Israelkritik oder Antisemitismus? Kriterien für eine Unterscheidung

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Wer sich mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzt, für den muss es in den regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen Debatten seltsam anmuten, dass gebetsmühlenartig wiederholt wird, nicht jede Kritik an Israel sei antisemitisch…

Von Samuel Salzborn
Erschienen in: Kirche und Israel, Neukirchener Theologische Zeitschrift, 28. Jahrgang, Heft 1/2013

Entlarvend daran ist nämlich zunächst, dass dies noch nie ernsthaft behauptet worden wäre — und dass man mit Sigmund Freud insofern darauf hinweisen muss, dass die (präventive) Verneinung mehr über den Sprecher und seine unbewussten Affekte aussagt als über den Inhalt. ((Vgl. Sigmund Freud: Die Verneinung (1925), in: Ders.: Gesammelte Werke Bd. XIV, Frankfurt 1999, S. 11—15.)) Denn: Wenn jemand etwas ohne Grund und Aufforderung von sich weist, dann verweist dies auf unbewusste Affekte bei der betreffenden Person, die gegen eine Wirklichkeit rebellieren, wie sie lediglich nur in der eigenen psychischen Phantasie existiert: Eine Rebellion gegen ein Sprechverbot also, das nur als Tabuphantasie, nicht aber real existiert.

Denn Fakt ist: Über kaum ein anderes Land der Welt wird in deutschsprachigen Medien so umfangreich, so intensiv und so kritisch berichtet wie über Israel. Und, mehr noch: Fast keiner dieser Berichte führt zu der Kritik, antisemitisch zu sein. Denn, und das ist auch bereits wichtig für die Debatte: Antisemitismus ist nicht, wie ebenfalls oft insistiert wird, ein (ungerechtfertigter) „Vorwurf‘, sondern wenn Äußerungen zu Israel als antisemitisch klassifiziert werden, dann handelt es sich dabei in der Regel um eine Kritik an antisemitischen Positionen. Wer diese entkräften will, müsste also argumentieren, warum die eigene Position nicht antisemitisch ist — und nicht Kritik zum „Vorwurf verniedlichen und damit relativieren.

Wer sich mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzt, weiß auch, dass die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Israelkritik eine im Prinzip ganz einfache und gänzlich unproblematische ist — denn nur wer wieder und wieder nach Leitplanken suchen muss, um seine eigenen Stellungahmen zu Israel gegen Antisemitismus (präventiv) in alle Richtungen abzusichern, ahnt unbewusst, dass es sich offenbar eben nicht um Israelkritik, sondern um antisemitische Ressentiments handelt und folglich auch nur nach einer Absolution gestrebt wird, die die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung freilich nicht erteilen kann. Denn: Wer sich antisemitisch äußert, muss auch als Antisemit benannt werden — das ist nicht nur wissenschaftlich geboten, im Sinne einer klaren und eindeutigen Analyse, sondern auch politisch erforderlich, weil Antisemitismus sich nicht erst in Taten, sondern gleichermaßen in Worten ausdrückt. ((Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/New York 2012.))

Insofern ist dieser Aufsatz denn auch für alle, die sich ernsthaft mit dem Thema Antisemitismus auseinandergesetzt haben, wenig interessant, weil in ihm lediglich zusammengefasst wird, was jeder weiß, der es wissen will — und wer es nicht wissen will, wird sich von diesem Text mit hoher Wahrscheinlichkeit auch keines Besseren belehren lassen, da das antisemitische Weltbild — das wissen wir seit Jean-Paul Sartre ((Vgl. Jean-Paul Sartre: Portrait de l’antisemite, in: Les Temps modernes, H. 3/1945, S. 442—170.)) — sich hermetisch gegen Kritik abschließt und dabei vor allem jede Dimension von Selbstkritikfähigkeit suspendiert. Horkheimer und Adorno konkretisierten dies in dem Hinweis, dass der Antisemit nicht die Wirklichkeit auf sich wirken lässt und demgemäß seine Einstellungen anpasst, sondern immer nur versucht, die Wirklichkeit gemäß seiner Wahnweltbilder zu verändern. ((Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.)) Was nicht passt, wird passend gemacht — um jeden Preis.

