Vom Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau

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Der diesjährige Holocaust-Gedenktag, Jom haSchoa, steht im Zeichen des 70. Jahrestags des Aufstands im Warschauer Ghetto…

Zu diesem Anlass möchten wir hier einige Passagen aus einer von Josef Wulf 1958 herausgegebenen Schrift zum Warschauer Ghetto wiedergeben, in der er mit verschiedenen Quellen die Geschichte des Ghettos von seiner Einrichtung im Oktober 1940 bis zur Niederschlagung des Aufstands im Mai 1943 und der vollständigen Zerstörung dokumentiert. Ein Großteil der Quellen stammt dabei aus dem Untergrundarchiv von Emanuel Ringelblum, das Kapitel über den Aufstand enthält neben Aussagen und Erinnerungen jüdischer Kämpfer Auszüge aus dem Bericht des SS-Brigadeführers Jürgen Stroop.

Vom Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau

Eine halbe Million Juden im Warschauer Ghetto ((Poliakov-Wulf I, Seite 179 — Dr. Franks Tagebücher.))

Was die Behandlung der Juden anbelangt, so habe ich genehmigt, daß in Warschau das Ghetto geschlossen wird, vor allem weil festgestellt ist, daß die Gefahr von den 500 000 Juden so groß ist, daß die Möglichkeit des Herumtreibens unterbunden werden muß.
(Abteilungsleitersitzung am 12. September 1940 in Krakau)

Ein Bericht ((Archiv des J, H. I. aus einem Vortrag des Umsiedlungsamtsleiters beim Distriktgouverneur Warschau — Waldemar Schön — über das Warschauer Ghetto am 20. Januar 1941.))

Der jüdische Wohnbezirk ist etwa 403 ha groß. Auf diesem Gebiet wohnen nach Angaben des Judenrates, der eine Volkszählung vorgenommen haben will, etwa 410 000 Juden, nach unseren Beobachtungen und Schätzungen, die von verschiedenen Seiten vorgenommen wurden, etwa 470 000 bis 590 000 Juden.

Unter Zugrundelegung der statistischen Angaben des Judenrates und der Inabzugbringung der Grundflächen und Friedhöfe wohnen 1108 auf einem Hektar bebauter Fläche, d. h. also 110800 Personen auf dem Quadratkilometer der Gesamtgrundfläche und 38000 auf dem Quadratkilometer bebauter und bewohnbarer Fläche.

Bemerkt sei, daß die Zahl eine Vermehrung durch eine erneut erforderlich gewordene Umsiedlungsaktion von 72000 Juden aus dem westlichen Teil des Distrikts erfährt. Es muß Platz für 62000 evakuierte Polen geschaffen werden.

Im jüdischen Wohnbezirk sind etwa 27 000 Wohnungen mit einem Zimmerdurchschnitt von zweieinhalb Zimmern. Die Belegung errechnet sieh demnach auf 15,1 Personen pro Wohnung und sechs bis sieben Personen pro Zimmer.

Der jüdische Wohnbezirk ist von dem übrigen Stadtgebiet unter Ausnutzung von Brand- und Trennmauern und durch Vermauerung von Straßenzügen, Fenstern, Tür- und Baulücken abgetrennt. Die Mauern haben eine Höhe von 3 Meter und werden durch einen Stacheldrahtaufsatz um einen weiteren Meter erhöht.

Motorisierte und berittene Polizeistreifen sichern außerdem die Überwachung.

In der Ummauerung waren zunächst zur Aufrechterhaltung des noch notwendigen Passantenverkehrs 22 Durchlässe freigehalten, die inzwischen auf 15 verringert wurden. An den Durchlässen wurden zunächst stärkere deutsche Polizeikräfte postiert, die später durch polnische Polizeikräfte ersetzt wurden, während die deutsche Polizei mehr die Beaufsichtigung übernahm.

Die Einheiten der deutschen Polizeiwachen für den jüdischen Wohnbezirk – bestehend aus 87 Mann unter Führung eines Oberleutnants -sind in drei Wachlokalen außerhalb der Ummauerung untergebracht.

Die Wachen liegen:
1. im Osten am Torplatz 1,
2. im Westen in der Gerichtsstraße 99,
3. im Norden in der Klosterstraße 12.

Für den unbedingt notwendigen Oassantenverkehr werden Passierausweise ausgestellt: für Reichs-. Wolksdeutsche und Polen gelbe Karten; für Juden gelbe Karten mit blauem Querstrich. Die Passierausweise gelten nur in Verbindung mit einem Lichtbildpersonalausweis.

Im Ghetto: Die Mauer ((Turkow I, Seite 104 — 106 (gekürzt).))

Sobald das Warschauer Ghetto eingerichtet und von einer zehn Fuß hohen sowie elf Meilen langen Mauer umgeben worden war, begann darin ein emsiges Leben, das verzweifelt danach strebte, sich den Ghetto-Bedingungen anzupassen. Unaufhörlich strömten aus Deutschland. Österreich, Danzig und anderen Landstrichen weitere Flüchtlinge ins Ghetto ein. Es wurde immer enger und verpflegungsmäßig schlechter. Elend und Hunger wuchsen beängstigend. Im Winter gebrach es an Feuerung. Nur Bevorzugte gelangten in den Besitz von Holz und Kohlen. Die Deutschen hofften auch wohl, Warschaus jüdische Bevölkerung einfach durch Aushungern zu vernichten. ((Theoretisch konnte das Ghetto keine direkte Verbindung zur Außenwelt unterhalten. Es war nur über bestimmte deutsche Ämter wie die „Transferstelle“ in Warschau möglich. (Siehe auch Max Frhr. von Du Prel: „Das Generalgouvernement“, Würzburg 1942, Seite 349).)) Der nie abreißende, sich dauernd ins Ghetto ergießende Flüchtlingsstrom verursachte Platzmangel. Die Deutschen reagierten darauf, indem sie ganze Straßenzüge vom Ghetto abtrennten und der „arischen“ Bevölkerung zuteilten. Oft mußten kaum errichtete Mauern auf deutschen Befehl wieder abgerissen werden. Sie wurden einige Straßen tiefer ins Ghetto hinein wieder aufgebaut . . .

. . . Die große Mauer entstand mit jüdischem Geld. Der Judenrat hatte die Material- und Baukosten an eine deutsche Baufirma zu zahlen. Sie besaß die Konzession zum Bau der Ghettomauer, welche in zwei Stein Breite aufgeführt wurde. In den Mörtelputz ließ man spitze Glasscherben ein, die das Hinaufklettern verhindern sollten. . .

