„Wir brauchen einen transnationalen Gedächtnisraum“

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Der Schriftsteller und Menschenrechtler Dogan Akhanli hat am 19.9.2014 in Köln einen Preis der Evangelischen Kirche Kölns erhalten…

Von Uri Degania

Dogan Akhanli ist ein international bekannter Schriftsteller und Menschenrechtler. Seinen Lebensweg und sein Schreiben haben wir immer mal wieder begleitet. Gegen seine vier Jahre zurückliegende willkürliche Gefangenschaft in der Türkei haben wir scharf protestiert, wie auch viele andere Gruppen und Institutionen. Sie galt seinem Engagement für die Menschenrechte, seine Erinnerung an den 99 Jahre zurückliegenden Völkermord an den Armeniern. 1991 floh Dogan Akhanli – der 1957 in der Türkei geboren wurde, er hat eine Tochter und einen Sohn – aus politischen Gründen nach Köln. Eine gefährliche, abenteuerliche Flucht in ein ihm unbekanntes Land.

Dogan Akhanli
(c) Albrecht Kieser

Dogan Akhanlis Kölner Preisrede

Gleich am Anfang seiner Dankesrede spricht Dogan Akhanli einen Dank an seine zahlreichen Unterstützer aus. Ihr Engagement hat verhindert, dass Dogan Akhanli im Sommer 2010 wegen seines Engagements für die Menschenrechte für Jahrzehnte in türkischen Gefängnissen verschwunden ist. In seiner Rede führt er aus:

„Ich bedanke mich herzlich, dass Sie mich heute und hier ehren. Dass ich jetzt unter Ihnen bin und reden darf, verdanke ich an erster Stelle meinem Freund und Mentor Albrecht Kieser, der während meiner kafkaesken Haftzeit 2010 die Rettungsaktivitäten für mich koordiniert hat. Ohne ihn und ohne die Unterstützung von Recherche International hätte ich meine schriftstellerische Tätigkeit nicht mehr ausüben und meine Projekte nicht verwirklichen können. Mein Dank geht darüber hinaus an meine vielen Freundinnen und Freunde, deren Namen ich nicht alle nennen kann.“

Adnan Keskin – ein Freund für´s Leben

In seiner Rede erinnert der Menschenrechtler an zwei Personen, die für ihn bedeutsam sind. Vor allem an seinen Jugendfreund und ehemaligen Mithäftling Adnan Keskin. Keskin war 1987 die Flucht nach Köln geglückt. Vier Jahre später gelang es ihm, Dogan eine Flucht nach Köln zu ermöglichen. Adnan Keskin ist kürzlich, am 3.1.2014, in Köln verstorben. Dies ist zugleich der Geburtstag von Dogans Mutter. ((http://www.ksta.de/koeln/koelner-appell-kampf-gegen-voelkermord,15187530,13297560.html))

Dogan Akhanli führt aus:

„Ich möchte meine Rede zwei Menschen widmen, die leider nicht mehr unter uns sind. Der eine ist mein Freund Adnan Keskin, Er war gleichzeitig mein Fluchthelfer, der mir im Herbst 1991 ermöglichte, aus dem Land zu flüchten, in dem ich geboren  und später verfolgt wurde. Wir kamen im selben Jahr und im selben Kreis zur Welt und haben mit 18 Jahren gemeinsam begonnen von Dorf zu Dorf zu ziehen, um die Bewohner für unsere Ideen zu gewinnen. Das war Mitte der 70er Jahre.  Der Bürgerkrieg, in dem wir uns befanden, hat uns dann in die verschiedensten Orten und Ereignisse katapultiert.

Als wir wieder in Köln zusammen kamen, waren 17 Jahre vergangen. In diesen 17 Jahren wurden in der Türkei über 3000 junge Menschen aus politischen Gründen ermordet. Nach dem Putsch vom 12. September 1980 wurden eine halbe Millionen Menschen festgenommen. Fast alle wurden misshandelt und gefoltert.“

Ein gemeinsamer Überlebenskampf

Zu den schwer Gefolterten gehört auch Dogan selbst. Er hat diese traumatische Erfahrung in seinen Büchern, Theaterstücken und Hörspielen literarisch verarbeitet. Immer wieder. Individuell und gesellschaftlich.

