Front National – Streben nach „Entdiabolisierung“ versus Skandalpolitik

0
42

Ergänzend zum vorhergehenden Artikel über das Abschneiden der extremen Rechten bei den französischen Rathauswahlen, hier noch einige ergänzende Hintergrundinformationen über dessen Hauptpartei: den Front National (FN)…

Von Bernard Schmid, Paris

Das Bemühen um eine so genannte „Entdiabolisierung“ oder „Entdämonisierung“ (dédiabolisation), also um eine Vergrößerung der Wahlchancen und der Stimmenanteile durch ein weniger „aneckendes“ Auftreten in der Öffentlichkeit, ist seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende im Januar 2011 Marine Le Pens erklärte Strategie. Als Erster legte den seinerzeitigen Parteiführern ihr damaliger Chefideologe (von 1973 bis 78) François Duprat die Notwendigkeit einer solchen PR-Taktik, einer geschmeidigen Kommunikationsstrategie nahe. Duprat war nicht irgendjemand und konnte auch kaum in den Verdacht kommen, faschistischen Sympathien abhold zu sein. Er bezeichnete sich selbst ungeniert als Faschisten sowie als „revolutionären Nationalisten“ und gab u.a. eine Publikation unter dem Titel Revue d’histoire du fascisme (Zeitschrift zur Geschichte des Faschismus) heraus, die keinen universitären oder neutral-wissenschaftlichen Anspruch erhob, sondern diese Geschichte unverkennbar als „unsere“ Geschichte aufbereitete und darstellte. Doch Duprat war auch der Mann, der seinen Parteifreunden hinter die Ohren schrieb, in Wahlkämpfen zum Thema Einwanderung seien unbedingt „alle rassistische Ausdrücke zu vermeiden“ – also alle stigmatisierenden rassistischen Bezeichnungen wie bougnoules, bicots u.ä. –  und sei ganz „sachlich“, scheinbar leidenschaftslos auf die angebliche soziale und wirtschaftliche Problematik der Zuwanderung abzustellen.

Duprat fand nicht die Zeit, alle seine Ansätze in die Tat umzusetzen. Denn im März 1978 starb er bei einem Attentat, das mutmaßlich entweder durch konkurrierende rechte Fraktionen oder durch parastaatliche Strukturen (Duprat unterhielt zeitlebens ein unklares Verhältnis zu gewissen Diensten und prahlte mitunter mit einem angeblichen oder tatsächlichen Spitzeldasein) auf ihn verübt wurde. ((Zu François Duprat, seiner Bedeutung für die Parteigeschichte, seinem Wirken und seinem Tod vgl. insbesondere Nicolas Lebourg und Joseph Beauregard: François Duprat. L’homme qui inventa le Front national, Paris, Februar 2012. Vgl. zum selben Thema ebenfalls, von den beiden selben Autoren: Dans l’ombre des Le Pen. Une histoire des numéros 2 du FN, Paris, November 2012.)) Aber er hinterließ seiner Partei einige wichtige Lehren. Dazu gehört jene, dass man die Gesetzmäßigkeit des Wahlkampf- und des Medienbetriebs ernst nehmen müsse, wenn man sich denn darauf einlässt, die Beteiligung an Wahlen zur Vergrößerung des eigenen Einflusses zu nutzen.

In bestimmten Perioden der Parteigeschichte folgte ihr Vorsitzender Jean-Marie Le Pen allerdings anderen, von ihm entdeckten „Gesetzesmäßigkeiten“. Dazu zählte die Benutzung des medialen Skandals und der eigens provozierten Aufregung in der „politischen Klasse“, um periodisch Aufmerksamkeit zu erregen.