Das Inferno ((Prof. Dr. Ludwik Hirschfeld in „Dzieje Jednego Zycia“ (Geschichte eines Lebens), Warschau 1946 (Poliakov-Wulf I, Seite 274). Prof. Hirschfeld war bei Kriegsausbruch Direktor des Bakteriologischen Universitäts-Instituts Warschau. Obwohl getauft, mußte er als „Rassejude“ am 26. II. 1941 ins Warschauer Ghetto, wo er sein Buch heimlich schrieb. Er starb nach dem Krieg.))

Wir meinen, aus luftigem Raum in ein überfülltes, stinkendes Gefängnis zu kommen. Wir sind keine Menschen mehr, nur noch Teil einer abscheulichen Masse. Jeder darf uns schlagen. Im „arischen“ Stadtteil leben auf dem Hektar zehnmal weniger Menchen als bei uns. Dort rottet man auch nur die Intelligenz aus – hier aber alle. Dort darf man wenigstens wie ein Bettler vegetieren – hier ist jedem ein jämmerlicher Tod bestimmt. Auf den Straßen ist ein solches Gedränge, daß man nur schwer vorwärtskommt. Jeder ist zerlumpt. Manche haben oft nicht einmal mehr ein Hemd. Und überall gibt es Lärm und Geschrei. Doch die dünnen, erbärmlichen Kinderstimmen übertönen es noch: „Ich verkaufe Beigel (Hörnchen), Zigaretten und Bonbons!“

Wer diese Kinderstimmen hörte, wird sie kaum vergessen können.

Auf den Bürgersteigen häufen sich Unrat und Abfälle. Es kommt vor, daß ein Kind dem Vorübergehenden sein Paket entreißt und sich heißhungrig im Davonrennen schon über den eßbaren Inhalt desselben hermacht. Natürlich versucht die Menge, so ein Kind wieder einzufangen. Und wenn man es erwischt und schlägt, von seinem Mahl läßt sich das junge Wesen dennoch nicht abhalten.

Hunger ((Archiv Ringelblum II. Aus Mordechaj Schwarzbards im Ghetto Warschau geschriebenen Tagebüchern. Er ist umgekommen.))

I.
20. Mai 1941.
In der Nowolipkistraße 25 hat es bisher noch keinen Todesfall gegeben. Sie haben dort alle Epidemien heil überstanden. Aber am 18. Mai holte man gleich drei Tote heraus. Sie starben am Hunger.
Eine schwache Frau liegt mit Tuberkulose im Bett. Das Hauskomitee beschloß, ihr zusätzliche Nahrungsmittel zu geben, doch sie meinte: „Es wäre schade. Gebt sie lieber meinen Kindern. Für mich gibt es keine Rettung mehr, aber sie bleiben dann vielleicht am Leben.“
Im Punkt Sapierzynskastraße liegt eine ganze Reihe von Menschen im Bett. Sie alle werden den Hungertod sterben.

II.
14. Juni 1941
Der Hunger ((Damaligen deutschen Quellen zufolge, lebten 1941 in Warschau 100 000 Juden von einer Suppe, die einmal täglich ausgegeben wurde. Manchmal war sie aus Heu zubereitet. (Siehe: „Max Frhr. v. Du Prel“ Das Generalgouvernement“, Würzburg 1942, Seite 349).)) und die Not fressen jeden in Warschau auf. Die Gassen sind voll Ohnmächtiger, die ganz aufgedunsen sind. Eine ganze Stadt voll Juden stirbt, aber niemand kümmert sich darum. Auf der Lesznostraße 14 sehe ich auf dem Hof bei den Mülltonnen einen achtzehnjährigen Jüngling stehen, der von den Abfällen ißt. Als ich zwei Stunden später wieder auf den Hof komme, hat sich der Jüngling immer noch nicht von den Kehrichttonnen losreißen können.

Kinder

I ((Archiv Ringelblum I, Seite 49.))
9. 9. 1940
Als man ein paar Kinder aus der Wolskastraße beerdigte, legten Kinder des Internats Wolskastraße ihren kleinen Gefährten einen Kranz aufs Grab, dessen Inschrift lautete: „Von hungernden Kindern, denen, die vor Hunger starben.“

II ((Prof. Ludwig Hirzfeld in Poliakov-Wulf I, Seite 276.))
Ich sehe, wie ein kleines Mädchen versucht, durch die Posten zu schlüpfen. Die Wache ruft es an. Langsam nimmt der Mann sein Gewehr von der Schulter. Das Kind umklammert seine Stiefel und fleht um Gnade. Der Posten sagt lachend: „Du wirst nicht sterben, aber auch nicht mehr schmuggeln.“ Dann schießt er in die Füße des Kindes. Später müssen diese amputiert werden.
Mit Schmuggel kann sich das kleine Mädchen dann wirklich nicht mehr befassen.
Als ich ein kleines Mädchen einmal frage, was es sein möchte, meint es: „Ein Hund! Die Posten haben Hunde gern.“

III ((Edelmann, Seite 6 (gekürzt).))
Ob im Ghetto selbst oder auf der „arischen“ Seite, überall betteln Kinder. Nur um ein paar Lebensmittel auf der anderen Seite zu ergattern, kriechen sechsjährige Jungen unter den Augen der Gendarmen durch den Stacheldraht. Sie ernähren auf diese Weise ganze Familien. Ein einzelner Schuß in der Nähe des Stacheldrahts sagt dem zufällig Vorübergehenden nur allzu oft, daß wieder einmal so ein kleiner Schmuggler im Kampf mit dem allgegenwärtigen Hunger unterlag. Ein ganz neuer „Beruf“ bildete sich heraus; der sogenannte „Schnapper“. Jungen — vielmehr die Schatten früherer Jungen – entreißen den Passanten auf der Straße die Pakete. Unmittelbar darauf, noch im Laufen, verschlingen sie den Inhalt derselben bereits. Manchmal stopfen sie in ihrer Gier und Eile sogar Seife und trockne Erbsen in den Mund …

IV ((Szpilman, Seite 70 (gekürzt).))
Als ich einmal an den Mauern entlang ging, geriet ich in eine „Schmuggelaktion“ von Kindern. Offenbar war die eigentliche „Aktion“ bereits beendet. Nur etwas blieb noch zu tun. Der kleine jüdische Junge jenseits der Mauer mußte durch sein Loch wieder ins Ghetto schlüpfen und die letzte Beute mitbringen. Der kleine Körper war bereits halb sichtbar, als er zu schreien begann. Gleichzeitig tönte von der „arischen“ Seite lautes deutsches Schimpfen herüber. Ich eilte dem Kind zur Hilfe und wollte es schnell durch das Loch ziehen. Die Hüften des Jungen klemmten jedoch unglücklicherweise im Spalt fest. Mit beiden Händen und allen Kräften versuchte ich dennoch, ihn hindurch zu zerren. Er fuhr fort entsetzlich zu schreien. Jenseits der Mauer hörte man die Polizisten kräftige Hiebe austeilen. Als es mir endlich gelang, den Jungen aus dem Loch zu ziehen, lag er bereits im Sterben. Sein Rückgrat war zerquetscht.