Dogan Akhanli hebt die Verdienste seines verstorbenen Freundes hervor: „Adnan Keskin wurde, wie ich, zwei Mal festgenommen und zwei Mal gelang es ihm, aus den Gefängnissen zu entkommen, weil er mit seinen eigenen Händen einen Tunnel gegraben hatte. Er erreichte im Herbst 1987 Köln. Dort wurde er Mitgründer des Türkischen Menschenrechtsvereins Tüday. Adnan kämpfte unermüdlich gegen die Windmühlen der Menschenrechtsverletzungen. Nicht nur in der Türkei, sondern weltweit.“

Sowohl für Adnan Keskin als auch für Dogan Akhanli war dieser Kampf für Menschenrechte, gegen Antisemitismus, immer ein universelles Anliegen: Ihre tätige Solidarität galt immer auch den Schwächsten – den Roma und den Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten auf dem Balkan.

Die Raphael Lemkin Bibliothek

Gemeinsam schufen sie in Köln die bis heute im Kölner Allerweltshaus  angesiedelte Raphael Lemkin Bibliothek. Der polnisch-jüdische Jurist und Raphael Lemkin (1900-1959) war der erste jüdische Jurist, der sich unmittelbar nach der Shoah für eine internationale juristische Ächtung des Völkermordes engagierte. Immer wieder. Und doch vergeblich. Bereits vor der Shoah hatte dieser sich intensiv mit dem türkischen Völkermord an den Armeniern eingesetzt. Er wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – und verstarb völlig verarmt und vergessen in einem schäbigen Einzimmerappartement in Manhatten.

Alle Versuche, die Raphael Lemkin Bibliothek in eine großen öffentliche Institution in Köln zu integrieren – z. B. in die Kölner Stadtbibliothek –  sind bisher vergeblich geblieben. Ein Armutszeugnis für die Stadt Köln und das bürgerliche Engagement in Köln!

Elisabeth Käsemann

In seiner Preisrede erinnert Akhanli auch an die ehemalige Studentin und politische Aktivistin Elisabeth Käsemann, die 1977 in Chile von der Diktatur ermordet wurde. Die deutschen Botschaft wusste von ihrer existentiellen Gefährdung – und unternahm doch nichts für Käsemann.

Akhanli führt in seiner Dankesrede aus: „Der zweite Mensch, dem ich die Georg Fritze Gedächtnisgabe widmen möchte, ist eine Frau. Sie stammt aus Gelsenkirchen. Ich bin ihr nie begegnet. Elisabeth Käsemann wollte, genauso wie mein Freund Adnan, die Welt ein bisschen besser machen. Sie studierte Anfang der 70er Jahre in Buenos Aires, arbeitete in den dortigen Armenvierteln und hatte sich entschlossen, in Argentinien zu bleiben. 1976 putschte das Militär und übernahm die Macht. Elisabeth Käsemann blieb trotzdem und engagierte sich als Fluchthelferin für die Verfolgten.“

Und: „Ich habe diese Geschichte durch einen Dokumentarfilm, „Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.“, von Eric Friedler erfahren. Er hat auch über den Genozid an den Armeniern einen eindrucksvollen Dokumentarfilm, Aghet, geschaffen.