Erstmals machte Jean-Marie die (zu dem Zeitpunkt mutmaßlich unfreiwillige) Erfahrung, im Mittelpunkt der medialen Negativ-Aufmerksamkeit zu stehen, nach der „Detail-Affäre“ im Herbst 1987. Am 13. September jenes Jahres hatte der damalige Vorsitzende des FN sich in einer Talkshow des französischen Fernsehens allzu freimütig zu den Thesen der Geschichtsrevisionisten bekannt. Befragt nach deren Thesen, hatte er zunächst der „Freiheit der historischen Forschung“ eine Lanze gebrochen und hinausposaunt: „Ich interessiere mich leidenschaftlich für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, und ich stelle mir eine Anzahl von Fragen.“ Er fügte auch hinzu: „Es gibt nun einmal historische Fragen, die offen sind, wie etwa jene, wer den Dampfer Lusitania versenkt hat“ – die Verantwortung für das Sinken des Dampfers mit 2.000 Menschen an Bord im Ersten Weltkrieg ist zwischen Deutschen und Briten umstritten. Auf die journalistische Nachfrage hin, ob er wirklich die sechs Millionen Toten des Holocaust für eine offene Frage halte, erwiderte Jean-Marie Le Pen zunächst: „Wie, sechs Millionen Tote? Ja, ist das denn eine erwiesene historische Wahrheit, an die jedermann glauben muss?“ Hernach erst begnügte er sich damit, die Tatsache als solche nicht offen zu bestreiten, aber die Existenz der Gaskammern als „Nebenumstand (point de détail) der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ abzutun, da sie „in einem Buch von 1.000 Seiten über den Zweiten Weltkrieg nur zwei Absätze“ einnehme. Die Mainstream-Medien haben fälschlicherweise von dieser Episode überhaupt nur den Ausdruck „point de détail“ – also eine Herabstufung der historischen Bedeutung des Holocaust – im Gedächtnis behalten, nicht jedoch die vorausgehenden Sätze, die inhaltlich sehr viel schlimmer waren und ihrerseits eine offene Infragestellung der historischen Realität enthielten. ((Vgl. die vollständigen Äußerungen von Jean-Marie Le Pen an jenem 13. September 1987 bei Bernhard Schmid: Die Rechten in Frankreich, Berlin 1998, Seite 195/196 mit Quellennachweisen.))

Diese als „Detail-Affäre“ bekannt gewordene Affäre ließ Jean-Marie Le Pen seinerzeit einige wichtige Bündnispartner im konservativen Lager verlieren. Der Chef des FN war etwa für Anfang Oktober 1987 zum damaligen Parteitag der britischen Tories unter Margaret Thatcher im südenglischen Blackpool eingeladen – prompt erfolgte seine offizielle Ausladung. Jean-Marie Le Pen hatte auch den Plan gehegt, im Zuge seines Wahlkampfs zur Präsidentschaftswahl vom April 1988 nach Israel zu reisen, um sich dort symbolisch einen „Persilschein“ gegen Vorwürfe des Antisemitismus abzuholen. Zu jener Zeit zählte er durchaus noch Verbündete in Teilen der israelischen Rechten, die ihn als zuverlässigen Mitkämpfer gegen die „arabische Bedrohung“ betrachteten. (Jean-Marie Le Pen forderte damals etwa lautstark, als einziger französischer Spitzenpolitiker, das PLO-Büro in Paris ersatzlos dichtzumachen. Ihm zufolge bildete es einen Ausdruck „ausländischer Einmischung“ sowie dritte-welt-nationalistischer „Subversion“.)

Viele dieser Brücken brachen infolge der affaire du détail ab. Wahrscheinlich war Le Pen sich der vollen politischen Tragweite seiner Äußerungen respektive ihrer Auswirkungen nicht bewusst, als er an jenem Abend in der Talkshow loslegte und sich in Rage redete. Zumal er zwar bereits zuvor Antisemit war, aber zugleich die Auffassung pflegte, er habe ja gewissermaßen „den Juden gesagt, was sie hören wollten“, und sich so ihrer wohlwollenden Neutralität versichert. Jean-Marie Le Pen war am 13. Februar 1987 in New York mit einigen Vertretern des Jüdischen Weltkongresses sowie Repräsentanten der israelischen Herut-Partei (Vorläuferin des Likud-Blocks) in den USA zusammengetroffen und hatte von ihnen Applaus geerntet. ((Vgl. dazu etwa Lothar Baier: Firma Frankreich, Westberlin 1988, S. 71.)) Daraufhin hatte er sich auf gewisse Weise in Sicherheit gewähnt: Gerade weil er der Auffassung war, die Juden steckten irgendwie alle miteinander unter einer Decke, glaubte er nun, „mit ihnen seinen Frieden zu haben“. Insofern war er mutmaßlich vom Ausmaß und von der Heftigkeit der Reaktionen auf die „Detail-Affäre“ überrascht.

