Gelebte Betroffenheit

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Hannover gedachte am 25.1.2014 den Opfern des Nationalsozialismus mit einem Konzert in der geheizten Marktkirche – im Stadtteil List froren die Protestierer vor dem “Thor-Steinar-Laden”…

Peter M. Selliner

In Hannover war es den ganzen Tag eisigkalt gewesen. Das Thermometer pendelte um – 9 Grad Celsius. Die Aussicht, in den frühen Abendstunden die warme Wohnung zu verlassen, durch die Kälte zur U-Bahn zu gehen, nur um das Konzert anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus in Hannovers größter Kirche anzuhören, ((http://www.youtube.com/watch?v=G8RxjCs7e6A)) war zugegebenermaßen wenig verlockend. Aber die Neugierde siegte: Wie würde die Heimatstadt des Autors die Erinnerung aufrechterhalten? Geht das überhaupt, nach fast 70 Jahren?

…gut gewandetes Publikum

Vor etlichen Jahren hatte der Autor – mehr zufällig – die Gedenkveranstaltung in einer anderen Stadt besucht. Ein weltweit anerkannter Professor für Antisemitismusforschung hatte gesprochen. Der Gelehrte hatte äußerst charmant seinen Vortrag wie folgt eingeleitet: Hier stünde er nun vor einem interessierten, sehr gut gewandeten, honorigen und akademisch geschulten Publikum. Diese Sätze sind in der Erinnerung verblieben, der Vortrag nicht. Würde in der Marktkirche die gleiche Situation wie vor circa zwanzig Jahren herrschen?

Bereits eine halbe Stunde vor Konzertbeginn war die geheizte (!) Kirche gut gefüllt. Es hatte sich nichts geändert. Eher war der Stoff der Mäntel noch edler geworden und echte Pelze scheinen auch wieder in Mode zu sein. Der Akademikeranteil dürfte mindestens 85 % und das Durchschnittsalter 65 + betragen haben. Jüngere Besucher wurden kaum gesichtet. Aus den Gesprächen der Reihennachbarn wurde schnell klar, dass dieses Konzert nebst Chor und Dirigent jedes Jahr stattfindet. In der Tat: Im Internet finden sich Kritiken aus dem Jahre 2001. ((http://aggbkatalog.de/vufind/Record/ber4918.)) Man kennt sich also seit über einem Jahrzehnt.

Der Organist Alexander Ivanov eröffnete die Gedenkfeier mit dem Festpräludium für Orgel Nr. 1 von Louis Lewandowski. An diesem Abend wurden zudem Werke von Alfred Koerppen, Alfred Rose und Jacob Bachmann gespielt. Andor Iszák, Professor an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover geleitete durch das Konzert. Der Europäische Synagogalchor beeindruckte durch das Solo von Susanne Avenarius (Sopran). Das war in musikalischer Hinsicht ergreifend – was man von den Redebeiträgen nicht unbedingt behaupten konnte.

 “Eckkneipe” und “jüdische Bibel”

Zugegeben: Pünktlich Ende Januar eines jeden Jahres betroffen zu sein, ist anstrengend. Die deutsche Gedenkkultur pendelt – so scheint es – zwischen frömmelnder Heuchelei und bitterbösem Sarkasmus à la Henryk Broder. Man muss als Repräsentant des Staates und der Kirchen also gekonnt lavieren – noch dazu vor einem intellektuellen Publikum.

Der Stellvertretende Stadtsuperintendent, Thomas Höflich, ist ein vorsichtiger Mann und so dauerte seine Begrüßung der Ehrengäste eine gefühlte Weile. Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in Hannover wurden nicht genannt. Sie waren dem Konzert offenbar ferngeblieben. Ein Zeichen?!