V ((Goldstein, Seite 92.))
Es gab fast keine Schulbücher. Man half sich mit einigen mühsam auf der Schreibmaschine geschriebenen Heften und diese wurden nur den Lehrern in die Hand gegeben. Jede Schule hatte eine Gruppe von Erwachsenen-Helfern, die Lehrmaterial beschafften, den Teller Suppe für jedes Kind stellten, Geld für die Lehrer sammelten usw. Im Winter genügend Heizmaterial für den Klassenraum zu besorgen, war ein noch größeres Unternehmen. Der Kampf für die geistige Nahrung wurde mit derselben Intensität wie der um die materielle Ernährung gekämpft.

Tote

I ((Archiv Ringelblum I, Seite 98.))
27. – 28. 2. 1941
Letzthin trifft man fast täglich Ohnmächtige und Tote, die mitten auf der Straße liegen. Es beeindruckt schon keinen mehr.

II ((Prof. Dr. Ludwik Hirszfeld in Poliakov-Wulf I, Seite 274.))
Oft liegt ein mit Zeitungen zugedeckter Haufen auf dem Bürgersteig. Meistens schauen schrecklich ausgezehrte Gliedmassen oder krankhaft angeschwollene Beine darunter hervor. Das sind die Leichen der am Flecktyphus Verstorbenen. Um die Bestattungskosten zu sparen, schleppen die Mitbewohner sie einfach auf die Gasse. Oder es handelt sich um Obdachlose, die auf der Straße umfielen und liegenblieben.

III ((Archiv Ringelblum II. Aus dem im Ghtto geschriebenen Tagebuch von Mordediai Schwarzbard. Er ist umgekommen.))
16. Mai 1941
Von Sonnabend — dem 10. — bis Mittwoch sammelte man in den Straßen und „Punkten“ 130 Tote zusammen. Laut Behördenverordnung, dürfen die Toten nicht länger als 15 Minuten irgendwo liegen bleiben. Aber es hilft nichts! Ein Wagen fährt herum und holt die Toten ab. Um sich die Arbeit zu erleichtern, hält der Wagen vor allen „Punkten“ und fragt, ob es Tote abzuholen gibt. Diese Frage ist niemals umsonst.

IV ((Archiv Ringelblum I, Seiten 142—143.))
20. 5. 1941
In der zweiten Maidekade waren Hunger und Sterblichkeit am schlimmsten. Während der letzten Tage starben ca. 150 Menschen täglich. (Bis zum 15. Mai waren es 1700 Tote). Die Sterblichkeitsziffer wächst. Nachts, zwischen 1 und 5 Uhr morgens begräbt man die Toten. Sie werden ohne Totenhemd in weißem Papier in Massengräber gelegt. Anfangs konnte man einen neben den anderen legen. Jetzt fehlt es dazu bereits an Platz, weil man nicht in die Tiefe graben kann, denn dort ist Wasser. Um aber zuzuschütten, fehlt es an Erde.
… Heute war ich im Verschlag für die Toten. Ein makabres Bild! Zugedeckt mit schwarzem Papier stapeln sich da Riesenhaufen von Leichen. Wie in einem Fleischerladen. Dabei sind es fast alles Skelette. Über den Knochen sieht man nur die dünne Haut.
Auch die Selbstmordfälle durch Vergiften mit Strychnin mehren sich in letzter Zeit.
Ebenso geschieht es jetzt oft, daß aus der gleichen Wohnung 2-3 Tote auf einmal zur Beerdigung abgeholt werden.

„Aussiedlung“

So begann es ((Kermisz, Seiten 227—29 (Auszüge). Aussage des Augenzeugen M. Reich.))

Am 22. Juli (1942) kamen um ca. 9 Uhr früh eine Anzahl PKWs und zwei LKWs mit ukrainischen Soldaten an. Das Gebäude des Judenrates wurde sofort umzingelt und alle Eingänge besetzt. Den PKWs entstiegen mehr als zehn SS-Männer, die sofort zum ersten Stock hinaufstiegen, also jenem Teil des Gebäudes zustrebten, wo der Vorsitzende des Judenrates Czerniakow amtierte. Im ganzen Hause herrschte Totenstille. Die Angestellten nahmen allgemein an, die Verhaftungen von Judenratsmitgliedern würden fortgesetzt. Am Vortage war um die gleiche Zeit ein großer Teil von ihnen verhaftet worden.

… Ich erblickte den Vorsitzenden hinter seinem Schreibtisch. Hohe SS-Offiziere waren anwesend, und als ich eintrat, wandte er sich an einen von ihnen, einen dicklichen Kahlkopf. Das war SS-Sturmbannführer Höfle ((Hans Höfle (richtig: SS-Hauptsturmführer), Adjudant des SS-Obergruppenführers und Generalleutnants der Polizei Odilo Globocnik, der 1942— 43 das Rauben und Morden der „Aktion Reinhard“ im Generalgouvernement durchführte. Höfle war bereits bei der ersten „Aussiedlung“ (Anfang 1942) tätig, als es galt, die Juden aus Mielec ins Vernichtungslager Belzec zu schaffen.)), einer der Anführer der Aktion Reinhard, allgemein „Vernichtungs-“ oder „Ausrottungs“-Kommando genannt.

Czerniakow stellte mich mit folgenden Worten vor: „Das ist mein bester Schreiber“. Nun begriff ich, daß ich nicht als Geisel gerufen worden war. Höfle wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Ich verneinte. Dann fragte er, ob ich schnell genug schreibe, um der Verhandlung mit dem Protokoll folgen zu können. Da ich dies bejahte, befahl er, sofort mit der Sitzung zu beginnen.