Dasselbe trifft jedoch nicht auf die folgenden Skandale zu, welche Jean-Marie Le Pen in den darauffolgenden Jahren in regelmäßigen Abständen auslöste. Am 02. September 1988 leistete er sich etwa das Wortspiel Durafour-crématoire – Michel Durafour war ein damaliger linksliberaler Minister (für den öffentlichen Dienst), und four-crématoire bedeutet wörtlich „Verbrennungsofen“. Dieses Wortspiel war nicht etwa ein „Ausrutscher“ (dérapage), wie es durch viele Presseorgane fälschlich bezeichnet wurde, sondern ein kalkulierter Vorstoß und Tabubruch. Sein damaliger „Kommunikationsbeauftragter“ Lorrain de Saint-Affrique, der den FN 1994 verlassen hat, erklärte dazu, Jean-Marie Le Pen habe die Wirkung dieses Wortspiels „eine Woche lang bei seiner Umgebung ausprobiert“. ((Interview des Verfassers dieser Zeilen mit Lorrain de Saint-Affrique, am 19. März 1997 in Paris.)) Zu jener Zeit hatten die wiederholten vorbedachten „Ausrutscher“ Jean-Marie Le Pens vor allem zum Ziel, die Partei von „Weichlingen“ und potenziellen Abweichlern zu säubern; dazu nochmals Lorrain de Saint-Affrique: „Jenen Kommunalparlamentariern, die regelmäßig beim Sektempfang des Bürgermeisters zugegen waren und in Versuchung gerieten, sich ins örtliche Establishment hineinziehen zu lassen, wurde dadurch ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die wiederholten ,Affären‘ sorgte dafür, dass sie auf einmal isoliert waren, unter Druck gesetzt oder gemieden wurden.“ Aus Sicht Jean-Marie Le Pens trennte sich insofern die Spreu vom Weizen, mit der objektiven Wirkung, dass ein mittelfristiges Aufsaugen seiner „Bewegung“ durch den konservativen Block vermieden wurde. Zwar sank die Zustimmung unter den Wählerinnen und Wähler infolge der „Tabubrüche“ oftmals für einige Monate: infolge der „Detail-Affäre“ von 17 auf 10 Prozent, nach durafour-crématoire von zuvor 14 auf 8 Prozent. Doch einige Monate später stiegen die Umfragewerte Jean-Marie Le Pens oder seiner Partei regelmäßig wieder an.

Auf diese Weise sorgte Jean-Marie Le Pen immer wieder dafür, durch den quasi-permanenten Skandal immer wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, also auch als „Bedrohung für das Establishment“ wahrgenommen zu werden. Diese Strategie hatte allerdings ihren Preis: Die Kontakte in die bürgerlichen Eliten hinein rissen weitgehend ab. Auch westliche (insbesondere britische und US-amerikanische) Konservative wandten seiner Partei zudem den Rücken zu, von der vormals umworbenen israelischen Rechten ganz zu schweigen. Auch eher bürgerlich-konservativ geprägte, mittelständische Wähler flohen zum Teil und gingen oft zurück zur konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten. Doch Jean-Marie Le Pen machte aus der Not einer Tugend.

„National-soziale“ Wende

Denn seine Strategen und Chefideologien proklamierten ab 1989/90 eine neue Ausrichtung der „Bewegung“: Vor dem Hintergrund des Falls der Berliner Mauer und der Implosion des sowjetischen Blocks stellten sie die Diagnose auf, wonach „der Marxismus tot“ sei und es keinerlei progressive politische Alternative mehr gebe. Deswegen sei nunmehr der Platz der „Fundamentalopposition“ für die extreme Rechte frei geworden. An ihr liege es nun, sich zur Alternative gegen das gesamte „System“ aufzuschwingen – also nicht mehr länger bevorzugt die politische Linke, sondern Linksparteien und bürgerliche Rechte gleichermaßen zu bekämpfen -, und zum Sprachrohr für die sozial Unzufriedenen und die Opfer des bestehenden Wirtschaftssystems zu werden. Intern verglich man den Aufstieg, den die eigene Partei (so glaubten viele Kader) nehmen werde, mit jenem der NSDAP ab 1929/30: Da der FN nunmehr die Karte der „großen Alternative“ oder stratégie de la grande alternance ausspiele, als einzige Hoffnung der Verarmten und Ausgegrenzten und einzige „fundamentale Alternative“ auftrete, werde er das politische System sprengen. Nach den 10 bis 15 Prozent der Wähler/innen, die der FN in den 1980er Jahre überwiegend aus der konservativen Anhängerschaft heraus und in kleinbürgerlich-mittelständischen Milieus gewonnen hatte, kämen nun noch 15 Prozent von der Linken enttäuschte Wähler hinzu. Entsprechend ging der FN von einer eher wirtschaftsliberalen Programmatik in den 1980er zu einem „national-sozialen“, mit starker Sozialdemagogie durchsetzten Diskurs in den 1990er Jahren über. In den frühen 1990er Jahren brach der FN auch mit seiner bisherigen US-freundlichen internationalen Orientierung, erstmals während der Kuwait-Krise 1990/91, als Jean-Marie Le Pen – für fast alle Beobachter/innen überraschend – Position gegen den Aufmarsch der USA am Golf bezog und persönlich zu Saddam Hussein reiste.

