der wenigen fast »unsichtbaren« Juden in der DDR ist es kein Wunder, dass auch in den Arbeiten verdienstvoller Lokalhistoriker die Zeit nach 1945 einem Appendix gleicht. Sie geben für Uneingeweihte nur dürre und deprimierende Informationen her: Gemeinde X bekam in den 40er Sonderlebensmittelkarten, in den 50ern ein neues Gemeindehaus und hat »1968 kaum noch mehr als 20 Mitglieder«, und ab und zu findet ein Prozess gegen einen NS-Verbrecher statt.

Auch die von christlichen Initiativen angestoßenen neuen Arbeiten in den 80er Jahren oder die in der CDU-Parteizeitung »Die Union« erschienenen Beiträge haben über jüdische Gegenwart noch kaum zu berichten. Es sind einige wenige Arbeiten »von außen«, die beginnen, Juden in der DDR ins Blickfeld zu nehmen: Adolf Diamant 1984 in Frankfurt a.M. oder die Kanadierin Robin Ostow 1986.

Erschwert wurde das Arbeiten dadurch, dass es kaum Zugang zu Archiven gab und dass Juden und Gemeindemitglieder und hier wiederum Funktionäre und das gemeine Mitglied nicht dasselbe sind. Etliche DDR-Juden waren nicht in Jüdischen Gemeinden (fortan: JG) registriert. Ihr »jüdisches Leben« verlief rein privat. Darüber wissen wir wenig, da nicht einmal »Staat und Partei« davon wussten oder nur und immer wieder die gleichen Ostberliner Juden befragt wurden (Genin, Honigmann, Runge, Kirchner, von Wroblewsky usw.).

Nach dem Mauerfall entstanden dann zahlreiche Gesamtdarstellungen auch zur DDR-Zeit. Der mit Abstand größte Forschungsbereich betrifft hier neben jüdisch konnotierten Baudenkmälern und Friedhöfen das Verhältnis der DDR-Führung zu Israel und den verdeckten Antisemitismus sowie die Behandlung der Juden durch Partei und Staat. Auch jetzt noch interessierten die »real existierenden Juden« wenig. Grundlage war meist Quellenstudium in den nun weitgehend geöffneten DDR-Archiven. Der Zugang zu Gemeindearchiven blieb nach wie vor schwierig. Daher ist die Sicht auf das Verhältnis »Staat/Partei/Stasi – Juden« in den meisten Studien immer auch einseitig geprägt, zumal die Autoren je nach eigener Ausrichtung oft bestimmte »ideologische« Vorannahmen getroffen haben. Die meisten haben am Schreibtisch geforscht und sich den Weg in die Provinz und die Räume außerhalb der Institution JG gespart. Insofern wäre hier noch einges zu tun. Allerdings gerieten nach der Vereinigung die DDR-Juden aus dem Blickfeld. Denn nun waren die russischen Zuwanderer wichtiger, die sie abgelöst bzw. ihre Plätze eingenommen haben.

Ich möchte das Verhältnis zwischen Juden/JG und DDR-Apparat wie der Historiker Lothar Mertens in vier Phasen einteilen, die etwa der Abfolge der vier Präsidenten des Verbands der JG entsprechen, und an denen ich mich jetzt hier auch „langhangeln“ werde:

1) da ist die Ära Julius Meyer ab 1945, die zunächst im Zeichen einer wohlwollenden Haltung gegenüber Juden stand, aber in der antisemitischen Interimsperiode 1950–53 zu Ende ging.

2) eine Phase politischer Indifferenz von Mitte der 50er bis Mitte der 60er Jahre, in der die JG weitgehend unbeachtet blieben und unter der Führung von Hermann Baden in kritischer Distanz zum Staat verharrten.

3) die Phase zwischen 1967 bis zum Anfang der 80er Jahre, als die DDR-Führung angesichts der Verschärfung des Nahost-Konflikts versuchte, die Juden als Alibi für ihre antizionistische Politik zu benutzen, was von Verbandspräsident Helmut Aris partiell mitgetragen wurde.

4) die letzten Phase unter Siegmund Rotstein in den 80er Jahren, als die JG zunehmend Aufmerksamkeit erfuhr, die allerdings in erster Linie ihrer vermuteten Nützlichkeit für außenpolitische Zwecke geschuldet war.

