Ganz normale Männer

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Angehörige der Polizeikompanie Nürnberg waren vor 70 Jahren an der Liquidation des Ghettos in Brest-Litowsk beteiligt…

Von Jim G. Tobias

Es ist der 15. Oktober 1942: Die Sonne ist noch nicht aufgegangen; die Einwohner der weißrussischen Stadt Brest-Litowsk schlafen noch. Scharfe militärische Kommandos durchschneiden die kühle Herbstluft. Etwa 100 fränkische Polizeibeamte erhalten ihre letzten Anweisungen und setzen sich umgehend in Marsch, um gemeinsam mit Angehörigen des III. Bataillon des 15. Polizeiregiments, SD-, SS- sowie „fremdländischen“ Einheiten das jüdische Wohngebiet Brest-Litowsk aufzulösen. Zwischen 10.000 und 15.000 Männer, Frauen und Kinder werden aus den Häusern geholt, zum Bahnhof getrieben, in bereitstehende Viehwaggons gepfercht und zu einer Massenexekutionsstätte bei Bronnaja Gora transportiert.


Brest-Litowsk 1942: Juden vor der Deportation

Dass Polizisten aus Nürnberg und Umgebung an der Liquidierung des Ghettos in Brest-Litowsk beteiligt waren, ist in der Öffentlichkeit immer noch kaum bekannt. Erst durch umfangreiche Recherchen im Archiv der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS-Verbrechen konnte dieses unrühmliche Kapitel der deutschen Geschichte nach Jahrzehnten ans Licht gebracht werden.

Die Polizeikompanie Nürnberg wurde im August 1941 aus über 100 Nürnberger und Fürther Polizeibeamten sowie Reservisten zusammengestellt und im September nach Brest-Litowsk verlegt. Sie unterstand dem SS- und Polizeiführer für Wolhynien und fand Verwendung bei der Objektbewachung sowie bei der „Bekämpfung von Partisanen“. Bereits im September 1942 zerstörten Angehörige dieser Einheit die ukrainische Gemeinde Kortelisy und ermordeten 2.875 Bewohner. Auch dieses Verbrechen lag Jahrzehnte im Dunkeln, bis eine TV-Dokumentation der Medienwerkstatt Franken das vergessene Massaker publik machte (wir berichteten).

Im Zuge eines Verfahrens wegen „Massenerschießungen in Brest-Litowsk“ fand das Landeskriminalamt Baden-Württemberg im November 1961 heraus, dass Angehörige der Polizeikompanie Nürnberg „mit wenigen Ausnahmen bei der Räumung des Ghettos, teilweise zur Außenabsperrung und innerhalb des Lagers, beim Herausholen der Juden aus ihren Wohnungen, eingesetzt“ waren. Bei den Verhören bestritten die meisten der Polizisten jedoch vehement, an der Liquidation des Ghettos teilgenommen zu haben. Sie waren zur fraglichen Zeit entweder auf Dienstreise, lagen im Lazarett oder waren in Urlaub. Dazu gehörte auch Friedrich S., der nach dem Krieg den Posten des stellvertretenden Leiters der Stadtpolizei Fürth innehatte. Er habe von der Ghettoräumung und der Beteiligung seiner Einheit erst nach dem Krieg erfahren, weil er nämlich zur fraglichen Zeit seiner hochschwangeren Frau, die der Entbindung entgegensah, zur Seite stand. Diese hanebüchene Behauptung erschien sogar den Ermittlern unglaubhaft: „Es ist anzunehmen“, so schrieb der berichterstattende Kriminalbeamte mit dem Hinweis auf die leitende Stellung des Friedrich S., dass „er durch seine Aussagen sämtlichen Unannehmlichkeiten aus dem Weg gehen und auch aus diesem Grund von nichts wissen oder gehört haben will.“ Auch Philipp K. gab an, während der Ghettoräumung in Urlaub gewesen zu sein. Nach seiner Rückkehr zur Dienststelle „spazierte“ er jedoch aus „reiner Neugierde“ durch das Ghetto und musste verwundert feststellen, dass es „total verlassen“ war: „Ich habe aber auch nicht mehr eine einzige Menschenseele darin gesehen“, erklärte Philipp K.