Insgesamt ging die Strategie jedoch nicht so auf, wie sie konzipiert war. Statt 30 Prozent der Stimmen, wie erhofft, erhielt der FN in den Jahren von 1995 bis 1998 regelmäßig Wahlergebnisse in Höhe von 15 Prozent. Dies bedeutete zwar einen leichten Zuwachs (gegenüber 14,4 Prozent bei der Präsidentschaftswahl 1988, 13,8 Prozent bei der Regionalparlamentswahl 1992 und 12,5 Prozent bei der Parlamentswahl 1993). Es reichte jedoch nicht für die angenommene „systemsprengende“ Wirkung. Und zwar gewann der FN neue Wähler/innen hinzu, verlor jedoch auch alte, die vom nunmehrigen Kurs abgestoßen wurde. Der Versuch, die vorgebliche „soziale Wende“ – den tournant social – der Partei durch ein Ausgreifen in die Gesellschaft hinein zu begleiten und etwa eigene vorgebliche „Gewerkschaften“ zu gründen, wurde gestoppt. Die bestehenden FN-nahen „Gewerkschaften“ wurden mit einer Gegenoffensive seitens der echten Gewerkschaftsverbände und der Gerichte konfrontiert, und durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 10. April 1998 verboten. Auch die in jenen Jahren bisweilen gehegte Vorstellung, man werde die politische Macht eventuell von der Straße aus übernehmen, ((Eine dafür symbolträchtige Episode spielte sich im Oktober 1996 ab. Damals hielt der FN in der Salle Wagram, einem Veranstaltungssaal im Pariser Westen, eine Publikumsveranstaltung gegen Anti-Rassismus-Strafgesetze und gegen das strafbewehrte Verbot der Holocautleugnung ab. Im Anschluss daran gingen die Teilnehmer zum Grabmal des Unbekannten Soldaten am Pariser Triumphbogen, unter dem Vorwand, dort einen Kranz niederzulegen. Zwei Wache stehende Polizisten versuchten, gegen die unangemeldete Kundgebung Widerstand zu leisten, und wurden „entfernt“: Ihnen wurde unter die Arme gegriffen, um sie unter Einsatz körperlicher Kraftanwendung vom Ort weg zu schleifen. Der damalige Generalsekretär des FN, Bruno Gollnisch, kommentierte dazu: „So beginnen Revolutionen!“ (Augenzeugenbericht des Verfassers; vgl. auch Renaud Dély: Histoire secrète du FN, Paris 1999, Kapitel: Gollnisch, ,numéro deux bis‘.) Es lässt sich zwar nicht behaupten, dass die gesamte Strategie des FN zu jener Zeit auf eine Machtübernahme von der Straße aus ausgerichtet war – die Teilnahme an Wahlen spielte eine wichtige Rolle im Parteileben -, doch Fantasmen rund um das Thema geisterten auf jeden Fall durch die Köpfe einiger Parteiführer. Jean-Marie Le Pen selbst drückte zugleich immer wieder seinen Glauben an die Herankunft einer „Schicksalsstunde der Nation“ aus, also an das Aufziehen einer schweren Krise, in welcher das französische Volk ihn als „Mann des Schicksals“ (homme providentiel) erkennen und herbeirufen werde.)) erfüllte sich nicht.