Insofern ist dieser Beitrag im Begriff der Kritischen Theorie möglicherweise auch eine Art Flaschenpost — deren Adressat vorläufig unbekannt bleiben muss. Er kann aber all jenen nutzen, die sich mit dem Thema noch nicht auskennen, aber den Antisemiten nicht auf den Leim gehen wollen — denjenigen also, die immer wieder notorisch behaupten, man dürfe im deutschen Sprachraum Israel nicht kritisieren und wenn man es tue, werde man gleich als Antisemit bezeichnet. Wer dies behauptet, hat damit in einem negativen Sinn vielleicht sogar Recht: denn wer der Phantasie anhängt, man dürfe Israel nicht kritisieren, also einem Verschwörungsmythos folgt (Wenn man schon die empirische Realität der medialen Berichterstattung nicht zur Kenntnis nehmen will, müsste man ganz pragmatisch einmal fragen: wer sollte Kritik an Israel denn überhaupt verbieten können?) und überdies für seine eigenen Äußerungen als antisemitisch kritisiert wird, der befindet sich vielleicht schon längst in einer self-fulfilling prophecy — weil er antisemitisch denkt und argumentiert, wird er auch deswegen kritisiert, nicht umgekehrt. Jakob Augstein ist dafür das jüngste und zugleich ein sehr anschauliches Beispiel. ((Vgl. Matthias Küntzel: Augstein und der Israelkomplex, in: Die Welt v. 15.01.2013; Samuel Salzborn: Dämonisierung mit dem Ziel der Delegitimierung. Interview in: Die Welt v. 16.01.2013.))

Dennoch ist es das Ziel des Beitrags, genau jenes Unterfangen in Angriff zu nehmen: die grundsätzliche Erklärung, wie sich (antizionistischer) Antisemitismus von Israelkritik unterscheidet und warum das eine mit dem anderen nichts zu tun hat — gleichsam aber gerade in der Sehnsucht, Israel kritisieren zu wollen, ohne dabei als antisemitisch erkannt zu werden, ein spezifisches Bedürfnis nach vergangenheitspolitischer Entlastung ohne Aufarbeitung eigener Schuld liegt, eine Sehnsucht, die eigene (familiäre und/oder nationale) antisemitische Vergangenheit durch eine antisemitische Gegenwart zu tilgen, die sich von jener nur dadurch unterscheidet, dass sie moralisch integer sein und nicht als das benannt werden will, was sie ist. Denn Antisemitismus ist das Gegenteil von Kritik, in ihm hebt sich jedes Potenzial auf reflexive Kritikfähigkeit strukturell auf. Insofern beginnt der Beitrag (1.) mit grundsätzlichen Überlegungen zu der Frage, wie sich Kritik vom Ressentiment unterscheidet, um dann (2.) die Kernelemente eines antizionistischen Antisemitismus zu skizzieren und diese schließlich (3.) anhand einer internationalen antisemitischen Kampagne exemplarisch zu diskutieren.

1. Kritik und Ressentiment

Antisemitisches Denken suspendiert Kritik und hebt jede Form von Selbstreflexion und damit Kritikfähigkeit, die sich zu allererst dadurch auszeichnet, auch das Potenzial zur Selbstkritik zu umfassen, grundsätzlich auf. In den Begriff der Kritik ist eine normative Distanzierungsfähigkeit zum Ressentiment eingelassen, das sich dadurch auszeichnet, dass in ihm die emotionale Affektivität gegenüber der rationalen Faktizität dominiert. Der sozialhistorische Prozess der Aufklärung hat den Menschen im Stande seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) ((Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, 3. Aufl., Darmstadt 1975, S. 53.)) in die Fähigkeit versetzt, sich Dank des cartesianischen Subjektverständnisses aus der Rolle eines passiven Objekts von Geschichte zu deren Akteur zu machen, die Perspektive dergestalt umgedreht, dass aus der Emanzipation von metaphysischen und übernatürlichen Heilsversprechen das Potenzial entstehen konnte, als Subjekt dem mit dem Kontraktualismus formulierten Versprechen der Freiheit auch eine politische Praxis zu geben. ((Siehe hierzu demnächst: Samuel Salzborn: Sozialwissenschaften zur Einführung, Hamburg 2013.)) Für den Modus von Kritik ist dabei zentral, dass dieser Prozess ein dialektischer war, dass die Emanzipation zum Subjekt auch das Potenzial der Selbstüberhöhung in sich trug, das sich aus dem Abschwören des Glaubens an eine übermenschliche Instanz der Glauben an die menschliche Allmacht generierte. Der Glaube an Gott wurde im Prozess der Aufklärung von einem Glauben an Natur und Technik abgelöst, der nun allenthalben natürliche Kräfte wirken sah, wo faktisch gesellschaftliche und kulturelle Phänomene dominierten. Dieser Aberglaube an die Natur hat ideengeschichtlich auch eine menschliche Phantasie bestärkt, die zumindest die monotheistischen Religionen stets etwas minimiert hatten: den Wunsch nach menschlicher Allmacht, nach vollständiger Natur- und Technikbeherrschung, nach Kontrolle von Leben und Sterben, nach Überwachung von Abweichung, nach narzisstisch ungezügelter Größe und Stärke. Die Kehrseite eines Postulats der Infragestellung von Religion war somit ein neuer Glaube: der an Natur und Technik.