Nur wenige Polizisten gaben ihre „Beteiligung bei der Räumung des Ghettos“ zu, behaupteten allerdings, nicht gewusst zu haben, dass die Juden erschossen werden sollten. Die Juden hätten ihren Befehlen zudem „widerspruchslos Folge geleistet“. Sodann habe man die Gefangenen an unbekannte Einheiten übergeben. Obwohl auch Leichen auf den Straßen lagen, konnten sich die befragten Polizisten nicht erklären, wer die „Opfer getötet habe“. Der Polizeibeamte Karl K., der zum Wachdienst eingeteilt war, gab etwa an, dass er auch Schüsse gehörte habe, sich diese allerdings nicht erklären konnte. Er vermutete jedoch, „dass einzelne Widerspenstige, die sich evtl. wehrten, erschossen wurden“. Gesehen habe er aber weder Schützen noch Opfer. Ernst W. blieb indessen ein „besonderes Erlebnis“ in Erinnerung. „Als ich feststellte, dass die Häuser bereits alle geräumt waren, habe ich mich etwas im Ghetto umgesehen. Dabei kam ich an eine Grube, im Ausmaß von vielleicht 4×4 Meter. Wie tief diese Grube war, weiß ich nicht. Vor der Grube lagen einige hundert Kleinkinder, die alle nackt ausgezogen waren. Dieser Haufen war etwa 3 Meter hoch und ebenso lang und breit und dazwischen sah ich immer wieder, wie sich einzelne bewegten.“ Ein Kollege von Ernst W. der mit dieser Aussage konfrontiert wurde, ob er diese Beobachtung bestätigen könne, antwortete entrüstet: „Wenn ich so etwa gesehen hätte, wäre mir dieses Erlebnis bestimmt noch in Erinnerung.“

Die Vernehmungen der Mitglieder der fränkischen Polizeieinheit wurden zum größten Teil durch Kollegen der Kriminalpolizei in Nürnberg durchgeführt. Einige der Beschuldigten waren zu diesem Zeitpunkt im aktiven Polizeidienst. „Ganz normale Männer“, die nach 1945 wieder als anständige deutsche Schupos für Ordnung und Sicherheit sorgten.

Wenngleich die Justiz in ihrer Einstellungsverfügung vom Dezember 1965 zu dem Schluss kam, dass die „Kompanie an der Räumung des Ghettos maßgeblich beteiligt war“, konnte keinem der Beschuldigten eine konkrete Straftat nachgewiesen werden. Lediglich ein Angehöriger der Polizeitruppe wurde vor Gericht gestellt. 1947 verhafteten die Amerikaner Johann Z. und lieferten ihn nach Polen aus. In Warschau wurde er aufgrund seiner Tätigkeit als NS-Polizist und wegen seiner Zugehörigkeit zur Polizeikompanie Nürnberg zu insgesamt sechs Jahren Haft verurteilt.

Während des Krieges kamen 40 Polizeiregimenter, etwa 300 Polizeibataillone und ca. 200 Schutzmannschaftsbataillone zum Einsatz. Die Gesamtstärke dieser Verbände – einschließlich sogenannter fremdvölkischer Hilfseinheiten – wird auf etwa dreieinhalb Millionen Mann geschätzt. Wie dem Standardwerk Enzyklopädie des Holocaust zu entnehmen ist, waren die Polizeieinheiten „maßgeblich an Gewaltakten gegen Juden beteiligt und taten sich dabei durch besondere Grausamkeit hervor.“

Weitere Informationen über die Liquidation des Ghettos Brest-Litowsk enthält die Broschüre „Ihr Gewissen war rein; sie haben es nie benutzt. Die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg“. Hefte zur Regionalgeschichte, Bd. 1, 53 Seiten, 5,80 Euro. Bestellung auch direkt beim Verlag: bestellung(at)antogo-verlag.de.