Der Partei gelang es nicht, aus ihrem Fünfzehn-Prozent-Turm auszubrechen, und dadurch ausgelöste strategische Kontroversen (etwa um die Frage, ob man nicht vereinzelt doch den Konservative lokale Bündnisse anbieten solle) führten zur Spaltung der Partei im Winter 1998/99. Jean-Marie Le Pen warf seinen bisherigen Chefideologen Bruno Mégret hinaus. Mit ihm zusammen verließen rund 15.000 von damals real 42.000 Mitgliedern die Partei. Letztere verlor aber vor allem rund die Hälfte ihrer Mandatsträger in Parlamenten und mindestens zwei Drittel ihrer zu eigenständigem strategischem Denken befähigten Kader, die überwiegend zu Mégret hielten. Ab dem Zeitpunkt schrumpfte der FN auf eine Wahlkampfmaschine zusammen: In den Jahren ab 2000 lebte die Partei nur noch von ihrem zuvor errungenen „symbolischen Kapital“, also ihren Sympathiewerten in Teilen der Gesellschaft, entwickelte jedoch keinerlei neue Ansätze und keinerlei politische Innovation mehr. Die rechtsextreme Partei vegetierte vor sich hin, entwickelte kaum noch Aktivitäten an der „Basis“ und tauchte nur noch in Wahlkämpfen regelmäßig auf. Deswegen gelang auch dem konservativen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy vorübergehend sein Versuch einer Übernahme wesentlicher Teile der Wählerschaft des FN: Die rechtsextreme Partei fiel bei der Präsidentschaftswahl im April 2007 auf noch 10,45 Prozent, bei der folgenden Parlamentswahl im Juni 2007 auf nur noch 4,25 Prozent der Stimmen. So niedrig hatte sie seit 25 Jahren nie abgeschnitten. Sarkozy hatte zuvor einige symbolische Gesten an die Wählerschaft des Front National gerichtet, und u.a. unter dem Einfluss seines (mit einer langjährigen rechtsextremen Biographie ausgestatteten) Beraters Patrick Buisson im März 2007 die Einrichtung eines „Ministeriums für nationale Identität“ angekündigt. Ein solches Ministerium existierte dann auch real von 2007 bis 2011. Allerdings sorgten die Widersprüche in der Politik Sarkozys während seiner Präsidentschaft dafür, dass er ab circa Anfang 2010 die vormals angelockte rechtsextreme Wählerschaft – besonders in den sozialen Unterklassen – ebenso schnell wieder verlor.

Ungefähr zeitgleich begann die letzte Phase des Aufstiegs von Marine Le Pen, die auf die Ankündigung eines Rückzugs ihres Vaters vom Parteivorsitz folgte – seine Bereitschaft dazu ließ er erstmals im September 2008 in Valeurs Actuelles erkennen, er bestätigte seinen Abgang im April 2010 in einem Interview mit Le Figaro. In einer Urabstimmung der Parteimitglieder zum Jahresende 2010 setzte sie sich erwartungsgemäß gegen ihren einzigen Gegenkandidaten Bruno Gollnisch durch, am 16. Januar 2011 übernahm sie auf einem Parteitag in Tours den Vorsitz.

Was ist neu am Front National unter ihrer Leitung? Neben einem Generationswechsel brachte die Übernahme der Parteiführung durch Marine Le Pen mehrere vermeintliche Neuerungen, von denen manche real sind und andere nur durch die Presse suggeriert werden. Letztere ist zum Teil derart durch die Figur der neuen Parteivorsitzenden – relativ jung (Jahrgang 1968), Frau, doppelt geschieden – und durch das unerwartete „Gesicht“ des Front National fasziniert, dass sie mitunter bereit ist, Neues herbeizuschreiben, wo nur alter Wein in neue Schläuche gegossen wird.

Verhältnis zum Antisemitismus

Zum Ersten bricht Marine Le Pen mit der bisherigen Politik ihres Vaters, indem sie tatsächlich als antisemitisch zu deutende Wortspiele sowie sämtliche Anspielungen auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und auf den historischen Faschismus unterlässt. Dazu erklärte sie in einem Statement, das sie selbst als abschließend betrachtete, im Wochenmagazin Le Point vom 03. Februar 2011: „Die nationalsozialistischen Lager waren der Gipfel der Barbarei.“ Eigentlich eine relativ banale Erklärung, die jedoch durch Teile der Presse quasi als Sensation behandelt wurde – im Vergleich zu früheren Aussprüchen ihres Vaters erschienen Marine Le Pens bereits von einer derartigen Klarheit, dass manche Beobachter/innen sich schon überrascht zeigten.