Die dialektische Ambivalenz des Subjektwerdungsprozesses in der Aufklärung schreibt in den Begriff der Kritik die Notwendigkeit der Selbstkritikfähigkeit ein, soll das Potenzial der Vernunft nicht in eine lediglich „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer) zerrinnen, eine kalte, technische, verdinglichte Form von Rationalität, ((Vgl. Max Horkheimer: Eclipse of Reason, New York 1947.)) die sich lediglich an einer rein formalisierten Distanz zum Nichtsubjektiven misst, nicht aber an einer Relationalität der eigenen Sterblichkeit — und das heißt: der menschlichen Fehlbarkeit. Wer politische Urteile fällt, ganz gleich, in welcher Form, hypostasiert insofern prinzipiell drei Varianten von Artikulationsfähigkeit: eine mythologische, die das Versprechen der Aufklärung nicht realisieren kann oder will, eine instrumentelle, die das Versprechen der Aufklärung selbst als eine Inthronisierung des Glaubens an den allmächtigen Menschen konterkariert, und eine selbstkritische, die aufgrund ihrer Einsicht in den menschlichen Subjektcharakter dazu in die Lage versetzt ist, die eigene Sterblichkeit und damit Fehlbarkeit des subjektiven Denkens einräumen zu können, ja mehr noch: sie zu akzeptieren. Letztere Variante der Artikulation folgt dem Modus der Kritik, die beiden erst genannten tendieren — aus ganz unterschiedlichen Richtungen — jeweils zu dem des Ressentiments.

Kritik unterscheidet sich grundsätzlich von einer rein affektiven Hingabe an eine Emotion, ein Gefühl, kurzum eine unreflektierte und nicht an den Maßgaben der Rationalität gemessene Einschätzung, die sich für Fakten nicht interessiert, sondern die eigene Weltsicht über jede Form von Faktizität stellt. Diese findet sich in der Unaufklärbarkeit des Antisemitismus, der nicht trotz, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeit — etwa in der antisemitischen Phantasie, Juden seien sowohl für Liberalismus wie Sozialismus verantwortlich — geglaubt wird. ((Vgl. Wolfgang Frindte: Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift, Wiesbaden 2006.)) In ihrer mythologischen Form überhöht diese Variante des Ressentiments den Glauben an ein (antisemitisches) Weltbild, in dem jede Form des aus der Wirklichkeit resultierenden Widerspruchs für unwahr gehalten wird, weil sie dem eigenen Glaubensbild widerspricht; in ihrer instrumentellen Form aber wird dieses (antisemitische) Ressentiment zur raunenden Meinung, zum „Gerücht über die Juden“ (Adorno), ((Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt 1997, S. 125.)) zu einer nicht die Faktizität der Welt durch Glauben entstellenden Weltsicht, sondern zu einem Trugbild, in dem die Fakten geändert und entstellt werden sollen — gemäß den eigenen Wahnvorstellungen. Diese Variante des antisemitischen Ressentiments erfindet Pseudo-Fakten durch Überzeichnung, Umdeutungen, Neuinterpretation, Neusortierung oder auch vorsätzliche Manipulation, ((Exemplarisch zeigt sich dies an Foto- und Videomaterial, das von palästinensischer Seite systematisch gestellt, inszeniert und damit vorsätzlich gefälscht wird, um es westlichen Medien, denen freie Berichterstattung in den palästinensischen Gebieten weitgehend untersagt ist, als Bildmaterial für deren Berichte zu überlassen. Vgl. Esther Schapira/Georg M. Hafner: Die Wahrheit unter Beschuss — der Nahostkonflikt und die Medien, in: Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hg.): Aktueller Antisemitismus — ein Phänomen der Mtte, Berlin/New York 2010, S. 115—131.)) sie formt sich ihre Welt gemäß ihres Meinungswahns neu: das, was Israel zugeschrieben wird, ist hier nun eine endlose Schleife an Neudeutungen aus dem Wahnsinn der grandiosen Überhöhung des Subjektes, einer Folge der gottlos gewordenen Aufklärung — das Monströse eines Subjektes, das sich seiner eigenen Sterblichkeit, seiner eigenen Marginalität und seiner eigenen Banalität nicht mehr bewusst sein will und diese durch die Anpassung der Wirklichkeit an sein Wahnweltbild zu unterdrücken versucht.