Die ersten Jahre

1933 hatte Leipzig beispielsweise 11.500 Gemeindemitglieder, bei der Wiedergründung 1945 waren es 15…

Im Sommer 1945 lebten noch etwa 3.500 Juden auf dem späteren Staatsgebiet der DDR – Menschen, die aus Lagern gerettet wurden oder als »U-Boote« oder Partner in »privilegierten Mischehen« überlebt hatten. Hinzu kamen bald Juden, die vor den Pogromen in Polen flohen und solche, die aus dem Exil zurückkehrten und sich für den Osten des Landes entschieden, weil sie Antifaschisten oder Kommunisten waren, und meinten, hier ihren Traum von einem besseren Deutschland verwirklichen zu können.

Unter ihnen waren etliche, die später das politische und kulturelle Leben der DDR mitbestimmten: der Philosoph Ernst Bloch, der Komponist Hanns Eisler, der Karikaturist John Heartfield, die Literaturhistoriker Hans Mayer und Alfred Kantorowicz, die Schriftsteller Anna Seghers, Stefan Heym und Arnold Zweig, der Opernregisseur Walter Felsenstein, die Schauspielerin Helene Weigel, die späteren Mitglieder der Staatsführung Albert Norden und Hermann Axen.

Die meisten von ihnen traten keiner jüdischen Gemeinde bei, weil sie selbst nicht religiös waren oder sich überhaupt als Juden verstanden oder weil die religiös-nationalen Aspekte des Judentums nicht mit der Parteilinie vereinbar waren. Insofern waren sie als Juden für die Öffentlichkeit auch »unsichtbar« und spielten für das Judentum in der DDR kaum eine oder gar keine Rolle.

Wie dem auch sei: In Berlin war die sowjetische Kommandantur unter Nikolai Bersarin zunächst sehr positiv eingestellt. Schon am 11. Mai 1945 fand der ersten Schabbat-Gottesdienst statt und bald wurde auch die JG zu Berlin wiedergegründet. 1946 gab es dann laut Volkszählung außer den ca. 2.500 Juden im Ostteil Berlins weitere 652 in Sachsen, 435 in Sachsen-Anhalt, 428 in Thüringen, 424 in Brandenburg und 153 Juden in Mecklenburg. Insgesamt also etwa 4.500 Personen. Und die Lage schien sich zu normalisieren.

Doch dann sank die Zahl der Gemeindemitglieder bald wieder in rasender Schnelligkeit: Bei der Gründung der DDR 1949 waren nur noch 1.150 Juden und 1952 unter 1.000 registiert. Die JG in Zittau, Zwickau und Plauen mussten wegen Mitgliederschwund aufgelöst werden. Die verbleibenden acht Gemeinden – Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Magdeburg, Halle, Erfurt, Schwerin und Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) – erfüllten vor allem soziale Aufgaben und lotsten ihre Mitglieder, meist traumatisierte Lagerüberlebende, mehr schlecht als recht durch die schlechte Versorgungslage der SBZ.

Was war passiert? – Nach dem anfänglichen Wohlwollen gerieten einige Juden wie der Vorsitzende der Berliner JG, der Auschwitz-Überlebende Erich Nehlhans mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Konflikt. Nelhans wurde 1948 wegen angeblicher Spionage verurteilt und starb 1950 in einem sowjetische Gulag.

1949 wurde dann die DDR gegründet und bald darauf verschärfte sich die Situation noch. Im Rahmen stalinistischer »Säuberungskampagnen« in der Sowjetunion und den »Bruderstaaten« des Warschauer Pakts wurden Juden als »Kosmopoliten«, »Konterrevolutionäre« und »zionistische Agenten« an den Pranger gestellt. Es kam zu großen Schauprozessen wie dem Ärzte-Prozess in Moskau, dem Field-Prozess in Budapest und dem Slánský -Prozess in Prag.

Betroffen waren vor allem diejenigen, die während der NS-Zeit in westlichen Ländern im Exil gelebt hatten (dort Kontakt mit Leuten wie zB. dem »Agenten«-Ehepaar Field hatten) und die nun einer Zusammenarbeit mit dem Westen verdächtigt wurden. Einige dieser »Judenknechte«, wie die stalinistische Presse sie schimpfte, wurden in der Sowjetunion hingerichtet oder heimlich ermordet.