So begann die historische Sitzung, die über das Schiksal des Warschauer Judentums entscheiden sollte. An der einen Seite des Tisches in unserem Konferenzsaal saßen die Männer der „Aktion Reinhard“ mit Höfle an der Spitze. Von den übrigen Gesichtern war dem Judenrat nur das des SS-Untersturmführers Brandt ((randt war SS-Hauptsturmführer und „Umsiedlungskommissar“ in Warschau. Das Umsiedlungsamt befand sich auf der Zelaznastraße 103.)) bekannt, des bisherigen seitens der Warschauer Gestapo eingesetzten „Dauerbeschützers“ des Ghettos. Auf der anderen Tischseite saßen vom Judenrat der Vorsitzende Czerniakow, sein Stellvertreter Lichtenbaum, Dr. Wielikowski und noch zwei oder drei andere Mitglieder. Außerdem waren anwesend der Leiter des jüdischen Ordnungsdienstes Lejkin ((Später sprach die „Jüdische Kampforganisation“ über Jakob Lejkin das Urteil, demzufolge er von ihr dann auch erschossen wurde.)), eine der finstersten Gestalten des Warschauer Ghettos, mit seinem Adjutanten sowie der Generalsekretär des Judenrates, Z. Wasserman.

Es war 9.30 Uhr.

… Höfle begann mit folgenden Worten: „Mit dem heutigen Tage beginnt die Aussiedlung der Juden aus Warschau. Ihr wißt, hier gibt es zu viele Juden. Euch, den Judenrat, beauftrage ich, dieses Werk durchzuführen. Schafft Ihr Eure Aufgabe nicht, hängt Ihr selbst in der Schlinge.“

Brot und Marmelade als Köder für die Hungernden ((Friedman, Seite 154.))
Bekanntmachung:
Hiermit bringe ich denjenigen Einwohnern, die laut Regierungsbefehl zur Umsiedlung bestimmt sind, zur Kenntnis, daß jeder, der sich am 29., 30. und 31. Juli freiwillig zur Umsiedlung bereit meldet, mit Lebensmitteln — 3 kg Brot und 1 kg Marmelade — versehen wird. Der Sammelplatz, auf dem auch die Verpflegung ausgegeben wird, befindet sich an der Ecke Stawski und Dzikastraße.

Fünftausend pro Tag ((Dokumente des „Konzentrationslagerprozesses“ (Oswald Pohl u. a.). Aussage Karl Wolff, Seite 2184.))

I ((Unterstaatssekretär im Verkehrsministerium, Theodor Ganzenmüller, nm 28. 7. 1942 an Himmlers Feldadjudanten SS-Obergruppenführer Karl Wolff.))
Seit dem 22. 7. (1942) fährt täglich ein Zug mit je 5000 Juden von Warschau über Malkinia nach Treblinka ((Vernichtungslager, in dem ca. 700 000 Juden umkamen.)), außerdem zweimal wöchentlich ein Zug mit 5000 Juden von Przemysl nach Belzec ((Vernichtungslager, in dem ca. 600 000 Juden umkamen.)). Gedob steht in ständiger Fühlung mit dem Sicherheitsdienst in Krakau. Dieser ist damit einverstanden, daß die Transporte von Warschau über Lublin nach Sobibor ((Vernichtungslager, in dem ca. 250 000 Juden umkamen.)) (bei Lublin) so lange ruhen, wie die Umarbeiten auf dieser Strecke diese Transporte unmöglich machen.

II ((Antwort des SS-Obergruppenführers Karl Wolff an den Unterstaatssekretär Theodor Ganzenmüller (13. August 1942).))
Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, daß nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka fährt. Ich habe von mir aus mit den beteiligten Stellen Fühlung genommen, so daß eine reibungslose Durchführung der gesamten Maßnahmen gewährleistet erscheint.

Die „Umsiedlung“ ist abgeschlossen ((Berenstein, Seite 304. Auszug aus einem Bericht des Distriktgouverneurs Warschau an die Generalgouvernement-Regierung vom 19.10.1942))

Die Umsiedlung im jüdischen Wohnbezirk der Stadt Warschau ist Ende September vorläufig abgeschlossen worden. Es sind etwa 35000 Juden im jüdischen Wohnbezirk in Warschau zurückgeblieben. Hierbei handelt es sich fast ausschließlich um Arbeiter der noch zurückgelassenen Rüstungsbetriebe.

Insgesamt sind etwa 400000 Juden aus Warschau evakuiert worden. Da früher zeitweise über 540000 Juden in der Stadt Warschau gewesen sind, hat sich somit die Bevölkerung der Stadt Warschau um etwa eine halbe Million verringert.

Das Ende des Judenrates ((Turkow II Seiten 19—20.))

Auf der Niskastraße gibt es wieder etwas Neues. Vom „Umschlagplatz“ kam ein Jude zurück und berichtete, man habe die Führer des Judenrates erschossen. Bevor die Deutschen überhaupt ins Ghetto einrückten ((Am 17. April 1943.)), soll Untersturmführer Brandt unter dem Vorwand, sie beschützen zu wollen, aus dem Ghetto herausgeholt haben: den letzten Warschauer Judenältesten Ingenieur Mark Lichtenbaum, seine beiden Stellvertreter, Dr. G. Wielikowski und Ingenieur A. Stolzman; ferner den Ingenieur Stanislaw Szereszewski und den Handelsrichter Edward Kobryner. Dann fuhr ein Auto vor und brachte sie alle zum „Umschlagplatz“. Dort wurden auch sie ins „Haus des Grauens“ hineingepfercht, wo man alle ausgesiedelten Juden zusammenstopft. Sodann erschien ein in Warschau unbekannter SS-Offizier, rief ihre Namen auf und ließ sie dann auf dem Hof bei den Mülltonnen antreten. Dort kontrollierte er nochmals, ob es auch tatsächlich die Gesuchten waren. In Anwesenheit des „Aussiedlungs-Kommissars“ und des Fabrikanten Walter Többens ((Walter Caspar Többens oblag die Aufbringung von Arbeitskräften im Warschauer Ghetto und der Provinz Lublin. Im Warschauer Ghetto allein arbeiteten für ihn ca 15000 Juden.)) wurden sodann der Reihe nach Lichtenbaum, Stolzman, Wielikowski und Szereszewski erschossen.
Wielikowski versuchte, sich zu retten und zeigte seinen „Schutzbrief“, der ihm vom Warschauer Gouverneur ausgestellt wurde, vor. Der SS Offizier jedoch entriß ihm das Papier und schlug es ihm ins Gesicht. Dann zerfetzte er es in kleine Schnipsel und erschoß ihn.
Die Leichen der Erschossenen blieben neben den Mülltonnen liegen.
Edward Kobryner wurde vorher aus der Reihe herausgerufen. Ihn verlud man in einen Waggon der „Aussiedlung“.
Damit ist das Kapitel „Judenrat“ in Warschau beendet.