Der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt, Stefan Schostock – erst seit Oktober 2013 im Amt – war aufgeregt. Das sah man ihm an. In seiner Not, es allen Recht zu machen und nicht in die vermeintlich böse Falle der „Konkurrenz der Opfer“ zu tappen, griff er zum Wikipedia-Artikel über den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und las diesen vor. ((Der Text der Rede des OB wurde auf einer Internetplattform www.braunschweigspiegel.de veröffentlicht. Es handelt sich um eine Abschrift vom Diktaphon. Zu den Aufzeichnungen des Autors ergeben sich keine gravierende Abweichungen, bis auf den Umstand, dass der OB den Internationalen Holocaustgedenktag in der Tat richtigerweise auf das Jahr 2005 datiert hat. Vergleiche in diesem Zusammenhang die Mitschrift mit dem den Wikipedia-Artikel http://de.wikipedia.org/wiki/Tag_des_Gedenkens_an_die_Opfer_des_Nationalsozialismus ( Aufzählung der Opfer) sowie mit der Originalquelle http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2008/01/10-1-btprgedenkstunde.html. Auf der Seite wurde ferner ein Leserbrief an die HAZ sowie ein offener Brief an den OB publiziert, siehe: http://www.braunschweig-spiegel.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4595:rede-zum-jahrestag-der-auschwitz-befreiung-vom-ob-hannovers-stefan-schostock&catid=66&Itemid=414.)) Ergänzend hielt er fest, dass der Holocaustgedenktag seinen Zweck erfülle, wenn man u.a. „nach dem Sport“ und in der „Eckkneipe“ über den Zivilisationsbruch offen spricht, für den Auschwitz steht. Der Banknachbar des Autors zog an dieser Stelle hörbar tief die Luft ein. Weder dürfte das Publikum, das sich in der Kirche versammelt hatte, unbedingt in die nächste „Eckkneipe“ gehen, noch wird es unter Alkoholeinfluss den Holocaustgedenktag zum Stammtischthema machen wollen – wenn es schlau ist…

Wesentlich eleganter zog sich die Landessuperintendentin für den Evangelisch-lutherischen Sprengel Hannover, Frau Dr. Ingrid Spieckermann, aus der Affäre. Sie las in der Übersetzung von „XYZ“ den Psalm 23 aus der „jüdischen Bibel“, den das Publikum dann im Anschluss vom Synagogalchor auch noch gesungen vernehmen konnte. Juden hätten in diesem Zusammenhang wohl eher den Begriff „Tanach“ bevorzugt.

Besser vorbereitet war der Domkapitular Propst Martin Tenge, Regionaldechant der Katholischen Kirche in der Region Hannover. Propst Tenge wies darauf hin, dass vor der Vernichtung, die Opfer im Denken der Täter vorsätzlich ihrer Würde beraubt wurden.

Nach einer Stunde war das Konzert beendet. Die Kirche leerte sich schnell, man entrichtete an der Tür seinen Obolus und ging in die dunkle Kälte. Bis zum nächsten Jahr…

Fazit: Ein beflissener Stellvertretender Stadtsuperintendent, ein überforderter Oberbürgermeister, eine minimalistische Landessuperintendentin und ein engagierter Propst übten sich in gelebter Betroffenheit pünktlich zum Holocaustgedenktag. Noch nicht einmal für Dietrich Bonhoeffer und seinen Satz : „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen!“ ((http://www.bonhoeffer.ch/zitate (M.w.N.).)) hatte es gereicht. Kein Wort zur aktuellen Debatte um den ehemaligen Ministerpräsidenten und eifrigen evangelischen Kirchenfunktionär (sic!) Hinrich Wilhelm Kopf und seine Verstrickung in den Raub von jüdischem Vermögen. ((http://buecher.hagalil.com/2013/10/nentwig/)) Dabei hatte der Oberbürgermeister zehn Tage vorher verkündete, dass er den Platz vor dem Landtag (“Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz”) umbenennen will. ((http://www.haz.de/Hannover/AusderStadt/Uebersicht/HinrichWilhelmKopfPlatzSchostokwillUmbenennung.))