In der DDR wurden Juden zu dieser Zeit »nur« aus Positionen entfernt – in der Partei (wie Alexander Abusch), im Staat (wie Leo Zuckermann) und den Medien (wie Leo Bauer), aus dem Verfolgtenverband ausgeschlossen oder aber verhaftet, wie der Vorsitzende der Dresdner Gemeinde Leon Löwenkopf, der Vorsitzende der Nationalen Front in Sachsen, Hans Schrecker, der Journalist Bruno Goldhammer, die Gemeinderepräsentanten Salo Looser in Erfurt und Fritz Grunsfeld in Leipzig. Das nichtjüdische ZK-Mitglied Paul Merker (der u.a. im mexikanischen Exil Kontakt mit Juden hatte) wurde als zionistischer Agent verhaftet, die Büros der JG wurden durchsucht, ihre Mitglieder verhört.

Vor allem auf die Vorstände wurde massiv Druck ausgeübt. Im November 1950 wurde Julius Meyer – ein Auschwitz-Überlebender und der Präsident des Verbandes der JG in der DDR, zugleich SED-Mitglied und Volkskammer-Abgeordneter – anonym als Schieber, Karrierist und amerikanischer Agent denunziert. Die SED forderte von Meyer, er solle Verbindungen von Gemeindemitgliedern zur amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation JOINT offen legen, Israel als faschistischen Staat anprangern und die Judenverfolgungen im Ostblock leugnen…

Im Januar 1953 flüchtete Meyer in den Westen, zusammen mit fünf der acht Gemeindevorsitzenden und mit ihnen 500 weitere Mitglieder ihrer Gemeinden. Infolge des Exodus schwand der Einfluß und das Ansehen der JG noch stärker. Vor allem aber reagierten die JG, die sich gerade erst zu stabilisieren begonnen hatten und nun ihrer Führungskräfte beraubt waren, völlig verunsichert und schotteten sich weiter ab. Viele A-Religiöse und Parteimitglieder schlossen sich entweder nicht mehr den JG an oder traten nun wieder aus. Diese Lähmungserscheinungen hielten lange an.

Nach dem Tod Stalins im März 1953 wurden die inhaftierten Juden zwar freigelassen und die Mehrheit der jüdischen Ex-Parteimitglieder rehabilitiert. Doch die Verunsicherung und Erstarrung blieb. Die SED-Führung setzte andere Parteimitglieder als Gemeindevorstände ein (auch Nichtjuden) und die JG hielten sich politisch bedeckt und waren kaum wahrnehmbar, bis 1967.

Exkurs »Wiedergutmachung«

Doch noch einmal zurück in der Zeit: Ein Dauerkonflikt, der sich durch alle Phasen des Verhältnisses zwischen Juden und Staat zog, war von Anfang an das Thema »Wiedergutmachung«.

Dabei enthielt vor allem das nunmehr zum sozialistischen »Volkseigentum« gewordene ehemalige jüdische Vermögen auf dem DDR-Gebiet viel Sprengstoff. Schon 1948 hatte die Sowjetische Militäradministration festgelegt, dass es keine jüdischen Ansprüche auf das aus Nazi- und Kapitalvermögen aller Art gebildete sozialistische »Volkseigentum« geben könne. Es hatte an der SED-Spitze zwar Diskussionen über die Restitutionsfrage gegeben, aber nachdem die Abteilung Justiz beim ZK Ulbricht davor gewarnt hatte, eine Restitution zuzulassen, da diese »einen Einbruch in unsere neue sozialistische Ordnung« und »eine enorme finanzielle Belastung unserer zukünftigen Wirtschaft zugunsten ausländischer Kapitalisten« bedeuten würde, entschied man, jüdisches Eigentum an Produktionsmitteln und dergleichen generell in Staatseigentum zu überführen.

Nach der Staatsgründung dann lehnte die DDR tatsächlich jegliche Verantwortung ab – unter Verweis auf die Erfüllung des Potsdamer Abkommens, die angeblich großzügige Unterstützung der Juden in der DDR, auf erbrachte Reparationsleistungen und die Überwindung aller Hinterlassenschaften des Faschismus. Die Bundesrepublik wolle mit ihren individuellen Entschädigungszahlungen nur vom antisemitischen Charakter ihrer Politik ablenken, so das DDR-Argument.