Bis zur Verhaftung von Käsemann wurden alle Europäer, die damals in argentinische Haft gerieten, nach Intervention ihrer Regierungen freigelassen. Elisabeth Käsemann wurde deshalb ermordet, weil die deutsche Regierung ihre Verhaftung und den Protest der Öffentlichkeit dagegen ignorierte und sie im Stich ließ.“

Seine Freilassung

Die Erinnerung an diese Szenen erschüttern Akhanli. Und doch hat der deutsche Staatsbürger Dogan Akhanli entschieden andere Erfahrungen mit staatlichen deutschen Institutionen gemacht – gut 30 Jahre später. Diese trugen 2010 maßgeblich zu seiner Freilassung aus der staatlichen türkischen Willkür bei:

„Jahre später, als ich im August 2010 in Istanbul festgenommen wurde, wurde ich vom deutschen Konsulat in der Türkei nicht im Stich gelassen. Ich wurde durch die Solidarität in Deutschland, insbesondere in Köln und aber auch durch die diplomatische Intervention des Auswärtigen Amtes gerettet, das sich für Elisabeth Käsemann nicht eingesetzt hatte. Die deutsche Konsulin hat mich sogar im Gefängnis besucht und mich so zu einem privilegierten Gefangenen gemacht. Ich durfte deutschsprachige Bücher, Zeitungen und Zeitschriften lesen.“

Die Annäherung an die deutsche Sprache

Diese Erfahrung trug maßgeblich dazu bei, dass Dogan Akhanli die deutsche Sprache zunehmend mehr als eigene Sprache seelisch zu internalisieren vermochte. Von der Türkei hat er sich seelisch getrennt – spätestens seit der Neuauflage dieses willkürlichen und zermürbenden Prozesses, trotz seiner nachgewiesenen Unschuld. ((In seiner kleinen Rede vom 4.10.2013, die er mit „Freiheit vom Prozess“ überschrieben hat, hat Dogan Akhanli, unter Verweis auf Franz Kafka,  jegliche weitere Beteiligung an diesem türkischen Unrechtsprozess verweigert. Er betonte: „Ich steige aus. Ich werde vor der türkischen Justiz nicht mehr erscheinen, nicht freiwillig, nicht erzwungen. Ich nehme mir damit die Freiheit, die sie mir verweigern will. Ich werde frei sein, aus eigenem Willen.“ https://www.hagalil.com/2013/10/05/akhanli-10/))

Deshalb sind Dogan Akhanlis Erinnerungen an seine knapp einjährige Untersuchungshaft keineswegs mit Düsternis, mit Verlorenheit erfüllt. Es war vielmehr eine Phase der Solidarität, des inneren Triumphes, der literarischen Produktivität – die bis heute anhält:

„Ich saß zwar in einer schäbigen Zelle, aber war ich überhaupt nicht einsam. Ich konnte mithilfe der vielen Postkarten und Briefe, die mich erreichten, gedanklich und visuell in fast alle Kontinente der Welt reisen. Doch gleichzeitig musste ich Zeuge der Einsamkeit der kurdischen Gefangenen sein. Dass die Türkei für Kurden ein Kerker sei, ist für mich keine tote Metapher, es ist eine erlebte Realität geworden.“

Akhanli dankt in seiner Preisrede auch seiner früheren Ehefrau, die in den 70er Jahren gemeinsam mit ihm und seinem damals sehr kleinen Sohn gefangen gehalten wurde:

„Dass die Solidarität mich aus dem Hassmaul der türkischen Willkür herausgeholt hat, war nicht das erste Glück, das ich erfahren durfte. Ich habe in den 70er Jahren den Bürgerkrieg in der Türkei überlebt. Ich habe in den 80er Jahren den Militärputsch, den Untergrund und  das Militärgefängnis Metris überlebt. Ich habe auch die Folter, der ich gemeinsam mit meiner Frau und meinem Sohn ausgesetzt wurde, überlebt. Ich bin meiner damaligen Frau Ayşe dankbar, die mit mir durch die Hölle gegangen ist. Wenn ich aus der Folterkammer nicht als gebrochener Mensch heraus gekommen bin, verdanke ich das ihrem Mut und ihrem Widerstand.

