Skrupellos

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Wie die extreme Rechte in Frankreich einen Bahnunfall ausweidet, der dem schlechten Zustand des Schienennetzes (mit Ausnahme der TGV-Strecken) geschuldet ist. Und wie die rassistische Verschwörungs-Gerüchteküche brodelt…

Von Bernard Schmid, Paris

Wollen Sie gerne 5.000 Euro im Monat verdienen? Für eine Arbeitszeit von 17,5 Stunden wöchentlich? Dann willkommen beim Front National (FN), genauer, bei seiner Fraktion im Europäischen Parlament. Nein, nicht dass wir Ihnen zuraten würden, für gerade diesen Arbeitgeber tätig zu werden…. Letztendlich dürften Milch und Honig dort allerdings auch nicht für jede/n Erstbesten fließen. Aber für einen Louis Aliot schon, denn um sein fürstliches Gehalt für eine Teilzeitstelle als Fraktionsmitarbeiter geht es an dieser Stelle. Natürlich ist dies keinem Zufall geschuldet, sondern eher der Tatsache, dass der 43jährige promovierte Jurist nicht nur Vizevorsitzender der rechtsextremen Partei ist, sondern auch der Lebensgefährtin der obersten Chefin: Marine Le Pen.

Am 18. Juli 13 publizierte die, eher linke, Internetzeitung Médiapart entsprechende Informationen dazu ((vgl. http://www.mediapart.fr/journal/france/160713/marine-le-pen-en-plein-conflit-dinterets-au-parlement-europeen )), und suggerierte eine unangemessene Verwendung von Mitgliedern des Europaparlaments. Die Parteispitze des Front National reagierte darauf mit der Ankündigung einer Strafanzeige, wegen übler Nachrede. Den schlechten Eindruck, den diese Affäre erweckte, dürfte dies freilich nicht wegwischen.

Unterdessen profitiert der Front National allerdings von Vorgängen des aktuellen Geschehens, und dies mutmaßlich nicht zu knapp. Dazu zählt der schwere Bahnunfall in Brétigny-sur-Orge, im südlichen Pariser Umland. Am Abend des Freitag, den 12. Juli d.J. entgleiste dort ein Regionalzug Paris-Limoges; der Unfall forderte sechs Tote und mehrere Dutzend Verletzte. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das Unglück auf eine defekte Weiche zurückzuführen – und deren Zustand wiederum darauf, dass die französische Bahngesellschaft SNCF in den letzten dreißig Jahren alle Mittel auf den Ausbau der teuren Hochgeschwindigkeitszüge (TGV) konzentrierte, und vor allem das regionale Streckennetz im Pariser Umland unterdessen vor sich hin verrottete.

Dazu wurde schon kurz nach dem Unfall eine Strafanzeige gegen die Bahngesellschaft SNCF erstattet, doch die Ermittlungen wurden zunächst nur schleppend aufgenommen. So wurde bis heute kein Experte / keine Expertin ernannt, um ein unabhängiges Gutachten zu den Unfallursachen zu erstellen. Am Mittwoch, den 24. Juli 13 kündigte die linksliberale Tageszeitung ,Libération‘ an, dass die Staatsanwaltschaft am Nachmittag (nach einer Pressekonferenz zum Thema) neue Ermittlungsschritte einleiten werde.

Die Gerüchteküche zum Brodeln bringt allerdings nicht so sehr die (wahrscheinliche) Ursache des Unglücks, sondern einige ihrer Begleitumstände. So hielt sich über Wochen lang hartnäckig das Gerücht, „Jugendliche“ – der generische Begriff ,des jeunes‘ bezeichnet inzwischen in den Augen breiter Kreise Einwandererjugendliche aus den Sozialghettos der Vorstädte – hätten Opfer des Unfalls ausgeraubt und Leichen geplündert. Rechte Medien im Internet, aber auch viele Kommunikationsforen im Netz borden seitdem von wüsten Sprüchen nur so über. Etwa der Blog von Gérard Brazon, ehemaliger Lokalpolitiker der bürgerlich-konservativen UMP, jetzt Spitzenkandidat einer Liste des Front National im westlichen Pariser Umland bei den Kommunalwahlen im März 2014: „Bretigny: Die Hyänen, Dreckstücke, Schweinehunde von ,jeunes‘ rauben Tote aus, greifen Feuerwehrleuteund Polizisten an.“

Diese angeblichen Informationen wurden kurz darauf durch die Regierung dementiert, ebenso wie durch die Einsatzleitung. Lediglich ein einziger Fall sei bekannt, den Diebstahl des Handys einer Rettungsarztes betreffend, wurde von offizieller Seite erklärt. Aber Ende vergangener Woche wurde die Gerüchteküche erneut angeworfen: Ein Beamter der kasernierter Bereitschaftspolizei (CRS) behauptete in den Medien, bei der Ankunft seiner Einheit sei die Polizei von ,jeunes‘ attackiert worden, die „das Eintreffen der Rettungsdienste behindert“ hätten. Dies wurde allerdings schnell entkräftet: Die Rettungseinsätze begannen um 17.30 Uhr. Dagegen traf die CRS-Einheit, welcher der betreffende Beamte angehört, überhaupt erst um 19 Uhr vor Ort ein (von der Bezirkshauptstadt Evry her kommend).

Eine andere Vision, die die umstrittenen Tatsachen und die unterschiedlichen Versionen aufklären könnte, wiederum liefert die sozialdemokratische Tageszeitung Libération in ihrer Ausgabe vom Wochenende des 20./21. Juli 13. Sie schreibt unter Berufung auf Augenzeugenberichte, es hätten sich junge Leute unmittelbar zum Unfallzeitpunkt am verunglückten Zug befunden, die sich ins Innere der Waggon gestürzt hätten – allerdings nicht, um Tote oder Verletzte auszuplündern, sondern um Insassen zu helfen, unter denen sie Bekannte hatten. Von den eintreffenden Polizisten, die möglicherweise Anderes annahmen oder befürchteten, seien sie jedoch unter Einsatz von Knüppeln und Tränengas vertrieben worden. Genau dies habe zu den geschilderten Szenen von (kurzfristigen) Auseinandersetzungen geführt.

Das Brodeln de Gerüchteküche kann unterdessen nur der extremen Rechten, mit ihrem Hang zu Rassismus ebenso wie jenem zu Verschwörungstheorien, in die Hände spielen. FN-Chefin Marine Le Pen prangerte bereits eine „Strategie der Vertuschung missliebiger Tatsachen von Staats wegen“ in diesem Zusammenhang an.