Auf der anderen Seite hatte der Hauptausschuss der OdF, in dem Parteikommunisten das Sagen hatten, in der SBZ schon im Juli 1945 Juden und Zeugen Jehovahs von der Kategorie der antifaschistischen Kämpfer ausgeschlossen, denn diese hätten zwar (O-Ton): »Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft«.

Im Januar 1948 beschloss das ZK der SED immerhin, dass als Opfer gelte, wer aus »demokratischen Gründen«, »wegen religiöser Einstellung oder aufgrund der nazistischen Rassengesetze« verfolgt worden sei. Aber Juden blieben dennoch Opfer zweiter Klasse, da sie, wie gesagt, nicht aus politischen Gründen zu leiden hatten. Zudem waren Mischlinge oder Angehörige von »Mischehen« ohnehin von allen Vergünstigungen ausgenommen.

Die offiziellen Gemeindevertreter haben die Formel von der natürlichen Aufhebung aller Ansprüche als kollektive Überwindung des Faschismus zwar in der Öffentlichkeit nachgebetet. 1973 aber verweigerten sich die JG beispielsweise eine Erklärung zu unterzeichen, die solche Ansprüche als rechtlich unbegründet hinstellen sollte.

Erst nach dem Mauerfall gab es zumindest eine symbolische Geste der Wiedergutmachung: Im April 1990 gab die erste demokratisch gewählte Volkskammer unter Lothar de Maizière die jahrzehntelang verweigerte Erklärung ab, alle Deutschen, auch die des eigenen Landes, seien für die nationalsozialistischen Verbrechen an Juden verantwortlich, und die DDR auch gegenüber Überlebenden des Holocaust im Ausland zu Entschädigung und Hilfe verpflichtet und zu Verhandlungen über die Rückerstattung von Vermögenswerten bereit. Die Volkskammer entschuldigte sich nun auch für die »offizielle DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel« und die Diskriminierung der jüdischen »Mitbürger«.

Doch zurück zu den vorerst stillen 60er Jahren und zu Phase 3:

Die 60/70er Jahre

Die Zahl der Gemeindemitglieder sank weiter. Oft kam kein Minjan mehr zusammen. Jüdisches Leben fand wenn überhaupt im Privaten statt. Es gab kaum Familien, die ihre Kinder im Sinne der jüdischen Traditionen erzogen. Die meisten standen dem religiösen Judentum und damit der JG fern. Jüdisch sein war kein Thema, man war Kommunist (oder gar nichts). Intern, in den Gemeindevorständen wurden absurde Diskussionen geführt, so ob man an Jom Kippur zur Parteiversammlung gehen müsse oder nicht.

Die meisten Eltern der jungen DDR-Juden taten wenig dafür, ihre Kinder an das Judentum heranzuführen. Schließlich hatten sie (z.B.) die FDJ in England gegründet und wollten auch keine Juden mehr sein.

Seit Mitte der 1960er Jahre fanden nur noch in Leipzig und Berlin sowie einmal im Monat in Dresden Schabbat-Gottesdienste statt. Die westdeutschen Gemeinden helfen mit Siddurim, Kippot und zu den Hohen Feiertagen mit Kantoren aus. Das Aufregendste an den JG waren noch die Beerdigungen. Hier und da ein Liederabend, ein Seder im Hotel »International« oder Chanukka im Café Moskau.

In Berlin als Hauptstadt der DDR gab es ja immer noch die meisten Juden und sogar eine öffentliche jüdische Bibliothek.

Dresden zeichnete sich durch den Sitz der Vertretung aller Gemeinden, des 1952 gegründeten »Verbandes der JG in der DDR« aus (Helmut Aris, der Vorsitzender der Dresdner JG war auch dessen Präsident) und dadurch, dass hier das dürre, nichtssagende Mitteilungsblatt des Verbandes erschien.

In Leipzig war es seit 1962 der Leipziger Synagogalchor unter Oberkantor Werner Sander, der auch außerhalb der Stadt maßgeblich zur Verbreitung oder Akzeptanz jüdischer Kultur beitrug. Alle anderen Zwerg-JG wie Magdeburg und Schwerin bestanden mehr oder weniger nur noch auf dem Papier bzw. aus alten Männern. Chemnitz hatte überhaupt keinen Nachwuchs und auch Dresden und Leipzig meldeten schon Anfang der 70er nur noch je vier Unter-16-jährige Mitglieder.