ANHANG ((Jan Karski, ein polnischer Kurier, schaffte das Schriftstück im Herbst 1942 nach London. In der Yiddisch-Zeitschrift „Unser Zeit“ wurde es im März 1943 in New York abgedruckt. Später veröffentlichte Karski seine polnischen Erlebnisse im Buch „Story of a Secret State“, Boston und London 1944. In seinem Buch „Defeat in Victory“. New York 1947, erzählt Jan Czechanowski, vor und während des Krieges polnischer Botschafter in Washington, daß er am 28. 7. 1943 mit Jan Karski bei Präsident Roosevelt war. Ersterer berichtete ausführlich über die Lage in Polen, auch über die Ausrottung des Judentums. Roosevelt habe aufmerksam gelauscht und Fragen wie z.B. nach dem Zustand von Vieh und Pferden in Polen gestellt. Nach Einzelheiten über die Judenausrottung fragte er jedoch nicht. Mit keinem Wort.))

X ((Dr. Leon Feiner, einer der Führer der jüdisch-sozialdemokratischen Partei in Polen. Aus Geheimhaltungsgründen wurde damals sein Name nicht genannt.))hat mich beauftragt, Ihnen, Zygelboim I37), folgendes mitzuteilen:

Sagt ihnen, daß wir hier manchmal alle, die gerettet wurden, hassen, weil sie uns nicht auch retten … Sie setzen sich nicht genug für uns ein. Selbstverständlich wissen wir, daß man dort in der Welt der freien Menschen das, was uns hier geschieht, einfach nicht glauben kann. Aber wenn sie doch nur etwas unternehmen möchten, damit die Welt es glaubtl Wir sterben hier alle. Sollen sie dort auch sterben! Sie können doch die Amtssitze von Churchill und anderen belagern. Sie sollten in den Hungerstreik treten und so lange hungern, bis sie vor den Haustüren Hungers sterben. Aber sie sollten nicht nachgeben bis man ihnen glaubt. Nicht nachgeben bis man Mittel und Wege findet, jene zu retten die dann vielleicht noch am Leben sein werden. Nur keine politischen Aktionen! Proteste und Versprechungen, mit denen nach dem Krieg für alles Strafe angedroht wird, helfen uns hier nicht. Auf die Deutschen macht das alles nicht den geringsten Eindruck. Nur eine einzige Sache könnte sie vielleicht beeindrucken. Unter Umständen würde dann die kleine Zahl von Juden, die dann noch am Leben sein sollte, gerettet werden können. Man müßte eine gewisse Zahl von Deutschen im Ausland hinrichten und das öffentlich bekanntmachen. Ebenso müßte man verkünden, daß noch viel mehr Deutsche in aller Öffentlichkeit erschossen werden, wenn die Deutschen nicht aufhören, die polnischen Juden hinzuschlachten.

Das ist die Ansicht von X und allen anderen hier.

Der erste Widerstand ((Edelman. Seiten 30—31. (gekürzt)))

Am 18. Januar 1943 wurde das Ghetto erneut abgeriegelt. Die „zweite Liquidation“ begann. Diesmal aber gelang es den Deutschen nicht, ihr Vorhaben ungestraft auszuführen. Vier Kampfgruppen hatten sich hinter den Barrikaden verschanzt und lieferten ihnen den ersten bewaffneten Widerstand im Ghetto.

Ihre Feuertaufe erhielt die Jüdische Kampforganisation im ersten großen Straßenkampf an der Ecke Mila- und Zamenhofastraße. Der größte Teil der Organisation kam dort ums Leben. Wie durch ein Wunder — er verhielt sich wahrhaft heldenhaft — überlebte der Kommandant der Jüdischen Kampforganisation, Mordechaj Anielewicz, die Schlacht. Wir lernten aus ihr, daß Straßenkämpfe für uns zu verlustreich sein würden. Dazu waren wir nicht genügend vorbereitet und vor allem nicht mit den erforderlichen Waffen ausgerüstet. Deshalb gingen wir zur Partisanentaktik über. In den Häusern Zamenhofastraße 40, Muranowska 44, Milastraße 34 und Franziskanskastraße 22 kam es zu größeren Zusammenstößen. Auf dem Gelände der Firma Schultz griffen Partisanen SS-Leute an, die mit den Deportationen beschäftigt waren.

… Im Verlauf des Januar beteiligten sich nur fünf der aufgestellten Kampfgruppen an Aktionen. Alle anderen Gruppen waren zum Zeitpunkt, als die Deutschen ins Ghetto einrückten, nicht beisammen. Sie wurden überrascht und kamen nicht mehr dazu, ihre Posten zu beziehen, wo auch die Waffen versteckt lagen.

… Die Anzahl der durch Kugeln der Jüdischen Kampforganisation getöteten Deutschen war jedoch nicht das einzig Wichtige. Von weit größerer Bedeutung war, daß ein psychologischer Wendepunkt erreicht wurde. Allein die Tatsache, daß die Deutschen durch den unerwarteten Widerstand — so schwach er auch war — gezwungen wurden, ihren „Deportierungs“-Plan abzubrechen, war von größtem Wert. Inzwischen liefen bereits Gerüchte und Legenden über „Hunderte“ von getöteten Deutschen und die „furchtbare“ Macht der Jüdischen Kampf Organisation in Warschau um. Die gesamte polnische Untergrundbewegung war für uns des Lobes voll .. .

… Ende Januar erhielten wir dann auch tatsächlich 50 große Pistolen und 50 Handgranaten vom polnischen militärischen Untergrund und wir organisierten die Jüdische Kampforganisation von neuem.

Jedes Haus muß zur Festung werden ((Archiv Ringelblum II.))

Informations-Bulletin ((Die J. K. O. gab solche Bulletins im Ghetto heraus. Es ist eines davon.)) des Ghettos Nr. 912, 27. Januar 1943
Im Hinblick auf die letzten Ereignisse im Ghetto rufen wir zum Durchhalten auf. Am einfachsten geschieht das durch dauernden Widerstand mit der Waffe in der Hand. Die Stunde der Erlösung vom Joch unseres schlimmsten Feindes ist nahe. Der Feind erlebt Niederlage auf Niederlage. Er hat nichts mehr zu verlieren und strebt deshalb danach, uns auf so barbarische Weise zu vernichten, wie die Geschichte sie nur kennt. Brüder, lassen wir uns doch nicht wie die Schafe zur Schlachtbank führen! Wer erst in die Waggons einsteigt, der ist für immer verloren. Die Hoffnung auf ein Entkommen ist gering. Aber darum kämpfen wir ja hier. Jedes Haus muß zur Festung werden!