Ich bin meinen Kindern, Can und Ceren, die nicht mehr Kinder sind, dankbar, dass sie mir keinen Vorwurf gemacht haben, weil ich sie in Flucht und Heimatlosigkeit mitgeschleppt habe. Nach der Geburt meines Sohnes hätte ich sofort das Land verlassen sollen. Es war keine Heldentat, mich weiter gegen das Militär zu engagieren; als Vater war es eine dumme, verantwortungslose Haltung, ihm gegenüber und später meiner Tochter gegenüber.“

Annäherung an Deutschland

Akhanli zeichnet die schweren Lebensstationen seiner anfangs sehr vorsichtigen, misstrauischen Annäherung an Deutschland an – ein Land, das 1991, als er nach Köln gelangte, durch die pogromartigen Übergriffe und Brandanschläge  in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und in Mölln geprägt war: „Wir lebten in einem Asylbewerberheim in Bergisch Gladbach. Obwohl unser Asylantrag noch nicht anerkannt war, durften wir in eine Wohngemeinschaft ziehen, weil unsere zukünftigen Mitbewohner uns dazu einluden. Sie hatten sich entschlossen, mit einer Asylbewerberfamilie zusammen zu wohnen. Kurze Zeit nach unserem Einzug starben fünf Menschen bei  einem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen. Es war unerträglich für uns, nach so langer Verfolgung im Herkunftsland weiter in einer bedrohlichen Situation leben zu müssen. Aber auf der anderen Seite war mir bewusst, dass wir in dieser WG einen Schutzraum erhalten hatten, der uns ermöglichte, unser Leben noch mal aufzubauen. Das gelang uns auch, im Laufe der Zeit.“

Der Schriftsteller

In Köln wurde Dogan Akhanli, in einem scheinbar abrupten Entschluss, zum Schriftsteller – für ihn eine mehr als beglückende innere Entwicklung: „In Köln begann ich zu schreiben. Es war ein absolutes Glück, dass ich das konnte. Das Schreiben hat mein Leben völlig verändert. Ich bin von einem überzeugten Aktivisten, der glaubte, er wisse wesentliche über die Welt, zu einem Menschen geworden, der mehr Fragen als Antworten hat.“

Neben – bzw. parallel zu seiner – schriftstellerischen Arbeit engagierte sich Dogan Akhanli immer wieder für Prozesse der Geschichtsaufarbeitung, der Erinnerung an die gesellschaftlichen verbrechen, der Völkermorde – durch die Deutschen und durch die Türkei:

„Die Aufarbeitung der Deutschen und der Umgang mit ihrer Geschichte haben mir geholfen, zu meiner eigenen Aufarbeitung zu finden und zu einem neuen Umgang mit der Geschichte meines Herkunftslandes. Nachdem ich mein Buch „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ fertig geschrieben hatte, war mir klar geworden, dass die Genozidopfer von 1915 der absoluten, totalen Willkür der jung-türkischen Macht unterworfen worden waren. Sie waren kollektiv zum Tode verurteilt worden.“
Und Akhanli, der mehr als intensive Kontakte zu armenischen Intellektuellen und Menschen hat, fügt hinzu: „Ich bin dankbar, dass die Überlebensgemeinschaft der Armenier mein Buch nicht abgelehnt hat. Ich bin dankbar, dass sie mir erlauben, mit ihnen zu sprechen und dass wir miteinander sprechen.“

Sein leidenschaftliches Engagement für eine wirkliche Gedenkkultur, die sich auch in seinen Werken widerspiegelt – erinnert sei an seinen 2005 nur auf türkisch erschienenen Roman über das tragische Schicksal des jüdischen Flüchtlingsschiffes Struma  – betitelt mit „Madonna’nın Son Hayali“ (Der letzte Traum der Madonna) – , das 1942 mit 700 jüdischen Flüchtlingen im Schwarzen Meer versenkt wurde – beschreibt Akhanli in seiner Dankesrede so:

