Ein Jahrhundertleben: Edward Kossoy (1913-2012)

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Es könnte schlimmer sein. So beginnt die Geschichte von dem Mann, der zu früh nach Hause kommt und seine Frau im Bett mit dem Nachbarn findet. Er erschießt beide und bringt dann auch sich selbst um. Es könnte schlimmer sein, sagt der Erzähler. Wäre er zwei Tage früher gekommen, hätte er mich erschossen…

Von Tobias Winstel

Den Nachruf auf ein Jahrhundertleben mit einem Witz zu beginnen, ist ein Wagnis. Zu sehr Cliché, zu groß die Gefahr, etwas Unpassendes zu sagen. Doch Edward Kossoy, einer der Pioniere der Wiedergutmachung für NS-Unrecht, machte es einem leicht, sich von derlei Befürchtungen zu befreien. Fragte man ihn danach, was als Leitspruch für sein Leben gelten könnte, antwortete er: Wenn schon, dann „Es könnte schlimmer sein.“ Und erzählte die Geschichte.

Seine erste Stelle bekam Kossoy als Sechzehnjähriger bei der polnischen Lokalzeitung Opinja (»Meinung«), für die er jeden Tag ein kleines satirisches Gedicht verfasste. Einen besonderen Humor, der herzlich und auch beißend sein kann, hat er offenbar schon damals gepflegt. Er war ein feiner, kluger und auch erfolgreicher Mann. Sein Leben war zugleich außergewöhnlich und doch leider auch bezeichnend für die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts. Sieben Sprachen sprach er: Neben Polnisch und Russisch, den Sprachen seiner Kindheit, auch Hebräisch, Englisch, Französisch und nicht zuletzt Deutsch, die Sprache seiner Verfolger.

„Ich bin ein polnischer Jude.« So beginnen seine Memoiren. Die deutsche Ausgabe erschien wenige Monate vor seinem Tod, und sie trägt leider den etwas blassen Titel „Holocaust und Wiedergutmachung. Erinnerungen eines jüdischen Anwalts“. Im polnischen Original hießen sie noch „Na marginesie“, „Am Rande“, weil sein Lebensweg entlang umwälzender Zeitläufte führte.

Ein Jahrhundert ist in diesem Buch zu besichtigen. Genauer gesagt das Zeitalter der Extreme, wie der große deutsch-jüdische Historiker Eric Hobsbawm die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Zerfall des Ostblocks einmal gefasst hat. Edward Kossoy wurde 1913 als Sohn russisch-jüdischer Eltern geboren, im polnischen Radom, einer ehemaligen Residenz- und Industriestadt, etwa hundert Kilometer südlich von Warschau. Sein Vater war Direktor einer Genossenschaftsbank, die Mutter entstammte einer Arztfamilie. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Jekaterinoslaw, dem heutigen ukrainischen Dnipropetrowsk. Schlimme Bilder kannte Edward Kossoy nicht erst seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs. In den Wirrnissen der russischen Revolution und des Bürgerkriegs von 1917 sah er als Kind, wie brutal Menschen mit anderen Menschen umgehen. Die Schüsse der willkürlichen Exekutionen, die unbestatteten Leichen im Straßenrand – Edward Kossoy wuchs in einer Zeit auf, als das Jahrhundert bebte. Beschrieben hat er das in seinem Buch mit der Ruhe des Überlebenden und zugleich mit dem klopfenden Herzen desjenigen, der hineingeworfen war in die Stürme seiner Zeit. „Am Rande“, das scheint schon nach den ersten fünfzig Seiten Lektüre als ein Understatement.

Als er noch ein kleines Kind war, begannen die Menschen um ihn herum zu fliehen und ihre Heimat zu verlassen. In früheren Zeiten traf die Vertreibung meist Einzelne. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs war die Flucht zum Familienschicksal geworden. So auch für die Kossoys. Sie zählten zur vormals privilegierten Schicht, und für die wurde die Lage in Zeiten der roten Revolution immer schlimmer. Verlust und Zurücklassen kennzeichnete von jetzt an ihr Leben. Sie machten sich also auf den Weg nach „Westen“. Das hieß für sie, vom ukrainischen Jekaterinoslaw über Weißrussland zurück nach Radom, in Edwards Geburtsort. Dass ihm auf dieser Reise der Zoll in Minsk ein Buch wegnahm, den siebten und einzigen Band seiner Kinderenzyklopädie, den er besaß – daran erinnerte sich Edward Kossoy noch bis ins hohe Alter; und die Einträge zu den Werken und Erfindungen von Newton, Röntgen oder Galileo Galileis. Das Buch, mit dem er Lesen gelernt hatte, konnte man ihm wegnehmen, das Wissen nicht. Es sind auch diese Seitenblicke der Geschichte, die seine Erinnerungen so lesens- und bedenkenswert machen.