Ähnlich wie andere Parteifunktionäre „jüngerer Generation“ vor ihr ist Marine Le Pen ehrlich davon überzeugt, dass für ihre „Bewegung“ nichts damit zu gewinnen sei, bereits verlorene Schlachten für die Rehabilitierung des historischen Faschismus erneut zu schlagen. Vor ihr hatte der damalige Chefideologe des FN, Bruno Mégret (keineswegs ein „Gemäßigter!“), in den 1990er Jahren eine ganz ähnliche Position eingenommen. Als Jean-Marie Le Pen einmal mehr durch einen so genannten Tabubruch auf sich aufmerksam machte – am 05. Dezember 1997 trat er in München an der Seite des früheren Waffen SS-Mitglieds Franz Schönhuber auf, bekräftigte erneut seinen Ausspruch über den Holocaust als point du détail und bezeichnete „die Deutschen“ als „das Märtyrervolk des Zweiten Weltkriegs“ (sic) -, hatte Mégret mit einer erstmaligen offenen Abgrenzung von seinem Vorsitzenden reagiert. Er erklärte dazu gegenüber der versammelten Presse: „Ich bin mit Jean-Marie Le Pen zu allen Fragen einverstanden, die die Zukunft Frankreichs betreffen.“ Dies beinhaltete indirekt auch die Aussage: Bei Fragen, welche hingegen die Vergangenheit betreffen, gehe ich nicht mit ihm konform.

Ferner ist Marine Le Pen biographisch tatsächlich weit weniger als ihr Vater vom traditionellen Antisemitismus der extremen Rechten beeinflusst. In Wirklichkeit allerdings war das Verhältnis des FN zum französischen Judentum und zum Antisemitismus stets doppelbödig. Denn aufgrund der französischen Geschichte existierte eine doppelte Realität: Das europäische Frankreich wies – wie andere Teile des Kontinents – eine Jahrhunderte lange Tradition der Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung auf. Doch in Nordafrika, wo Frankreich als Kolonialmacht auftrat (und besonders in Algerien, wo es eine Siedlungskolonie unterhielt und diese juristisch als „Bestandteil des Mutterlands“ behandelte), wirkte die französische Staatsmacht auf andere Weise auf die örtliche Bevölkerung ein. Dort wurden die einheimischen Juden gegenüber der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit aus Arabern und Berbern als privilegierte Gruppe behandelt; unter anderem, um einen Keil in die einheimische Bevölkerung zu treiben. In Algerien erhielten die dortigen Juden etwa durch das Décret Crémieux vom Oktober 1870 die volle französische Staatsbürgerschaft, während der Masse der Bevölkerung aus Arabern und Berbern die vollen Bürgerrechte bis zur Unabhängigkeit (1962) vorbehalten blieben. Im französisch beherrschten Algerien bestand eine Art konfessionell begründeten Apartheidsystems, in welchem die Rechtsposition der Individuen davon abhing, ob sie als „Christen“, „Juden“ oder „Moslems“ registriert waren.

Da nach der Unabhängigkeit Vertreter der moslemischen Bevölkerungsmehrheit die politische Führung übernahm, und da diese Unabhängigkeit nur durch einen blutigen Befreiungskrieg errungen werden konnte – was die Möglichkeiten eines späteren friedlichen Zusammenlebens reduzierte -, verließen viele Juden und viele Christen (oder europäische Siedler) 1962 das Land. Nicht alle, und manche algerische Juden wurden etwa nach der Unabhängigkeit Minister, doch eine Mehrheit unter ihnen. Bei jenen, die nach Frankreich übersiedelten, herrschten oft eine Art Kolonialnostalgie und revanchistische Hassgefühle gegen die arabische und berberische Bevölkerung Nordafrikas vor. Bei seinen ersten Wahlerfolgen in den 1980er Jahren waren die Pieds noirs (frühere Algeriensiedler) in der Wählerschaft des FN erheblich überpräsentiert. Diese politisch-historische Gemengelage beherrscht auch die Lebenswelt vieler ab 1962 aus Algerien nach Frankreich übersiedelter, nordafrikanischer Juden. Beim Front National war diese Personengruppe stets vertreten, auch wenn sie dort mit eingefleischten Antisemiten koexistieren musste. Marine Le Pens eigener Lebensgefährte und heutiger Vizevorsitzender in der Partei, Louis Aliot, kommt aus diesem Milieu: Seine Großelterngeneration zählte zu den nach Südfrankreich übersiedelten algerischen Juden. Diese biographische Prägung trug mit dazu bei, dass Marine Le Pen zum Antisemitismus (der in Teilen ihrer Partei nach wie vor floriert) ein gebrochenes Verhältnis hat.