„Deshalb bin ich wie verrückt herumgereist in der Erinnerungslandschaft Deutschland. Ich habe Bücher gelesen, Filme angeschaut, Gedenkstätten besucht. Nach meiner Reise zur Gedenkstätte Auschwitz habe ich meine sämtlichen Identitäten verloren. Ich habe nirgendwo so stark gespürt wie mitten in Birkenau, Täter und Opfer gleichzeitig zu sein. Dort sind Opfer und Täter in mir verschmolzen. Es war eine richtige Traumatisierung, die mich beinahe geschichtslos und handlungsunfähig machte.“

Dogan Akhanli mit der Kölner Grünen Politikerin Berivan Aymaz
Dogan Akhanli mit der Kölner Grünen Politikerin Berivan Aymaz

Fatih Akins Preisrede

Die Preisrede für die Verleihung der Georg-Fritze-Gedächtnisgabe wurde von dem großen türkischstämmigen Filmemacher Fatih Akin gehalten. Dogan Akhanli zeichnet sein Interesse für dessen künstlerisches Gesamtwerk nach:

„Deshalb ist es für mich eine große künstlerisch-politische Leistung, wie Fatih Akin mit seinem Film „The Cut“ (Kesim), der ab Mitte Oktober auch in Köln zu sehen ist, einen transnationalen Erinnerungsraum geschaffen hat. Ich bin froh, Fatih, dass ich Dich kennengelernt habe. Ich habe Deine Filme sowieso sehr gemocht und bewundert. Aber ganz besonders danke ich Dir, dass ich „The Cut“ sehen durfte. Es ist eine mutige, eine tolle Idee von Dir, den Film 1915 beginnen und 1923 enden zu lassen. Du hast in der Wahl dieses Zeitraums den Gründungsmythos der Türkischen Republik in Frage gestellt. Es ist grandios, dass Du mit deiner armenischen Hauptfigur, die durch Gewalt zum Schweigen gebracht wurde, das globale Schweigen gebrochen und den Genozidopfern ihre Stimme zurück gegeben hast.

Danke, dass Du hier bist und für mich gesprochen hast.“

Unsere Gratulation geht an unseren Freund Dogan Akhanli. Kaum jemand hat diese Kölner Auszeichnung durch die Evangelische Kirche so sehr verdient wie Dogan. Glückwunsch!

Und wir warten darauf, dass sich endlich ein großer deutscher Verklag entschließt, Dogan Akhanlis Werke auch ins Deutsche zu übersetzen!

Dogan
(c) Berivan Aymaz

[youtube]http://youtu.be/-cYGRfNM4HQ[/youtube]


Laudatio von Fatih Akin anlässlich der Verleihung Georg-Fritze-Gedächtnis-Gabe an Dogan Akhanl
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gehalten am 19.9.2014 in Köln

Georg Fritze war ein Vaterlandsverräter und ein Machtverächter. Ein guter Mensch also. Dafür wurde er von den Seinen im Stich gelassen. Ja sogar ans Messer geliefert. Der Kölner evangelische Pfarrer starb deshalb 1939, man darf sagen, an gebrochenem Herzen. An ihn wird heute erinnert wie alle zwei Jahre, wenn die Evangelische Kirche in Köln Menschen und Gruppen ehrt, die sich „für die Opfer von Diktatur und Gewalt einsetzen“.

Die „Georg-Fritze-Gedächtnis-Gabe“ erhält in diesem Jahr Dogan Akhanlı. Auch er ist ein Vaterlandsverräter und ein Machtverächter, also ein guter Mensch. Erfreulicherweise ist er deswegen nicht gestorben, sondern er sitzt munter und vergnügt unter uns. Obwohl auch sein Herz vor fast einem Jahr zu brechen drohte.