Beide Varianten des Ressentiments, die mythologische und die instrumentelle, sind im Ergebnis antisemitisch — und sie sind grundsätzlich unterschieden von Kritik, die sich von der einen dadurch abhebt, dass sie die Wirklichkeit im Sinne einer Faktizität zur Kenntnis nimmt, von der anderen aber dadurch, dass sie die Interpretation nicht einfach der Anpassung an die eigene psychische Devianz überlässt, sondern an rationalen, d.h. durch Dritte objektiv nachprüfbare Instanzen anbindet. An einem Beispiel gesprochen: Im Rahmen einer israelischen Militäraktion wäre eine solche rationale Instanz etwa die Frage nach gültigen Rechtskriterien, sowohl des israelischen, wie des internationalen Rechts. Im Falle der von der Friedensbewegung abgelehnten israelischen Militäraktion gegen die (illegale und unter der Federführung türkischer Rechtsextremisten durchgeführte) Gaza-Flottille im Mai 2010 hat die Prüfung internationalen Rechts durch die United Nations ergeben, dass das israelische Militär zwar hart, aber fraglos im Rahmen gültiger Konventionen gehandelt hat. ((Vgl. Geoffrey Palmer/Alvaro Uribe/Joseph Ciechanover Itzhar/Süleyman Özdem Sanberk: Report of the Secretary-General’s Panel of Inquiry on the 31 May 2010 Flotilla Incident, o.O. 2011.)) Die mythologische Variante des Ressentiments hat diese Fakten schlicht nie zur Kenntnis genommen und polemisiert weiterhin gegen den israelischen Einsatz gegen die Flottille mit Verweis auf angebliche Grausamkeiten, Brutalitäten usw., die instrumentelle hat die Behauptung aufgestellt, dass die internationalen Gremien nun offensichtlich das Recht falsch ausgelegt hätten — was dann offenbar eben nur diejenigen „richtig“ könnten, die es so auslegen würden, wie die Israelhasser es für richtig halten.

Kritik, so viel kann an dieser Stelle festgehalten werden, unterscheidet sich insofern doppelt vom Ressentiment, in seiner Distanz zum Mythos und in seiner Distanz zum Instrumentellen. Ein wesentlicher Lackmustest für die Praxis kann immer die Frage sein, ob diejenigen, die Israel zu kritisieren meinen, auch bereit sind, die eigene Weltsicht in Frage zu stellen und ob sie dazu in der Lage sind, aufgrund von Fakten ihre eigene Position zu revidieren. Sind sie dies nicht, dann formulieren sie keine Kritik, sondern lediglich Ressentiment — ob in seiner mythologischen oder seiner instrumentellen Variante, ist im Ergebnis nebensächlich.

2. Elemente des antizionistischen Antisemitismus

In der sozialwissenschaftlichen und historischen Antisemitismusforschung hat es sich etabliert, zwischen fünf Artikulationsformen von Antisemitismus zu differenzieren: dem religiös-antijudaistischen, dem rassistischen, dem sekundären/ Schuld abwehrenden, dem antizionistischen/antiisraelischen und dem islamistischen. ((Vgl. Samuel Salzborn: Antisemitismus, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hgg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011-01-19. URL: http://www.ieg-ego.eu/salzborns-2011-de.)) Wichtig ist zu betonen, dass es keine Hierarchie zwischen diesen Artikulationsformen gibt, also nicht die eine „harmloser“ ist als die andere, sondern dass es sich bei allen diesen Formen lediglich um Varianten im Ausdruck, nicht aber in der Substanz handelt: sie alle sind Ausdruck von Antisemitismus, der sich aber historisch jeweils wandelt. Ein zweites Missverständnis sei auch ausgeräumt: wenngleich eine chronologische Annahme in den fünf Artikulationsformen liegt, sie also historisch in unterschiedlichen Epochen aufeinander folgend erstmals aufgetreten sind, so existieren doch alle bis heute fort, zum Teil mit wechselseitigen Überlappungen und Überschneidungen, mal ist die eine dominanter, mal die andere.

Wenn also von antizionistischem Antisemitismus die Rede ist, dann ist dieser zu verstehen als Ausdruck desjenigen antisemitischen Ressentiments, das sich seine Projektionsfläche im Staat Israel, der Idee des Zionismus und/oder der Politik Israels sucht. Er ist und bleibt, ohne Wenn und Aber, Antisemitismus — der sich eben lediglich mit einer bestimmten Projektionsorientierung artikuliert und, was hier allerdings nur am Rande vermerkt werden kann, in einer Weise äußert, die auf eine Umwegkommunikation verweist, ((Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb: Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 2/1986, S. 223—246.)) in der andere Formen antisemitischer Ressentiments auf einem kommunikativen Umweg artikuliert werden, der öffentlich weit weniger oder gar nicht sanktioniert wird. ((Vgl. Aribert Heyder/Julia Iser/Peter Schmidt: Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 3, Frankfurt 2005, S. 144—165.))