Trotzdem gab es immerhin jüdische Ferienlager, so dass zumindest der Nachwuchs innerhalb der JG sich kannte. Man hatte also zwar jüdische Freunde, aber die hatten alle keine Ahnung vom Judentum, waren nicht beschnitten, hatte keine Bar Mizwa, konnten kein Hebräisch und nach dem Jom-Kippur-Krieg gab es nicht einmal mehr Postverkehr nach Israel – man war komplett abgeschnitten und gut von der Stasi bewacht.

Von den Quantitäten abgesehen, war also auch inhaltlich eine JG kein heimliger Ort. Man sprach auch nicht über Lager oder Exil, nicht in der Familie, nicht in der Öffentlichkeit. Allseits Schweigen, Tabuisierung, Vorsicht, Mißtrauen. Neben der fehlenden Anbindung an Traditionen spielte der Antisemitismus in der Gesellschaft und die feindselige Israelpolitik der DDR-Regierung eine entscheidende Rolle für das Ducken und Kleinhalten der DDR-Juden, andererseits aber auch für deren Zusammenrücken.

Denn die meisten Juden in der DDR wurden ja erst durch den Sechstagekrieg im Juni 1967 an ihre Herkunft erinnert. Die Israel-Hetze der SED-Führung bewirkte nun, dass die wenigen Überlebenden oder ihre Kinder sich näher kamen und solidarisierten.

Selbst ansonsten »verlässliche« Parteimitglieder begannen sich jetzt zu weigern, staatliche Kampagnen zu unterstützen und verweigerten die Unterschift unter gegen Israel gerichtete Appelle. Beispielsweise gab es schon vorab im »Neuen Deutschland« eine »Erklärung jüdischer Bürger« zum Sechstagekrieg, die aber (zur Verblüffung der SED-Oberen) eben nicht oder nur von wenigen unterschrieben wurde. Der Sekretär des Zentralkomitees der SED, Albert Norden, selbst Sohn eines Rabbiners, hatte diese Erklärung verfasst, in der Israel als Aggressor hingestellt wurde, der den Nahen Osten mit Blitzkriegen in Hitler-Manier unter Kontrolle bekommen wollte. Zwar unterzeichneten zehn bekannte Juden wie Kurt Goldstein, Lea Grundig und F. K. Kaul, aber andere Prominente wie die Sängerin Lin Jaldati, der Verbandspräsident Helmut Aris, der Vorsitzende der Ostberliner Gemeinde Heinz Schenk und der Schriftsteller Arnold Zweig verweigerten ihre Unterschrift. Die Isolation war damit für die nächsten Jahre vollends besiegelt.

Exkurs Alltagsantisemitismus/Strafverfolgung….

Antisemitismus hat es ihn in der DDR in offener Form vor allem deswegen kaum gegeben, weil es kaum Juden gab. Dennoch bestanden, nicht nur im Zusammenhang mit Großereignissen antisemitische Tendenzen auch im Alltag, die unter den Teppich gekehrt oder verleugnet wurden. Die Wissenschaftlerin Cora Granata hat in ihren Befragungen zu »Ostalgie und Erinnerungen an Antisemitismus« festgestellt, dass aber auch Juden selbst die Zeit in der DDR oft rückblickend als nicht antisemitisch beschreiben.

Ich vermute, dass man sich daran gewöhnt hatte und kaum noch wahrnahm, wie das Regime die JG kontrollierte und instrumentalisierte, wie Juden sich anpassten, hier und da aber auch widersprachen. Denn einerseits wurden Juden benutzt und hofiert – der Umgang mit Juden galt als »Lackmustest« des antifaschistischen Credos –, andererseits war Antisemitimus eine Konstante der Realität.

Mangels realer Juden waren oft Friedhöfe das Objekt von Angriffen. Auf dem DDR-Gebiet gab es hunderte jüdischer Friedhöfe, die bis in die 1980er Jahre im besten Fall vernachlässigt, abgeräumt oder ignoriert wurden, im schlimmsten Fall aber verwüstet oder beschmiert. Friedhofsschändungen, antisemitische anonyme Briefe oder beispielsweise ein Sprengstoffanschlag auf das Haus des Vorsitzenden der JG in Halle wurden der Öffentlichkeit jedoch vorenthalten, damit das Image des durchweg antinazistischen Staates keinen Schaden nahm.