Die Frage der Homophobie

Ähnlich gebrochen ist ihr Verhältnis in gewisser Weise auch zur, traditionell bei der extremen Rechten stark verankerten, Homophobie. Dies zeigte sich anlässlich der Massendemonstrationen gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare (welch letztere seit Ende 2012 angekündigt, und durch ein am 18.05.2013 in Kraft getretenes Gesetz vollzogen wurde).

Tatsächlich war der Front National über die eigene Haltung zu den Demonstrationen gespalten. Parteichefin Marine Le Pen war persönlich reserviert, was eine Teilnahme daran betraf: Zum Einen war sie überzeugt davon, dass es in Wirklichkeit eher „die wirtschaftlichen und sozialen Themen“ seien, die die französische Gesellschaft im Allgemeinen und die Wählerschaft ihrer Partei im Besonderen berührten. So genannte „weiche“ oder „postmaterielle“ Themen wie eben die Debatte um die Homo-Ehe seien nur Ablenkungen, mit denen die etablierten Parteien (ob für oder gegen die Einführung der Homosexuellenehe) die Aufmerksamkeit von der wirtschaftlichen Misere weglenkten. Zum Anderen wollte Marine Le Pen anfänglich aber auch vermeiden, dass ihre Partei in der öffentlichen Wahrnehmung in der superreaktionären Mief-Ecke steht. Da sie sich seit ihrem Antritt als Parteivorsitzende verstärkt um neue WählerInnenschichten – Frauen, jüngere Generationen, Leute mit höherem Bildungsgrad – bemüht, die bislang dem FN eher fern standen, und zu Anfang nicht vom Erfolg der Demonstrationen überzeugt war, blieb sie auf Abstand.

Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sie auch vom Erfolgsmodell der niederländischen extremen Rechten beeinflusst ist. Diese setzte erst in den Jahren 2001/02 unter Pim Fortuyn, später – ab 2006 – unter Geert Wilders auf eine Strategie, die etwa Frauen- oder Homosexuellenrechte nicht attackiert, sondern sich im Gegenteil zu ihrem „Verteidiger“ aufschwingt. Als Bedrohung für die individuellen Rechte von emanzipierten Frauen oder Homosexuellen werden dagegen die muslimischen Einwanderer, die den strategischen „Hauptfeind“ darstellen, stilisiert. Marine Le Pen traf Geert Wilders im April 2013 in Paris, und am 13. November 2013 traten beide zusammen in Den Haag bei einer Pressekonferenz auf, anlässlich derer sie ein Wahlbündnis für die Europaparlamentswahl von Ende Mai 2014 ankündigten. Ohne die Strategie von Fortuyn oder Wilders in Holland komplett zu kopieren und zu übernehmen, betrachtet Marine Le Pen diese doch als eine Erfolgsschiene, von der man etwas lernen könne. Auch die neue Parteivorsitzende des FN ist durchaus der Auffassung, dass man unterschiedliche Kräfte gegen einen gemeinsamen (muslimischen) Hauptfeind bündeln müsse. Darunter solche, die der extremen Rechten bislang fernstanden.

Diese Haltung war in ihrer Partei jedoch stark umstritten. Ihr Vater Jean-Marie Le Pen erklärte seine Unterstützung für die Proteste, ohne freilich persönlich zu erscheinen, was auch mit seinem Alter von damals (2003) bereits 85 zusammenhängen könnte. Und ihre Nichte Marion-Maréchal Le Pen – 23 Jahre junge Abgeordnete in der Nationalversammlung – sowie deren parteiloser, aber ebenfalls für den FN gewählter Parlamentskollege Gilbert Collard nahmen selbst an den Demonstrationen teil. Auch viele Parteifunktionäre und –mitglieder beteiligten sich daran.