Der Begriff des antizionistischen bzw. antiisraelischen Antisemitismus ist innerhalb der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung vielfältig diskutiert worden ((Vgl. Phyllis Chesler: The new anti-Semitism. The current crisis and what we must do about it, San Francisco 2003; Bernd Fechler/Gottfried Kößler/Astrid Messerschmidt/Barbara Schäuble (Hg.): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, hgg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts und der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, Frankfurt/New York 2006; Walter Laqueur: The changing Face of Antisemitism. From Ancient Times to the Present Day, New York 2006; Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt 2004.)) und gilt als eine der wesentlichen Spielarten nicht nur, aber besonders des linken Antisemitismus. ((Vgl. Philipp Gessler: Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität, Freiburg/Basel/Wien 2004, S. 83ff.; Martin W. Kloke: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, 2. erw. Aufl., Frankfurt 1994.)) Wolfgang Kraushaar hat kürzlich gezeigt, dass der antizionistische Antisemitismus sogar die Wiege des bundesdeutschen Terrorismus war. ((Vgl. Wolfgang Kraushaar: „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Reinbek bei Hamburg 2013.)) Gleichwohl findet sich der gegen Israel gerichtete Antisemitismus in allen Teilen der Gesellschaft und allen politischen Spektren. ((Vgl. Claudia Globisch: Gegenwärtige linke und rechte Semantiken zwischen Antisemitismus, antisemitischem Antizionismus und Israelfeindschaft, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungsband des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt 2008.)) In der Arbeitsdefinition der Europäischen Union sind dabei die zentralen Charakteristika als Elemente eines antizionistischen bzw. antiisraelischen Antisemitismus zusammengefasst, die sozialwissenschaftlich als gegenwärtiger Minimalkonsens innerhalb der Antisemitismusforschung angesehen werden können — obgleich gerade in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht noch weiterer Spezifizierungsbedarf dieser Arbeitsdefinition besteht. ((Vgl. Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/New York 2010.)) Als Kernbestandteile eines antizionistischen Antisemitismus werden in der Arbeitsdefinition der Europäischen Union genannt:

• „Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
• Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird.
• Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
• Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
• Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen.“ ((EUMC: Working Definition of Antisemitism (2004), in:
http://www.fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/AS-WorkingDefinition-draft.pdf (dt. Übersetzung: European Forum on Antisemitism).))

Die Kurzfassung dieser Minimaldefinition wird oft auf die Formel der Drei-Ds gebracht: Delegitimation, Dämonisierung, doppelte Standards — sind sie anzutreffen, dann ist davon auszugehen, dass es sich nicht um den Modus der Kritik an Israel, sondern um antizionistischen Antisemitismus handelt. Die europäische Minimaldefinition zeigt, dass Antisemitismus immer dann vorliegt, wenn die grundsätzliche Legitimation des Staates Israel in Frage gestellt wird, was auch Unterstellungen beinhaltet, nach denen Israel rassistisch agiere oder auf rassistischen Prinzipien basiere. Antisemitismus — und nicht Kritik — ist es, wenn die konkrete Politik Israels mit doppelten Standards gemessen und bewertet wird, was zwei Dimensionen umfasst: Die erste Dimension des Anlegens von doppelten Standards besteht darin, israelische Aktionen (etwa des Militärs) prinzipiell anders zu bewerten als die (para-)militärischen Aktionen anderer Akteure, etwa der Palästinenser. Häufig findet sich das Muster, dass die IDF mit radikalen Formulierungen belegt wird, zugleich aber die Aktionen von palästinensischen Terroristen verschwiegen oder sogar (als „Widerstand“) verharmlost werden. Die zweite Dimension der doppelten Standards besteht darin, Israels Reaktionen auf den Terrorismus in gleicher Weise zu verurteilen wie den palästinensischen Terror — und damit einerseits die Rolle des Aggressors umzukehren und zu projizie-ren, aber andererseits das Handeln eines demokratischen, völkerrechtlichen Souveräns mit dem von paramilitärischen bzw. terroristischen Gruppen gleichzusetzen, die autoritäre und totalitäre Ziele verfolgen.

Antisemitismus ist der Definition nach ebenfalls, wenn Stereotype, Metaphern und Vergleiche Verwendung finden, die Israel mit traditionellen Formen des Antisemitismus (etwa religiös-antijudaistischen oder rassistischen) identifizieren und die Politik Israels direkt oder indirekt mit dem Nationalsozialismus vergleichen. Hier tritt am deutlichsten der psychologische Wunsch zutage, vermittels eines anti-zionistischen Antisemitismus die eigene Verstrickung in die NS-Vergangenheit zu relativieren und die geschichtspolitische Verantwortung zu projizieren. Schließlich ist es auch Antisemitismus, wenn die Politik des Staates Israel oder einzelner Akteure der israelischen Politik zum Anlass genommen wird, dafür nicht Israel oder konkrete Akteure zu kritisieren, sondern sie gegen (die) Juden zu wenden — was in doppelter Weise falsch ist: einerseits, indem Juden weltweit für Israels Politik in Regress genommen werden, obwohl sie keine israelischen Staatsbürger sind, andererseits aber auch, weil so alle Israelis kollektiviert werden — entgegen dieser völkischen Phantasie gibt es aber im „jüdischen Staat“ auch nicht-jüdische Staatsbürger: nicht jeder Jude ist Israeli, aber auch nicht jeder Israeli ist Jude.