Erst im Gedenkjahr 1988 besann man sich dieser Orte und stellte Gedenksteine auf oder richtete ein paar Grabsteine wieder her. Die Friedhöfe und ihre Bestände von Plauen bis Rostock bzw. das, was von ihnen übrig ist, wurde vermessen und erfasst, dank wachsender Aufmerksamkeit und vieler Bürgeroder Schülerinitiativen. Ähnliches gilt übrigens für die Synagogenbauten. Der Fachbereich Architektur der TU Darmstadt hat dankenswerter Weise mehrere Dutzend historischer Synagogen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR virtuell rekonstruiert. Und inzwischen gibt es dank der Zuwanderung, wie wir wissen, Synagogenneubauten in Dresden, Chemnitz etc.

Wie fragwürdig die »Vergangenheitsbewältigung« in der DDR funktioniert hat, wissen wir spätestens seit Rostock Lichtenhagen, seit den rassistischen und antisemitischen Exzessen der Fans von Dynamo Dresden oder den Wahlerergebnisse in Sachsen, wo es Orte gibt, in denen heute 25% der Bewohner die NPD wählen.

Der verordnete Antifaschismus und die nachdrückliche Weigerung der Parteiund Staatsführung, eine Mitverantwortung für die NS-Verbrechen anzuerkennen ist sicher ein Mitgrund dafür, dass es nicht zu einer selbstkritischen Beschäftigung der nachwachsenden DDR-Generationen mit den Verbrechen des NS-Regimes kam und die Schuldigen grundsätzlich auf der anderen Seite der Mauer gesucht wurden.

Ähnlich zwiespältig bis blind war der Umgang mit dem Thema Raubkunst. Wie bei der individuellen Wiedergutmachung bzw. Nichtwiedergutmachung ging die DDR auch mit »arisiertem« und gestohlenem Gut nicht eben korrekt um. Man denke nur an Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, der Unmengen Raubkunst an den Westen verscherbelt hat. Erst in den 2000er Jahren hat hier eine Debatte begonnen, die sich mit Beständen aus jüdischem Besitz in Kunstsammlungen und Bibliotheken des Ostens befasst.

Auch die Strafverfolgung von NS-Verbrechern war ein mindestens ambivalentes Thema: Einerseits gab es eine – verglichen mit der BRD – vorbildliche Strafverfolgung von NSTätern, was auch ständig betont wurde bzw. benutzt, wenn es darum ging, nachzuweisen, dass der Bonner Staat von Ex-Nazis durchsetzt und ein »würdiger« Nachfolger des NSStaates war. 1961 versuchte die DDR beispielsweise, sich in den Eichmann-Prozess einzuschalten und ihn gegen die Regierung in Bonn zu richten. Doch die BRD hatte durch materielle Leistungen an Israel vorgebeugt und die DDR konnte die Zusammenarbeit zwischen Globke und Eichmann nicht ausreichend belegen. Auch der Versuch der DDR, ihre Juden durch den jüdischen RA Friedrich Kaul dort als Nebenkläger auftreten zu lassen ging daneben, da Israel keine Nebenkläger zuließ.

Andererseits, zurück zur DDR-Strafverfolgung, wurden NS-Verbrecher, wenn sie nützlich waren, gedeckt – wie der Dresdener Gestapo-Schläger Johannes Clemens, der für den KGB (und den BND) spioniert hat oder die Ärztin Rosemarie Albrecht.

Ein Fallbeispiel: Über 70.000 behinderte und »sozial oder rassisch unerwünschte« Menschen fielen der NS-Euthanasie zum Opfer, d.h. sie wurden von Ärzten systematisch umgebracht. Einer dieser Ärzte war Frau Rosemarie Albrecht. Unter ihrer Aktenführung starben im Krankenhaus für Psychatrie in Stadtroda/Thüringen von 1940 bis 1942 über 150 Frauen und elf Kinder. Erwiesen ist, dass hier mit Beruhigungsmitteln in Überdosis getötet wurde. Das wusste in den 1960er Jahren auch schon das Ministerium für Staatssicherheit – nur vertuschte das MfS die Vergangenheit der Vorzeige-Ärztin. Denn man hat genaue Unterschiede gemacht: Prominente, die für das DDR-System gewonnen werden konnten, drohte keine Strafverfolgung«. Und Albrecht, inzwischen Prof. Dr. Albrecht, hat Walter Ulbricht behandelt, war Dekanin an der Universität Jena, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, »Verdienter Arzt des Volkes« und Nationalpreisträgerin.