Wachsamkeit

Hatte Bundespräsident Roman Herzog diese Form von Erinnerung im Sinn, als er 1996 per Proklamation den Gedenktag festlegte? Bestimmt nicht, statt dessen liest man im Gesetzesblatt:

„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“ ((http://archiv.jura.unisaarland.de/BGBl/TEIL1/1996/19960017.1.HTML))

Zur Wachsamkeit hat Roman Herzog aufgerufen. Was heisst das in einer Großstadt wie Hannover? Im letzten Jahr erst wurde die rechtsextremistische Gruppierung „Besseres Hannover“ durch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg verbote. ((http://www.oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=22004&article_id=117829&_psmand=134)) Die Szene ist aber nach wie vor sehr aktiv. Nur sieben U-Bahnstationen von der Marktkirche entfernt, hat sich ein “Thor-Steinar-Laden” im Stadtteil List festgesetzt. Thor Steinar ist ein Label, welches von Rechtsextremen bevorzugt wird. Das Tragen der Modemarke ist im Deutschen Bundestag verbote. ((http://www.hagalil.com/archiv/2013/12/19/thorsteinar/)) Jeden Samstag protestieren Anwohner und Betroffene stundenlang unermüdlich vor dem Geschäft in der Podbielskistraße. Auch am 25.1.2014 waren sie vor Ort und twitterten im jugendlichen Jargon

Kalt wars wie Sau aber trotzdem wars schoen… ((https://dede.facebook.com/gegenrechtenlifestyleinhannover.))

Im Jahre 69 nach der Befreiung der Konzentrationslager in Auschwitz genügt es nicht, sich in die kirchliche Trutzburg zurückzuziehen und dort Allgemeinplätze von sich zu geben. Neudeutsch formuliert: Sehr geehrte Damen und Herren, ändern Sie nach über zehn Jahren doch einmal Ihre „Performance“! Die Erinnerung an diesen Tag mahnt uns nämlich nicht nachzulassen in dem Bemühen, diesen staatszersetzenden, rechten Elementen wirkungsvoll und vor allen Dingen ambitioniert wie „dem Rad in die Speichen ( zu) fallen“. ((http://www.ekd.de/medien/film/bonhoeffer/index.html (m.w.N.)))

Hamburg-Glinde: “Autofahrer hupen als Zeichen der Solidarität”

Vor den Toren der Hansestadt, in Glinde, betreibt Thor Steinar seit dem Jahre 2011 ein Geschäft. ((http://www.abendblatt.de/region/stormarn/article124011865/NeujahrsempfanganderMahnwacheinGlinde.html.)) Mit den entsprechenden Folgen: Rechtsradikale Gestalten im Einkaufszentrum, ((http://www.abendblatt.de/region/stormarn/article110665771/ReinbekerinsollHitlergrussgezeigthaben.html.)) Hitlergruß, ((http://www.abendblatt.de/region/stormarn/article110665771/ReinbekerinsollHitlergrussgezeigthaben.html.)) Beschimpfungen von Ausländern usw. Dies ist deutsche Realität. In Glinde hat sich eine Bürgerinitiative gebildet, welche vom Bundesinnen- und Bundesjustizministerium zwischenzeitlich ausgezeichnet wurde. ((http://www.notonsberg.de/.)) Ihr Motto lautet: Weiter aufstehen, näher hinsehen, lauter einmischen. ((http://www.notonsberg.de/.)) Die Botschaft ist angekommen. Ein Glindener Bürger sagte ich diesem Zusammenhang anlässlich der Neujahrsmahnwache: „Ich bin heute mit meiner Tochter das erste Mal dabei“ (…) „Bisher bin ich immer nur mit dem Auto an der Mahnwache vorbeigefahren und habe gehupt. Das hat sich hier in Glinde als Zeichen der Solidarität entwickelt.“ Doch jetzt will er selbst mitmachen. „Weil die Masse etwas bewegen kann“. ((http://www.abendblatt.de/region/stormarn/article124011865/NeujahrsempfanganderMahnwacheinGlinde.html.)) Das Jahr ist noch jung – dergleichen wünscht man sich auch für Hannover. By the way: Die Initiative gegen rechten Lifestyle sucht noch einen Bollerwagen für ihre Flugblätter…. ((https://dede.facebook.com/gegenrechtenlifestyleinhannover.))