3. Internationaler Antisemitismus: die BDS-Kampagne

Ein Beispiel für eine einflussreiche antisemitische Kampagne gegen Israel, die strukturell von Kritik unterschieden werden kann, ist die so genannte BDS-Kampagne. Die Abkürzung steht für „Boycott, Divestment and Sanctions“ und verfolgt das Ziel, Israel international zu diskreditieren und zu delegitimieren. ((Vgl. das „Gründungsdokument“ der BDS-Kampagne (alle weiteren Zitate der BDS-Kampagne nach dieser Quelle): Palästinensische Zivilgesellschaft ruft zu Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen gegen Israel auf, bis es internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt (9. Juli 2005), in: http://www.bdsmovement.net/call.)) Die Kampagne basiert auf der Unterstellung, Israel würde internationales Recht, insbesondere die Menschenrechte missachten und müsse deswegen mit harten Sanktionen belegt werden. Die Kampagne behauptet dabei in einer vorsätzlichen (möglicherweise nicht bewussten) Lüge, der Staat Israel sei „größtenteils auf Land gegründet“ worden, welches „zuvor von seinen palästinensischen BesitzerInnen ethnisch gesäubert wurde“ — zutreffend ist hingegen, dass die palästinensische Seite sich schon historisch geweigert hat, die von Israel akzeptierten Kompromisslösungen anzuerkennen, wobei überdies die Gründung Israels nicht durch „ethnische“ Säuberungen ermöglicht wurde, sondern dadurch, dass die vormaligen arabischen Grundbesitzer ihre Grundstücke freiwillig verkauft haben.

Nach dem Ersten Weltkrieg war das damalige Palästina 1922 als Völkerbundmandat an Großbritannien gefallen, das sich in Übereinstimmung mit den USA bereits zuvor in einer Erklärung des Außenministers Lord Arthur James Balfour (der so genannten Balfour-Deklaration) vom 2. November 1917 gegenüber dem Präsidenten der Englischen Zionistischen Föderation, James de Rothschild, für eine „nationale Heimstatt für die jüdischen Menschen in Palästina“ ausgesprochen hatte. Das in der Balfour-Deklaration gegebene Versprechen der Errichtung eines jüdischen Staates wurde in das britische Völkerbundmandat über Palästina inkorporiert. Die bereits vor dem Aufkommen des Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts begonnenen Einwanderungen (Alijot) in das historische Land Israel (Erez Jisrael) wurden so politisch erleichtert, und die Mandatsbehörden unterstützten den Aufbau der Infrastruktur in erheblichem Maße. Bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs hatte der Nationalfonds Keren Kajemet LeIsrael begonnen, Land in Palästina zu kaufen, das zum größten Teil zum Besitz meist im Ausland lebender arabischer Großgrundbesitzer gehörte. Die auf der ganzen Welt durch den Nationalfonds gesammelten Spenden wurden von der Jewish Agency verwaltet, die maßgeblich die Einwanderung nach Israel organisierte und den Aufbau eines Erziehungs- und Gesundheitswesens betrieb. Der vielmals erhobene Vorwurf, jüdische Siedler hätten das Land unrechtmäßig erworben und es handele sich um „zionistischen Siedlungskolonialismus“, erweist sich dabei als nicht haltbar — schließlich wurden die arabischen Großgrundbesitzer keineswegs zum Verkauf gezwungen, sondern sie waren aufgrund der seit Jahrhundertbeginn stetig steigenden Landpreise geradezu motiviert zur Abgabe ihres Besitzes. Ungeachtet dessen ist aber davon auszugehen, dass die „damals systematisch und planvoll betriebene Inbesitznahme von Grund und Boden einer der auslösenden Momente für den sich bald gewaltsam entladenden Konflikt zwischen Juden und Arabern werden sollte.“ ((Ralf Balke: Israel, München 2000, S. 49.))