Wieder in Polen, genauer gesagt in Kaptur, einem Dorf nahe bei Radom, ging seine Kindheit weiter. Bereits im Alter von elf Jahren lernte er Stella kennen, die Schwester seines besten Freundes. Mit Anfang zwanzig heirateten sie, das war Mitte der dreißiger Jahre. Sie bekamen ein Kind, Anna. Die schönste Zeit in seinem Leben, wie Kossoy rückblickend schreibt. Am Ende seines Jura-Studiums in Warschau gründete er ein chemisches Unternehmen, das in erster Linie künstliche Rohstoffe herstellte und internationale Industriefirmen belieferte, unter anderem die deutsche I.G. Farben. Das machte ihn zu einem wohlhabenden jungen Unternehmer, er expandierte und erwarb weitere Beteiligungen. Vor allem aber arbeitete er in Warschau als Anwalt, bis 1939.

Als der Holocaust begann, versuchte Kossoy Fluchtwege für seine Familie zu finden. Er ließ sie dafür in Polen zurück, verlor sie aus den Augen. Er selbst schaffte es in die Sowjetunion, kam dort in fünf verschiedene Gefängnisse, unter anderem in das Lager des Geheimdiensts NKWD in Pinsk. Später kämpfte er in der legendären Armee des General Władysław Anders. Sie vereinte polnische Streitkräfte an der Seite der Roten Armee, die im März 1942 über Iran in den Nahen Osten verlegt wurden, wo man sie dem britischen Nahostkommando unterstellte.

Edward Kossoy hatte sich vergeblich um ein Visum für Istanbul bemüht. Erst im Nachhinein erfuhr er, dass der Hausmeister des türkischen Konsulats Pässe gegen etwas Geld stempelte. Das hätte seine Familie retten können. Stattdessen reiste Kossoy Richtung Lemberg, um dort eine Bleibe vorzubereiten. Auf dem Weg dorthin wurde er vom NKWD verhaftet und konnte sich nicht mehr um seine Frau und seine Tochter kümmern. Sie wurden bei einer Aktion der SS, von den Deutschen zynisch »Erntefest« genannt, Anfang November 1943 im polnischen Trawniki ermordet. Als Reaktion auf die Niederlage bei Stalingrad und der Aufstände in Warschau, Treblinka und Sobibór hatte Heinrich Himmler angeordnet, an einem Tag möglichst viele Menschen zu erschießen, um die Lage hinter der Ostfront wieder zu „stabilisieren“. Stella und Anna waren zwei von mehr als 43 000 an diesem Tag ermordeten Menschen. »Profession: Child«, so hat Edward lange nach dem Krieg das Formular der Shoah Data Base von Yad Vashem für seine kleine Tochter ausgefüllt. Beruf: Kind.

Das Drama, das hinter dieser dürren Aufzählung von Stationen steht, ist nur zu erahnen, wenn Kossoy rückblickend schrieb: »Heute weiß ich auch, dass ich damals nicht imstande war, die uns drohende schreckliche Gefahr zu erkennen. Ich halte meine arme Stella, Anna und auch meinen Vater in hohem Grade für Opfer meiner Sorglosigkeit.« Es ist bestürzend zu lesen, welche Vorwürfe sich Kossoy wegen seiner ersten Familie machte. Darin durchaus typisch für das, was die Psychologen das Überlebendensyndrom nennen – der Vorwurf gegen sich selbst, überlebt zu haben.

Über Teheran und den Irak konnte er sich später nach Palästina retten. Er wurde Mitglied der zionistischen Untergrundorganisation Irgun. Allerdings war er nie an „militärischen Aktionen“ beteiligt, darauf legt er Wert. Die Gruppe war gefürchtet für ihre terroristischen Anschläge auf Araber und die britische Mandatsmacht. In Tel Aviv erlebte Edward Kossoy den 8. Mai 1945. Hier half er, der gelernte Anwalt, gemeinsam mit einem Notar jüdischen NS-Überlebenden bei der Durchsetzung ihrer Entschädigungsansprüche.