Die ersten Waffen ((Neustadt, Seiten 153—154. Aus einem im März 1944 verfaßten Bericht des Jüd. Untergrunds, der durch Kurier am 24. 5. 1944 nach London gesandt wurde.))

Mit einem größeren Waffentransport, der durch die Instanzen dei polnischen militärischen Untergrundbewegung abgesandt wurde, kam unsere Hauptbewaffnung an. Sie bestand aus Revolvern, Handgranaten und Sprengmaterial ((Der militärische Untergrund unterstand der Londoner Exil-Regierung. Der Transport enthielt 50 Pistolen, 50 Handgranaten, 4 kg Sprengstoff. Anfang 1943 kam er im Ghetto an. Zwei Monate vorher hatten polnische Persönlichkeiten der J. K O. aus den gleichen Kreisen zehn alte Kleinkaliberpistolen vermittelt, die beim ersten Zusammenstoß mit den Deutschen im Januar 1943 benutzt wurden.)). Für Geld, das wir erhielten, kauften wir noch einige Gewehre und Munition. Wir zahlten für „Wis“ ((Ein Gewehr Kaliber 9, das eine Waffenfabrik in Radom herstellte.)) und Parabellum 10000 bis 15000 Zloty pro Stück.

Zwischen Januar und April 1943 ((Borzykowski, Seite 29.))

Während der kurzen Atempause vom 18. Januar bis 19 April widmete die jüdische Bevölkerung alle ihre Kräfte dem Bunkerbau. In wilder Raserei wurden Stollen gegraben. Tags durchstreiften die Juden die Ruinen und suchten nach Brettern, Steinen und anderem Baumaterial. Die Nächte waren der Bauarbeit gewidmet. Wir strengten alle unsere Kräfte an, unsere Gaben und den Erfindergeist, um Bunker mit höchstmöglicher Stabilität und einigem Komfort zu schaffen. Es galt, so tief wie nur möglich zu graben und den Eingang gut zu tarnen. Meistens hatte jeder Bunker mehrere Eingänge, damit man entwischen konnte, falls die Deutschen einen Eingang entdeckten.

Der Kampf beginnt ((Neustadt, Seite 159. Aus dem Bericht des jüd. Untergrunds (März 1944), der durch Kurier im Mai 1944 nach London gesandt wurde.))

Am 18. April (1943) nachts begann der letzte Akt der Tragödie des Warschauer Ghettos. Die Jüdische Kampforganisation trat zur letzten Schlacht an. Mit deutschen, lettischen und ukrainischen Posten wurde um 2 Uhr nachts die Ghettomauer umstellt. Alle 25 mtr. stand ein Posten. Einzeln, zu zweit oder zu dritt tauchten die Deutschen im nicht bewohnten Teil des Ghettos auf, um so die Kämpfer und überhaupt die Bevölkerung zu überraschen. Um 2,30 Uhr erhielten wir die ersten Berichte der von uns ausgeschickten Späher über die Konzentration größerer Truppeneinheiten auf dem Ghettogebiet. Um 4 Uhr morgens hatten alle unsere Kampfgruppen ihre Stellungen bereits bezogen. Sie waren bereit und entschlossen, den einmarschierenden Feind gebührend zu empfangen. Um 6 Uhr früh rückten 2000 schwerbewaffnete SS-Männer mit Panzern, kleinen Schnellfeuergeschützen sowie mit drei mit Munition beladenen Lastern und Ambulanzen ins Ghetto ein. Zusammen mit der Waffen-SS erschien der gesamte deutsche „Umsiedlungsstab“, dem SS-Offiziere und Gestapo angehörten. Da waren Michelson, Handtke, Höfle, Miretschko, Bartetschko, Brandt und Mende ((Michelson war von der Gestapo in Warschau. Handtke wurde später Kommandant des Zwangsarbeiterlagers Budzyn bei Lublin, wo Häftlinge für die Heinkelwerke arbeiteten. Hans Höfle, SS-Hauptsturmführer und Chef des Stabes der „Aktion Reinhard“. Bartetschko wurde später Kommandant des Zwangsarbeitslagers Krasnik bei Lublin. Brandt, SS-Hauptsturmführer und „Umsiedlungskommissar“ in Warschau. Mende gehörte zum SD in Warschau.)). Kein Jude ließ sich blicken. Alle verkrochen sich in unterirdischen Schutzlöchern oder anderen Verstecken. Nur die jüdische Kampforganisation hielt über der Erde Wache. Die Kämpfer hatten drei Schlüsselpunkte des Ghettos bezogen, von welchen sie die Eingänge zu den Hauptstraßen einsehen konnten. Der erste Zusammenstoß fand auf der Nalewkistraße statt, wo zwei verbarrikadierte Gruppen die Straßen verteidigten. Die Schlacht endete mit dem Sieg der Kämpfer. Die Deutschen gingen zurück, ohne ihre Verwundeten mitzunehmen.

Gleichzeitig fand an der Ecke Mila- und Zamenhofstraße der größte Zusammenstoß statt. Unsere Kämpfer hatten sich an allen vier Ecken der Straße verschanzt und griffen die deutsche Hauptkolonne an, die dort ins Ghetto einzumarschieren begann. ((Durchs Tor Gesia-Zamenhofastraße marschierten die Truppen in Richtung Muranowplatz ein. Die J. K. O. war in der Umgebung des Tores versteckt, ließ die Truppe aber zuerst vorbei. Als sie dann an der Ecke Mila-Zamenhofastraße anlangte, eröffnete die J. K. O. erst das Feuer.))

Nach den ersten Salven eines Maschinengewehrs und einigen trefflich in die dichten Reihen der einrückenden SS geschleuderten Handgranaten, wurde die Straße leer. Man sah keine Uniform mehr. Sie zogen sich in die nahen Haustore zurück und nur einzelne Schüsse wurden gewechselt. 15 Minuten später rollten durch das „Wach“tor Panzer herein. Sie fuhren direkt auf die Positionen unserer Kämpfer zu. Eine gut geschleuderte Flasche mit flüssigem Zündstoff traf einen Panzer. Sofort loderten die Flammen hell auf. Der Panzer war bereits außer Gefecht. Die Besatzung verbrannte bei lebendigem Leibe. Die beiden anderen kleinen Panzer machten sich schnell aus dem Staube und die vorher in Deckung gegangenen Deutschen liefen ihnen ganz benommen nach. Sie wurden noch mit einem Hagel von Handgranaten und Geschossen bedacht.