Die BDS-Bewegung bezieht sich in ihrer Kampagne zur Selbstlegitimation explizit auf den „Kampf der Südafrikaner gegen die Apartheid“, was doppelt falsch ist, weil Israel keine ethnisch diskriminierende Staatsangehörigkeitsregelung hat und überdies — im Unterschied zum rassistischen Südafrika — kein autoritäres Regime ist, sondern die einzige Demokratie in der Region. In der BDS-Kampagne werden dann „gewaltlose Strafmaßnahmen“ gegen Israel gefordert, mit denen Israel dazu gezwungen werden soll, folgende Punkte umzusetzen, dass Israel:

„1. Die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes beendet und die Mauer abreißt;
2. Das Grundrecht der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt; und
3. Die Rechte der palästinensischen Flüchtlingen, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und fördert.“

Die BDS-Kampagne ist eine moralisch imprägnierte palästinensische Interessenartikulation, mit der international der politische Druck auf Israel erhöht und die palästinensische Politik flankiert werden soll. An wesentlichen Punkten der Kampagne kann gezeigt werden, dass sie nicht um Kritik bemüht ist, sondern ihrer Intention nach antisemitisch. Bereits in der Schlussforderung, dem so genannten Rückkehrrecht, wird deutlich, dass, würde man dies in der palästinensischen Lesart akzeptieren, es um die Vernichtung Israels geht. Denn die palästinensische Sicht besteht in der Annahme einer „Vererbbarkeit“ des Flüchtlingsstatus, d.h. die so verstandenen Flüchtlinge werden von Jahr zu Jahr mehr und potenzieren damit auch ihren Eigentumsanspruch. In Verbindung mit der Formel der Beendigung von „Besatzung und Kolonisation allen arabischen Landes“, zu dem gemäß der Unterstellung, Israel habe „ethnische“ Säuberungen betrieben, offensichtlich auch weite Teile Israels gezählt werden (wenn nicht sogar ganz Israel), ist eine Parole, die auf die Delegitimierung (auch durch die Unterstellung von rassistischer Politik), mehr noch aber auf die Vernichtung Israels abzielt.

Die generelle NS-Analogie der Kampagne besteht überdies darin, dass sie die Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden“ reaktiviert und auf Israel überträgt, wobei zahlreiche BDS-Aktivisten ihre Forderungen in fast identischer optischer Initiierung z.B. in Deutschland vor Geschäften zum Ausdruck bringen, in denen israelische Produkte verkauft werden. ((Vgl. Elke Wittich: Die Boykotteure, in: Jüdische Allgemeine v. 04.01.2013.)) Damit wird auch die Kollektivierung von Juden, die für die Politik Israels in Regress genommen werden, im Sinne einer antisemitischen Zuspitzung, vollzogen. Charakteristisch für die BDS-Kampagne ist auch die generelle Umdrehung von Ursache und Wirkung — was auf einen Aspekt verweist, bei dem die Arbeitsdefinition der Europäischen Union durchaus Ergänzungsbedarf hat: denn es ist nicht nur für den so genannten sekundären, d.h. Schuld abwehrenden Antisemitismus charakteristisch, eine Täter-Opfer-Inversion vorzunehmen und die Schuld für antisemitische Verfolgung bei den Juden selbst zu suchen, wie ihnen auch die Verantwortung für alle Folgen — von Zahlungen an Israel bis hin zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung der Vergangenheit — projek-tiv zuzuschreiben, sondern dies ist auch ein charakteristisches Merkmal für antizionistischen Antisemitismus: die Täter-Opfer-Umkehrung und die Verkennung der historischen Faktizität, dass es gerade die palästinensischen Organisation waren und vielfach bis heute noch sind, die eine Vernichtung Israels anstreben, die die individuellen Freiheits- und Menschenrechte miss- und verachten und stattdessen ein totalitäres System einer islamistischen umma installieren möchten, in dem schon allein die Vorstellung des Menschen als Subjekt suspendiert ist, die von Anfang an jede Form von Koexistenz abgelehnt und es überdies die arabischen Armeen waren, die Israel von der Staatsgründung an angegriffen haben.

Die palästinensischen Bewegungen hatten von Anfang an die Vernichtung Israels als zentrales Ziel, und Gruppen wie die Hamas sind bis heute davon nicht abgewichen. Der Kern ihrer Politik ist Antisemitismus. Was würde passieren, wenn sich Israel — als einzige Demokratie in der Region — nicht wehren würde? Dann hätten die Antisemiten erreicht, was sie wollen, der Staat Israel würde zerstört und seine Bürgerinnen und Bürger ermordet. Die BDS-Kampagne misst insofern auch mit doppelten Standards, weil hier Boykottforderungen gegen eine Demokratie — und nicht eine Autokratie — vorgetragen werden: während etwa die palästinensischen Gruppierungen nicht dazu angehalten werden, ihre barbarischen Selbstmordattentate oder den auf Zivilisten gerichteten Raketenbeschuss einzustellen, werden israelische Schutzprojekte gegen diesen Terrorismus wie die als „Mauer“ titulierte Grenzbefestigungsanlage (die fast überall ein Zaun und keine Mauer ist) infrage gestellt und insofern ein folgenschwerer doppelter Standard angelegt: denn würde Israel sich nicht gegen die antisemitischen Vernichtungsdrohungen und ihre Praxis in der palästinensischen Politik schützen und wehren, dann wäre nicht nur sein Selbstverteidigungsrecht beschnitten, sondern seine Existenz und damit das Leben aller israelischen Bürgerinnen und Bürger bedroht.