Was bedeutete das Judentum für ihn? Er sah sich selbst eher in nationaler Hinsicht als Jude, nicht in konfessioneller. Es fehlte ihm das Entscheidende: Der Glaube an Gott. Wie sollte man sonst Auschwitz, den Gulag oder auch Ruanda begreifen können? Dem Religiösen traute er nicht, vor allem wegen dessen Allmachts- und Allwissenheitsanspruchs.

1948 erlebte er die Gründung des Staates Israel, die in einem Gebäude direkt gegenüber seiner Kanzlei verkündet wurde. Am gleichen Tag verließ der letzte britische Hochkommissar für Palästina an Bord eines britischen Zerstörers die Stadt Haifa. Eine seiner letzten Amtshandlungen war die Eintragung dreizehn neuer Namen in die Liste zugelassener Anwälte. Darunter der Name Edward Kossoy.

1953 reiste Kossoy in die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“; nach München also, wo er die so genannte Wiedergutmachung mit aufbaute. Etwa 60 000 Mandanten verhalf er zu ihren Ansprüchen gegenüber der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des »Dritten Reichs«. Für Schaden an beruflichem Fortkommen, Schaden an Gesundheit, Schaden an Leben, wie das damals hieß. Geschichte verjährt nicht, weder in der Seele noch vor Gericht. Mit seinem »Handbuch zum Entschädigungsverfahren« schrieb er ein Standardwerk, das noch heute in den Wiedergutmachungsämtern benutzt wird. Für Antragsteller hauptsächlich in Israel, aber auch in Südamerika oder aus anderen Teilen der Welt, war er „Testamentsvollstrecker“, wie sich die Wiedergutmachungsanwälte selbst auch bezeichneten. Edward Kossoy wollte bei der rechtlichen Entschädigung und Rückerstattung helfen, auch wenn er selbst am besten wusste, dass es dadurch keine Heilung gibt. Allenfalls materiellen Ausgleich, einen Neuanfang, Rechtsfrieden, die legitime Sühne des Illegitimen, immerhin.

Als die große Zeit der Wiedergutmachung vorbei war, verlegte Kossoy sich aufs internationale Privatrecht. In seinem „zweiten Leben“ studierte er auch noch Politikwissenschaft, promovierte, schrieb zahlreiche Artikel und Bücher, und gründete in Tübingen eine Stiftung für den Austausch israelischer und deutscher Rechtswissenschaften. Da lebte er schon eine Weile in Genf, wohin er 1958 gezogen war und wo er diesen Herbst – im Alter von 99 Jahren – verstorben ist.

Das Glück hat ihn begleitet, davon war er überzeugt. Sechs schöne Jahre mit seiner ersten Frau Stella und der gemeinsamen Tochter Anna, bis zum Holocaust. Das Glück des eigenen Überlebens, des beruflichen Erfolgs. Glück, dass er nach dem Krieg seine zweite Frau Sonia traf, mit der er 54 Jahre bis zu ihrem Tod 1999 verheiratet war, auch mit ihr eine Tochter bekam. Und auch von Humor ist viel die Rede in seinen Erinnerungen. Wie in der Geschichte vom jüdischen Schneider, bei dem jemand eine Hose bestellte. Sie sollte in einer Woche fertig sein, war aber erst nach drei Wochen abholbereit. Der Kunde beschwerte sich beim Schneider: Gott schuf die Welt innerhalb einer Woche, und Sie brauchen drei Wochen für eine Hose?! Der Schneider nahm die Hose, näherte sich dem Fenster, rief den Kunden herbei, dreht die Hose, zeigte sie von allen Seiten und antwortete: Warum wundern Sie sich? Schauen Sie sich diese Hose an und dann die Welt!

Gespräch mit dem Juristen Dr. Edward Kossoy: Ein Pionier der Wiedergutmachung

Edward Kossoy, Holocaust und Wiedergutmachung: Erinnerungern eines jüdischen Anwalts, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, 304 S., geb., Euro 29,90, Bestellen?