Im Hauptquartier der J.K.O. auf der Milastraße 18 ((Borzykowski, Seiten 91—101))

Der Bunker auf der Milastraße verfügte über ein außerordentlich weitverzweigtes Kellersystem, das sich unter den Ruinen ganzer Häuserblocks hinzog. Die sogenannten „Schweren Jungen“, eine Gruppe von Unterweltlern, Dieben und anderen Banditen, waren die Herren dieser Keller. Shmul Asher war der Anführer der Bande. Ein sehr wohlhabender Mann mit dickem Bauch, Stiernacken und ordinärer Sprache. Seine ganze Bande war ebenfalls wohlhabend. Nach vielen Jahren leichter Verdienste hatte Asher sich ein beachtliches Vermögen zusammengerafft und seinen Bunker endlich so geschickt verästelt und gemütlich ausgebaut, daß seine Bande praktisch über alles verfügte. Elektrisches Licht, richtige Küchen und vor allem eine Wasserleitung waren vorhanden. Darüber hinaus hatten die unerschöpflichen Mittel selbstverständlich auch für ungeheure Mengen von Lebensmitteln vorgesorgt…

… Machte sich jemand in diesem ausgedehnten Bunker auf, um zu einer entlegenen Stelle zu gelangen, verirrte er sich oft und blieb lange verschwunden. Nur die engen, langen Gänge, welche die einzelnen Keller miteinander verbanden, erlaubten allerdings, aufrecht zu stehen. Sonst mußte man unter den niedrigen Decken sehr gebüdct herumkriechen …

… Jeder Bunker und jedes unterirdische Gewölbe, in dem Juden hausten, hatte einen Namen. Der galt als Adresse und erleichterte gleichzeitig das Zurechtfinden im unterirdischen Kellerlabyrinth ganz wesentlich. Alle diese Namen waren bezeichnend für die ganze Epoche und die Situation der Juden. Sie lauteten z. B.: Treblinka, Trawniki, Poniatow, Piaski usw. Das waren die berüchtigten Todeslager der Nazis …

… Um die Bedeutung des Namens „Treblinka“ zu erkennen genügte es vollauf, nur wenige Minuten in dem betreffenden Bunker zu sein. Der Bau faßte normalerweise höchstens 8 — 10 Personen, beherbergte meistens jedoch etwa 30 …

… Die Hitze war unerträglich und erreichte nicht selten 60 — 70 Grad Celsius. Jeder schwamm buchstäblich im eigenen und der anderen Schweiß. Dauernd benutzte man das Handtuch, um die Schweißbäche, die über die halbnackten Körper rannen, zu trocknen …

… Die Kommandanten waren unter den ersten Angehörigen der Kampforganisation, die den Bunker der Milastraße 18 betraten. Die Herren des Bunkers bezeugten den Kämpfern große Achtung und Ehrfurcht. Die Bandenchefs erklärten sich bereit, ihren eigenen Besitz mit den Mitgliedern der Kampforganisation zu teilen und jede nur mögliche Hilfe zu leisten. Als dann fast alle Stellungen der Kampforganisation schon zerstört waren, strömten auch Angehörige anderer Organisationen in den Bunker auf der Milastraße 18. Sie wurden ebenfalls gastfreundlich aufgenommen. Endlich blieb nur noch dieser Bunker erhalten. Alle anderen waren bereits zerstört …

… Die ungeheuren Menschenmengen verursachten bald eine Katastrophe hinsichtlich der Verpflegungslage auf der Milastraße. Gleich den Kampfgruppen stellten sich nämlich auch Zivilpersonen ein, deren Häuser in Flammen standen. Deswegen hatten sie die Keller verlassen müssen. Hauptnahrungsmittel wie Brot und Kartoffeln fehlten gänzlich. Nur Mehl, Grütze und Erbsen waren vorhanden. Aber wie sollte man damit hunderte von Menschen ernähren? Die Zeit zum Kochen -ausschließlich nachts — war viel zu kurz dazu …

… Die Bunkerbewohner ließen sich leicht in zwei Gruppen einteilen. Solche, die schon Furcht vor dem eigenen Schatten empfanden, zu erregten Ausbrüchen neigten und überall Unordnung und Verwirrung anrichteten und jene, bei denen alles reibungslos und straff funktionierte und vollste Harmonie herrschte …

… Sobald es abends dunkel wurde, begann ein emsiges Leben. Die Gruppen-Kommandanten hielten Besprechungen ab, legten den Schlachtplan für die nächste Nacht fest und erteilten ihre Befehle. Die einzelnen Truppführer hatten dann eine kurze Besprechung mit ihren Leuten und trugen jedem seine Aufgabe auf …

Der Tod von Aniclewicz und seinem Stab (( C. Lubetkin in „Commentary“ New York, Mai 1947.))

… Am 8. Mai (1943) entdeckten die Deutschen endlich auch den Bunker auf der Milastraße 18. Nachdem sie Verstärkung erhalten hatten, veranstalteten sie eine Razzia und riegelten das ganze Gelände ab. Erst nach zweistündigem Kampf gelang es ihnen aber, ein paar bewaffnete Insurgenten aufzugreifen. Sie begriffen, daß sie diese Stellung nicht mit Gewalt nehmen konnten. So warfen sie Rauchbomben in den Keller und legten Sprengstoff vor den Eingang …

… Die Bande der „Schweren Jungen“ und die Zivilisten ergaben sich der Aufforderung der Deutschen folgend. Die Kampforganisation tat dies jedoch nicht, obwohl die Deutschen wiederholt versicherten, jeder sich freiwillig Ergebende käme nur für einen Arbeitseinsatz in Frage, während alle anderen sofort erschossen würden. Unsere Kämpfer verschanzten sich am Eingang und erwarteten die Deutschen dort, die schließlich dazu übergingen, Gas in den Keller einströmen zu lassen. Sie taten dies immer nur in kleinen Mengen und warteten dann stets eine ganze Weile. Wahrscheinlich hofften sie, durch das langsame Ersticken ihr Ziel schneller zu erreichen. Die verbliebenen 120 Kämpfer sahen einen schrecklichen Tod vor Augen.

Aryeh Wilner ((Pseudonym: „Jurek“. Er führte bereits bei den ersten Ghettokämpfen im Januar 1943 eine jüd. Kampfgruppe.)) rief als erster: „Machen wir doch lieber selbst mit uns Schluß.‘ Ihnen sollten wir nicht lebend in die Hände fallen.“

Dann begannen die Selbstmorde. Einige Revolver hatten Ladehemmungen. Die Besitzer baten Kameraden, sie zu töten. Niemand jedoch wollte das tun.