Wer nicht mit den Herrschenden marschiert, dem drohen Verachtung, Tritte, Schläge und Tod. Immerhin nicht zu allen Zeiten. Und nicht in allen Ländern. Oder genauer noch: nicht überall zu jeder Zeit. Wir sind in der komfortablen Lage, dass wir heute jemanden ehren dürfen, der im Gefängnis schmoren würde, wäre er anderswo. Für ein und dieselbe Sache, für ein und dieselben Aussagen, für ein und dieselben Wahrheiten. Dogan Akhanlı nennt das Massenmorden an Armeniern, das im untergehenden Osmanischen Reich vor nahezu 100 Jahren stattfand, einen Völkermord. „Ein Vaterlandsverräter!“ jaulten die Mächtigen in der Türkei und steckten ihn 2010 ins Gefängnis. Obwohl Akhanlı Recht hat, nicht nur der getöteten Armenier wegen.

Dogan Akhanlı hat als erster türkischer Schriftsteller vom Völkermord an den Armeniern berichtet. Sein Roman „Die Richter des jüngsten Gerichts“ ist 1999 in der Türkei, 2007 in Deutschland bzw. Österreich erschienen. Er hat viele zum Nachdenken gebracht, zum Umdenken, zur Selbstbefragung. Was kann ein Roman mehr anrichten? Weil er genau das angerichtet hat, wurde sein Verfasser in seinem Geburtsland zur persona non grata erklärt; ausgebürgert war er seiner staatskritischen Haltung wegen bereits. Man mag keine Schriftsteller, die ihre Leser an Staatswahrheiten zweifeln lassen und sie als des Kaisers Lebenslügen nackt machen.

Ich habe Dogan vor einem Jahr in Hamburg kennen gelernt. Er moderierte eine Veranstaltung mit dem Titel „Begegnungen in Geschichte und Gegenwart: Deutschland und die Türkei“. Recherche International, der Kölner Verein, mit dem Dogan viele Projekte durchführt, und das Institut für Rassismus- und Migrationsforschung in Hamburg hatten den Gedankenaustausch organisiert. Es ging um die deutsch-türkischen Beziehungen im Ersten Weltkrieg, den Völkermord an den Armeniern und die deutsche Mitverantwortung dafür. Ich wusste von Dogan durch ein Interview, das ich einige Zeit zuvor in der Süddeutschen Zeitung gelesen hatte. Er erzählte darin von seinen Themen, seiner gebrochenen Liebe zur Türkei und auch von seiner Begeisterung für meinen Film „Crossing the Bridge“.

Dogan Akhanlı hat sich zu einer klaren Sicht auf die Verbrechen an den Armeniern erst durchschlagen müssen, durch den Lügenwald der türkischen Geschichtsschreibung hindurch; dabei musste er sich auch noch aus der Gleichgültigkeit der türkischen Linken herauswinden. Selbst die waren in der türkischen Selbstlüge groß geworden, es habe Strafexpeditionen gegeben und, sicherlich, es seien wohl auch Unschuldige umgekommen. Aber im Krieg sei eben manches Unrecht geschehen, auf beiden Seiten…

Ebenso hat Dogan sich zur unverstellten Sicht auf den Holocaust vorarbeiten müssen, dem deutschen Staatsverbrechen, das die drei ersten Genozide des 20. Jahrhunderts auf den Philippinen, in Namibia und in Armenien an grausamer Dunkelkraft noch überstrahlt. „Als ich 1993 nach Deutschland kam,“ hat mir Dogan einmal berichtet, „wusste ich nicht wirklich etwas vom Holocaust. Das war für mich ein deutsches Verbrechen. Die Deutschen sollten damit klarkommen. Ich hatte die türkischen Staatsverbrechen im Gepäck, das war mir Last genug. Jede Gesellschaft muss sich mit ihren eigenen Verbrechen beschäftigen. Das war meine damalige Position.“

Dogans Mutter war eine gläubige Muslima. Sein Vater war ein laizistischer Dorflehrer. Also wuchs er in Familie und Schule mit einer nicht ganz widerspruchsfreien Mixtur aus türkisch-laizistisch-muslimischen Wertvorstellungen auf. Der starke Staat war fern, man konnte solche Gegensätze und die in ihnen atmenden Freiheiten leben, Dogans Geburtsort liegt an der georgischen Grenze. Das war schon früher eine Schutzzone und zwar insofern, als dieses Gebiet bis 1918 zum russischen bzw. sowjetischen Territorium gehörte und vom Völkermord an den Armeniern verschont geblieben war. Eigentlich jedenfalls. Eigentlich müssten die mehr als 20.000 Armenier, die damals in dieser Provinz lebten, heute immer noch das bunte Bild der Gegend mit prägen.