Aufgerollt wurde der Fall erst wieder, als Angehörige von Ermordeten nachfragten und nach dem Mauerfall die Akten wieder zugänglich wurden (in den Stasi-Archiven lagen noch 30.000 NS-Krankenakten). Ihre Karriere in der NS-Zeit konnte Frau Albrecht mit Hilfe der Stasi wohlweislich verschwiegen, denn die hatte den Operativen Vorgang »Ausmerzer« angelegt und alle Akten unter Verschluss gehalten.

Im Jahre 2000 begann die Staatsanwaltschaft Gera jedenfalls gegen Rosemarie Albrecht zu ermitteln. Dr. Werner Platz war als Psychiater beauftragt, den Fall Albrecht zu begutachten. Er und die anderen Gutachter sahen die Schuld Albrechts als erwiesen an und nannten ihre Vorgehensweise »besonders heimtückisch«, da hier Mediziner ihre schutzbefohlenen Patienten systematisch mit Schlafmitteln umgebracht hatten.

Wie dem auch sei: 2004 wurde das Verfahren gegen Rosemarie Albrecht eröffnet, und 2005 wurde es eingestellt – wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten. Damit gilt Frau Albrecht als unschuldig. Die Mediziner, die für sie aussagten und sie verteidigten, waren übrigens alles ehemalige Schüler von ihr. »Staatlich sanktionierter Rufmord« und »Hetze gegen eine verdienstvolle Frau« waren noch die mildesten Schlagzeilen, die im Osten erschienen. Von Selbstkritik oder -erkenntnis keine Spur.

Die 1980er Jahre

Nach den »Säuberungen« der 50er Jahre, den antisraelischen und -zionistischen Ausfällen in den 60er und der weitgehenden Ignorierung in den 70er Jahren begann man sich in den 80ern plötzlich der Juden zu erinnern, zumindest ihrer Verfolgungsgeschichte und zunächst im christlich-jüdischen Dialog. In Dresden entsteht ein christlicher Arbeitskreis »Begegnung mit dem Judentum« und Verlage wie der christliche Union-Verlag beginnen zaghaft israelische Autoren zu verlegen. Nach der Vereinigung entstehen dann nach westdeutschem Vorbild in den neuen Bundesländern »Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit« und »Deutsch-Israelische Gesellschaften«, beide wie im Westen mit vorwiegend nichtjüdischen Mitgliedern, die sich dafür engagieren, dass z.B. in Görlitz in zugleicher »Bewältigung« des DDR-Erbes Straßen umbenannt werden – von »Straße der Bergarbeiter zu »Albert-Blau-Straße«, von »Straße der Verkehrsschaffenden« zu »Paul-Mühsam-Straße usw. Dies nebenbei.

Endlich entdeckte also auch die Regierung Honecker »ihre« Juden bzw. der Staat die JG. Hintergrund war der, dass sich Honecker & Co ab Mitte der 80er Jahre (nachem die DDR bereits von vielen Ländern anerkannt worden war) nun auch mit den USA, mit Israel und jüdischen Organisationen in den USA gut stellen wollte und vor allem der Außenpolitik und dem Außenhandelder DDR größere Spielräume eröffnen wollte. Neben dem Wunsch, eine prestigeträchtige USA-Einladung für Erich Honecker zu erhalten, ging es darum, eine Meistbegünstigungsklausel im Handel mit Nordamerika zu bekommen.

Die Crux war nur, dass die JG wegen Mitgliedermangel am Aussterben waren, zugleich aber dem westlichen Ausland als ein Beleg für die neue DDR-Politik vorgeführt werden sollten. Also wurden DDR-weit jüdische Friedhöfe von FDJ-Mitgliedern aufgeräumt, jüdische Kultur oder Verfolgung von Nichtjuden in diversen Ausstellungen als »nationales Erbe« aufgearbeitet und zum 50. Jahrestag der sog. »Reichskristallnacht« 1988 reichlich Gedenktafeln angebracht.

Mittel zum Zweck war dabei unter anderem auch die medienwirksame Gründung der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« und der beginnende Wiederaufbau eines Teils des zerstörten großen Gotteshauses mit der goldenen Kuppel in der Ostberliner Oranienburger Straße (das aber erst nach der Wende fertig wurde) oder die Anstellung eines Rabbiners aus den USA (Rabbiner Neuman, der allerdings schnell wieder verschwand) sowie die Förderung der orthodoxen Separatgemeinde Adass Jisroel in der Berliner Tucholskystraße.