Zuletzt aber zeigt sich die antisemitische Ausrichtung der BDS-Kampagne auch darin, dass mit ihr Individuen bekämpft werden, um auf diesem Weg den jüdischen Staat zu treffen: jede Boykottmaßnahme, die sich gegen ein demokratisches Regime richtet, trifft zuvörderst die boykottierten Individuen — vom Gemüsehändler bis zum Naturwissenschaftler. Denn alle werden in Kollektivhaftung genommen, ausschließlich aufgrund ihrer vermeintlichen oder realen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, sie alle werden für etwas abgestraft, was mit ihrer persönlichen Haltung und Person nichts zu tun hat — was, nebenbei bemerkt, auch auf ein völkisches Verständnis von Strafrecht verweist: es geht nicht darum, was ein Individuum tut, sondern um seine soziopolitischen Hintergründe — dies ist exakt das Strafrechtsverständnis des Nationalsozialismus, der auch nicht die Tat, sondern die Täter bestrafte und insofern dieselbe Tat in einem Fall als Straftat und im anderen Fall als legitime Handlung bewertete, je nachdem, wer die Tat ausgeübt hatte.

So vollzieht es auch die BDS-Kampagne: Die individuell boykottierte Person oder Institution wird nicht dafür in Haftung genommen, was sie tut (oder nicht tut), sondern ausschließlich dafür, was sie ist — oder für was sie die Antisemiten aus der BDS-Bewegung halten. Damit vollstreckt die BDS-Kampagne das Menschen- und Weltbild des Nationalsozialismus, dessen Artikulationsformen sich ausgiebig bedient wird. Zugleich verweist der Ansatz aber zudem noch auf eine implizite Vorstellung vom Eigenen, denn: in einer liberalen Demokratie ist evident, dass Boykottmaßnahmen in erster Linie auch immer den individuellen Akteur ökonomisch treffen. Nimmt man aber an, dass man, wenn man z.B. einem Importeur israelischer Produkte seine Waren nicht abkauft, dem Staat Israel Schaden zufügt und nicht dem Händler selbst, offenbart dies die unbewusste, eigene Vorstellung von politischer und ökonomischer Ordnung als einer Ordnung, in der das Individuum nichts zählt, das Kollektiv aber alles. Insofern zeigt die BDS-Kampagne auf der symbolischen Ebene auch, dass ihre Anhänger zugleich einer antidemokratischen Vorstellung von Politik und Ökonomie anhängen, in der das Individuum lediglich als homogener Teil des Kollektivs verstanden wird und damit seiner Subjekthaftigkeit beraubt ist. ((Vgl. zu den demokratiepolitischen Fragen: Samuel Salzborn: Demokratie. Theorien — Formen — Entwicklungen, Baden-Baden 2012.))

Resümee

Die exemplarische Diskussion der Forderungen und Ziele der BDS-Kampagne als einer international agierenden antisemitischen Bewegung zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Israelkritik und Antisemitismus nicht nur durchaus trennscharf möglich ist, sondern auch auf transparenten und leicht nachvollziehbaren Kriterien beruht. Dass in der öffentlichen Debatte oft Verwirrung über die Differenz zwischen Kritik und Ressentiment herrscht, hat nichts mit der Sache, dafür aber alles mit den Akteuren zu tun — und ihrer Unwilligkeit oder Unfähigkeit, mit Blick auf das Thema Antisemitismus im Kontext des Nahost-Konfliktes Fakten von Meinungen zu unterscheiden. Der Ausgangspunkt aller Diskussionen kann doch nur sein: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, die seit ihrer Gründung ununterbrochen angegriffen wird und sich gegen diese Angriffe verteidigt — wie jede andere Demokratie dies auch tut oder tun würde. Wer hinter diesen basalen und banalen Anspruch zurückfällt, hat wesentliche Grundlagen einer Kritikfähigkeit bereits verspielt und agiert auf Basis eines mythologischen oder instrumentellen Weltbildes. Dass man von diesem axiomatischen Ausgangspunkt jede einzelne Aktion der israelischen Politik kritisieren kann, ohne antisemitisch zu sein, werden die Antisemiten jedoch ebenso wenig zu verstehen in der Lage sein, wie es für diejenigen, die sich intensiv mit dem Thema befasst haben, sowieso selbstverständlich ist.

Samuel Salzborn ist Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Seine kürzlich veröffentlichte Habilitationsschrift
„Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne“ (2010) bietet einen profunden Vergleich sozialwissenschaftlicher Antisemitismus-Theorien und konfrontiert diese mit empirischer Antisemitismusforschung.

Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung bei:
Kirche und Israel