„Eine Erinnerung, die mir lebendig geblieben ist“, hat Dogan in einem Vortrag zum Gedenken an den Genozid erzählt, „hat mit einem Ring zu tun. Der Ring wurde von meiner ältesten Tante im Wald gefunden. Meine Tante meinte, der Ring müsse einer

Armenierin gehören. Ich habe mich damals gefragt: Was suchte diese Armenierin in diesem Wald, woher ist sie gekommen und wohin ist sie gegangen? Den Ort, an dem meine Tante lebte, nennen die Dorfbewohner immer noch „Hovannes“. Aber es gibt keine Armenier mehr dort.“

Dogan Akhanlı ist ein ausgebürgerter Türke mit deutschem Pass. Auch wenn manche vermuten, er sei Armenier, weil er sich ja der armenischen Sache angenommen habe. Und nachdem er im ehemaligen Kölner Gestapo-Gefängnis, dem EL-DE-Haus, türkische und deutschsprachige Führungen anbietet und zwischen zwei Völkermorden und anderen Gewalttaten Verbindungen und Unterschiede verdeutlicht, dachten viele, er sei Jude. Warum auch nicht? Die semitische Nase, die grauen Locken… Wer in einer Region geboren wurde, die von Massakern durchkämmt wurde und in der Verstecken und Verschweigen zur Überlebensstrategie gehörten, kann sich seiner Identität nicht sicher sein.

Was ist überhaupt Identität? Woran macht sie sich fest? Wofür ist sie nötig? Welche Sicherheit gibt sie? Diese Fragen bewegen Dogan Akhanlı, seit er sich mit der Massengewalt, die ganze Gesellschaften befällt, auseinander setzt.

Eine Frage, die ihn in diesem Zusammenhang immer intensiver beschäftigt, lautet: „Was haben unsere Gewaltgeschichten miteinander zu tun?“ Ihm wurde klar, dass diese Frage nur beantworten kann, wer mit dem Anderen in Kontakt tritt und sich mit ihm austauscht. Diese Erkenntnis wurde mehr und mehr zu seiner Handlungsmaxime.

Dogan Akhanlı stiftet dieses „Miteinander“, stiftet Begegnung, Austausch und Dialog, Zuhören und Sprechen statt Schweigen, Verstehen statt Verurteilen, Mitfühlen statt Hassen. Seit über zehn Jahren organisiert er dieses Miteinander zwischen Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft, Türken, Kurden, Griechen, Armeniern, Roma, Deutschen. Mit Worten und Geduld, mit Blicken und Verständnis löst er Verklebungen in ihrer gegenseitigen vorurteilsbeladenen Wahrnehmung; er scheint über eine geheimnisvolle Arznei zu verfügen, die er über Verhärtungen träufelt und damit unter den Menschen die Bereitschaft zum Dialog freisetzt, die wohl bei niemandem je ganz  verschüttet ist.

In zahlreichen Seminaren und Reisen zu Erinnerungsorten von Gewalt hat er Möglichkeiten für die deutsch-jüdisch-türkisch-armenisch-kurdischen Teilnehmer geschaffen, ihre ineinander verwobene Geschichte respektvoll aufzuarbeiten, sich den in zwei Weltkriegen begangenen Völkermorden, Vertreibungen, Flucht und Exil zu stellen und er hat ihnen geholfen, in der deutschen Einwanderungsgesellschaft gleichberechtigt die Erfahrungen auszutauschen, die sie in ihrem Gepäck mit sich herumschleppen.