Auch Estrongo Nachama, der charismatische Oberkantor der Westberliner Gemeinde durfte hin und wieder, erleichtert auch durch seinen griechischen Pass im Ostteil Berlins auftreten, vor allem tat er dies zusammen mit dem Berliner Rundfunkchor und später mit dem Magdeburger Domchor und dem Synagogalchor Leipzig in der Synagoge Rykestraße (beide Chöre hatten ausschließlich nichtjüdische Mitglieder.)

Die paar verbliebenen Juden wurden nun, ob religiös oder nicht, sofern sie im Umfeld der JG zu finden waren, zu öffentlichen Demonstrationsobjekten. Nachdem sie in den Nachkriegsjahren als Alibi für die antifaschistische Politik hatten herhalten müssen, wurden sie jetzt zum Instrument der sozialistischen Entspannungsund Außenpolitik.

Nichtsdesotrotz änderte sich damit einiges im positiven Sinne. Die allgemeine politische Entspannung war auch in den JG zu spüren. Erstmals wurde öffentlich die Beziehung zu Israel lebbar. Und es wurde zugelassen, dass sich Kinder von Überlebenden und Remigranten, am Rande der Gemeinden mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander zu setzen begannen.

Ostberliner Intellektuelle gründeten 1986 den Kreis »Wir für uns«, aus dem später der Jüdische Kulturverein hervorging – eine Einrichtung, die anders als die JG, alles aufnahm, was sich jüdisch fühlte oder z.B. auch väterlicherseits jüdisch war. Die meisten der Mitglieder waren a-religiös und und betrachteten Judentum eher als kulturelles Phänomen oder als Schicksalsgemeinschaft. Man unterhielt sich über Identität, lernte jüdische Geschichte und Gesetze bis hin zu den Speiseregeln. Diese neuen Aktivitäten wurde von den alten Gemeindemitgliedern skeptisch beäugt und waren auch nicht ganz unproblematisch.

Wie wir heute wissen, arbeiteten nicht nur die JG-Offiziellen wie Helmut Aris und Siegmund Rotstein als Verbandspräsidenten eng mit den DDR-Behörden oder/und der Stasi zusammen (Aris war IM »Lanus«, Eschwege war IM »Ferdinand« usw.), sondern auch etliche der Flaggschiffe der neuen Bewegung.

Dafür gibt es viel Gründe, zu einem die Herkunft – i.d.R. hatten anders als im Westen die Juden in der DDR sich aus politischen Günden für das Land entschieden. Typischer Verlauf: Eltern waren in die USA emigriert und zurückgekommen, als Kommunisten in die Sowjetunion geflohen und von Stalins Schergen nach Sibirien verbannt worden, nach ihrer Rückkehr machten sie und ihre Kinder eine typische DDR-Karriere durch, letztere wurden als junge Erwachsene Mitglied der JG und dort zu Spionen, offensichtlich indoktriniert von den Eltern bzw. naiv im Glauben an das sozialistische Vaterland…

Die Vereinigung der Ostund Westgemeinden 1990 wurde von den Ostmitgliedern dann jedenfalls eher als Okkupation angesehen, als ungerechte »Abwicklung« ihrer Gemeinde, ihrer Erfahrungen, ihrer Lebensläufe. Die Ost-Gemeinden hatten zwar reichlich Rückerstattungsansprüche im Gepäck.doch waren die weniger als 400 jüdischen Gemeindemitglieder im Osten Deutschlands unter den etwa 30.000 Gemeindemitglieder im Westen praktisch verschwunden und hatten auch jegliches Mitspracherecht verloren.

Die seit 1990/91 gesetzlich geregelte Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hat den Ost-Gemeinden parallel dazu wieder einen unerwarteten Aufschwung gebracht. Eigentlich aber sind es Neugründungen. Unser Anfangsbeispiel – Leipzig, die »Israelitische Religionsgemeinde Leipzig« – hatte zum Mauerfall noch zwei Dutzend Mitglieder, heute sind es 1.300. Mit einer Renaissance hat das allerdings wenig zu tun. Das einstige deutsche Judentum ist tot. Das zu beleuchten, was heute hier wächst, wäre ein anderes Thema.