Lutek Rotblatt schoß viermal auf seine Mutter, die sich selbst dann noch bewegte. Plötzlich entdeckte jemand einen versteckt liegenden Ausgang. Leider entkamen durch ihn nur wenige. Alle anderen erstickten qualvoll langsam am Gas. So kam der Tod zu den tapfersten jüdischen Kämpfern, etwa 100 an der Zahl. Unter ihnen befand sich auch Mordechaj Anielewicz, unser stattlicher Kommandant, den wir alle so sehr liebten.

Der letzte Akt (( Es ist die letzte tägliche Meldung von Stroop. Der zweite Teil des Stroop-Berichtes besteht aus täglichen Meldungen vom Kampfplatz an SS-Obergruppenführer und General der Polizei Friedrich Krüger. Die erste Meldung datiert am 20. April 1943, die letzte am 16. Mai 1943. ))

Az.: I ab-St/Gr.-1607 Tgb. Nr 652/43 geh.
Betr.: Ghetto-Großaktion Warschau, den 16. Mai 1943
An den
Höheren SS- und Polizeiführer Ost SS-Gruppenführer und General der Polizei Krüger
o.V.i.A.
Krakau

Verlauf der Großaktion am 16. Mai 1943, Beginn 10.00 Uhr.
Es wurden 180 Juden, Banditen und Untermenschen vernichtet. Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr. Mit der Sprengung dir Warschauer Synagoge wurde die Großaktion um 20.15 Uhr beendet ((Verschiedenen Aussagen ist zu entnehmen, daß auch noch nach dem 16. Mai 1943 an mehreren Stellen Kämpfe stattgefunden haben.)).

Die für die errichteten Sperrgebiete weiter zu treffenden Maßnahmen sind dem Kommandeur des Pol. Batl. 111/23 nach eingehender Einweisung übertragen.
Gesamtzahl der erfaßten und nachweislich vernichteten Juden beträgt 56065.

Schlußbericht lege ich am 18. Mai 1943 bei der SS- und Polizeiführertagung vor.

Der SS- und Polizeiführer im Distrikt Warschau
gez. Stroop
SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei

Abkürzungen und bibliographische Bemerkungen

Archiv J. H. I. Archiv des „Jüdischen Historischen Instituts“ in Warschau.
Archiv Ringelblum I. Eigene Notizen Dr. Emanuel Ringelblums, die er selbst im Ghetto Warschau schrieb. Als Buch erschienen sie in Yiddisch im Jahre 1952 in Warschau, und der Titel lautet; Emanuel Ringelblum, „Notizn fun Warschewer Geto“. Die Originale befinden sich im Archiv des „Jüdischen Historischen Instituts“ in Warschau, über Ringelblum und sein Archiv siehe Vorwort, Seiten 11—15.
Archiv Ringelblum II. Dokumente, Tagebücher, Notizen etc. aus dem Warschauer Ghetto Die Originale befinden sich im Archiv des „Jüdischen Historischen Instituts“ in Warschau.
Berenstein. T. Berenstein, A. Eisenbach, A. Rutkowski: „Eksterminacja Zydow na Ziemiach Polskich w okresie okupacji hitlerowskiej“ (Ausrottung der Juden Polens während der Hitler-Besatzung), Warschau 1957. Es ist eine der umfassendsten Dokumenten-Veröffentlichungen über die Vernichtung des polnischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs.
Borzykowski. Tuwia Borzykowski: „Zwischn falndike Went“ (Unter einstürzenden Mauern), Warschau 1949. B. war Mitglied der zionistischen Jvgendbewegung und gehörte zur Jüdischen Kampforganisation in Warschau. Heute lebt er in Israel.
Edelman. Marek Edelman: „The Ghetto Fights“. New York 1946. Es handelt sich um eine erweiterte Ausgabe seiner früheren yiddischen Veröffentlichungen. E. gehörte der jüdisch-sozialdemokratischen Partei „Bund“ an und war im Stab der Jüdischen Kampforganisation in Warschau, wo er heute noch lebt.
Friedman. Philip Friedman: „Martyrs and Fighters“, New York 1954. Eine der besten Dokumentensammlungen über das Ghetto und den Aufstand in Warschau.
Goldstein. Bernard Goldstein: „Die Sterne sind Zeugen“, Hamburg 1949. Er gehörte im Ghetto Warschau der Jüdischen Kampforganisation an und lebt heute in New York
Kermisz. Dr. J. Kermisz: „Akcje“ i „ Wysiedlenia“ („Aktionen“ und „Aussiedlungen“), Warschau-Lodz-Krakau 1946. Bisher ist dies die umfangreichste Dokumenten-Sammlung über sogenannte „Aktionen“ gegen und „Aussiedlungen“ von Juden in Polen während des letzten Krieges.
Neustadt Meilech Neustadt: „Churbn un Ojfstand fun di Jidn in Warsche“ (Vernichtung und Aufstand der Juden in Warschau), Tel Aviv 1948. Die erste Veröffentlichung von Berichten, Briefen und Dokumenten, die von der jüdischen Untergrundbewegung in Warschau auf Schleichwegen während der letzten Kriegsjahre nach London gelangten Die hier wiedergegebenen Dokumente stammen aus zwei Transporten Der erste ging am 15. November 1943 mit Kurier heimlich nach London ab, während der zweite auf die gleiche Art Warschau am 24 Mai 1944 verließ Absender des Materials war das der Untergrundbewegung angehörende „Jüdische Nationale Komitee in Polen“ Alles Material wurde während der deutschen Besatzung in Warschau gesammelt und ist deswegen von Bedeutung.
Poliakov-Wulf I. Leon Poliakov-Josef Wulf‘ „Das Dritte Reich und die Juden“ Berlin 1955.
Poliakov-Wulf II. Leon Poliakov-Josef Wulf: „Das Dritte Reich und seine Diener“ Berlin 1956
Szpilman. Wladyslaw Szpilman: „Smierc Miasta“ (Der Tod einer Stadt), Warschau 1946. Szpilman ist ein bekannter Pianist, der im Ghetto Warschau lebte
Turkow I. Jonas Turkow: „Asoy is es gewen“ (So war es), Buenos Aires 1948. Turkow wurde als Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller bekannt. Er lebte im Warschauer Ghetto und ist heute in New York.
Turkow II. Jonas Turkow; „In Kampf farn Leben* (Im Kampf ums Leben!. Buenos Aires 1949.

Links zum Thema:

Ghetto Warschau
Polnische und jüdische Überlebende des Holocaust im Gespräch
Hunger-Studie im Ghetto Warschau

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