Diese jahrelange Arbeit, die für ihn und für uns sicherlich ebenso wichtig ist wie seine schriftstellerische Tätigkeit, hat auch Dogan selbst geformt. Sie hat seine Erscheinung modelliert, seine Gesten, seine Sprachmelodie und seinen Blick. Bei aller Fähigkeit zu tiefgründiger und ausdauernder Recherche, bei aller Entschiedenheit zur Klarheit im Urteil – Dogan Akhanlı hat in diesen vielen Begegnungen eine Empathie entwickelt, die ausstrahlt und ein Mitgefühl, das ansteckt.

Wer ihm begegnet, den lässt er an seiner Wärme und Weichheit teilhaben, die auch mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat. Denn er ist ein Mensch, dem zwar Brutalität und Gewalt Wunden geschlagen haben, dessen Lehre daraus aber weit weg von diesen Schrecknissen führt. Menschen wie er ertragen ihre Schmerzen nicht dadurch, dass sie anderen ebenfalls Gewalt antun, wie das leider so oft geschieht. Sie können diese Schmerzen deshalb ertragen, weil sie mit dem selbst erlittenen Unrecht und dem, das andere erdulden mussten, behutsam und zartfühlend umgehen. Dogan Akhanlı tut genau das. Daher rührt seine große Überzeugungskraft.

Aus seinem Theaterstück „Annes Schweigen“, das 2012 in Berlin im Theater unterm Dach und im Januar 2013 in Köln im Theater im Bauturm uraufgeführt wurde, wissen wir, wie sich Gewalterfahrung und Gewaltbereitschaft in ein und derselben Person fast unlösbar verweben können. Anne ist die Enkelin von Überlebenden des Genozids an den Armeniern. Und wächst, im Unwissen über ihre biographischen Wurzeln, als überzeugte türkische Nationalistin auf. Das ist kein artifiziell zugedichtetes Schicksal, der schrägen Phantasie eines Literaten entsprungen. Sondern massenhaft erlitten, wie auch ich weiß, seitdem ich mich mit diesem Verbrechen beschäftige und den Spuren, die es in den Individuen und den Familien hinterlassen hat. Das Erschrecken über die persönliche Lüge, die eine politische und gesellschaftliche Lüge ist, überfällt Anne und überfällt auch die Zuschauer, als sich klärt, woher sie kommt und warum sie ist, wer sie meint zu sein.

Dieses Theaterstück ist wie eine Metapher für uns Menschen, die wir alle entweder zu Zeugen von Völkermorden werden oder zu ihren überlebenden Opfern geworden sind. Oder die wir als Nachfahren solcher Ereignisse hineingerissen werden in den Sog der Taten und ihrer Rechtfertigungsgewalt oder in den Sog der Opfer und ihrer Überlebensstrategien. Deshalb spricht Dogan Akhanlı von Menschheitsverbrechen, wenn er Genozide charakterisiert. Denn es ist jede Einzelne und jeder Einzelne von uns und mithin ist es die ganze Menschheit, die Zeitzeuge oder historischer Zeuge dieser Staatsverbrechen ist und die sich aus ihrer Zeugenschaft nicht heraus schleichen kann, heute weniger denn je.

Erinnern heißt sich stellen. Miteinander erinnern heißt sich einander ausliefern und so die große Chance bekommen, schließlich einander zu verstehen.

Dogan Akhanlı hat viele ermutigt, sich auf diesen Weg zu begeben. Er hat damit gesellschaftliche Diskurse in Gang gesetzt, Heilungen ermöglicht, sogar zwischen Opfern und Tätern. Ich danke ihm dafür und freue mich, dass er heute für diese  Arbeit geehrt wird.

Ein Hinweis: Am 16.10 läuft Fatih Akins neuer Kinofilm The Cut – den Dogan Akhanli in seiner Dankesrede für die Preisverleihung ausführlich darstellt – in deutschen Kinos an.