Nach dem Massaker weinte der Himmel

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Vor 70 Jahren löschten deutsche Polizisten das ukrainische Dorf Kortelisy aus…

Von Jim G. Tobias

„Sie töten uns, sie töten uns!“ Schreie des Entsetzens hallten durch das ukrainische Dorf. Es war der Morgen des 23. September 1942. Eine deutsche Einheit umstellte die Ortschaft Kortelisy, steckte die Häuser in Brand und ermordete nahezu alle Bewohner. Die Aktion war minutiös geplant. In einer mit “Geheim! Einsatzbefehl zur Vernichtung von Ortschaften” überschriebenen Anordnung vom 22. September 1942 befahl Major Holling vom III/15. Polizeibataillon: „Batl. vernichtet bandenverseuchte Ortschaften, Kp Nürnberg vernichtet Kortelisy. Bis 4.35 Uhr ist die Ortschaft umstellt. Beginn des Unternehmens 5.30 Uhr.“

Schon ein Jahr zuvor, im Sommer 1941, hatte die Wehrmacht die Sowjetunion angegriffen. Sie überrannte die westlichen Landesteile und marschierte scheinbar unaufhaltsam Richtung Moskau. Die Front war viele hundert Kilometer von Kortelisy entfernt. Das ukrainische Dorf, etwa siebzig Kilometer südöstlich von Brest-Litowsk gelegen, war militärisch völlig unbedeutend. Hier lebten nur Bauern mit ihren Familien.

„Am Abend des 23. September zählte man 2.875 Tote, darunter 1.620 Kinder“, berichtete die langjährige Direktorin des „Historischen Museums Kortelisy“ Maria Jaroschuk. Auch nach Jahrzehnten ist die Erinnerung an das Massaker noch schmerzhaft: „Bis 16 Uhr dauerte das Morden, als es nachmittags anfing zu regnen, sah es so aus, als ob der Himmel weinte.“ Die Gemeinde von Kortelisy verfügt über ein umfangreiches Archiv mit Aussagen von Zeitzeugen. „Die Polizisten trieben die Bewohner auf dem Marktplatz zusammen. Dann sperrte man sie in größere Häuser, in die Kirche und in die Schule ein“, kann man in den Berichten lesen. „Einige Bewohner wurden gezwungen Gruben auszuheben. Insgesamt sechs Massengräber wurden geschaufelt.“ Dann erschossen sie – gruppenweise zu jeweils 50 Menschen – erst die Männer und dann Frauen und Kinder. „Etwa 1.000 Bewohner – zumeist Alte oder kleine Kinder warf man in eine mit Wasser gefüllte Lehmgrube.“ Wer nicht ertrank und flüchten wollte, wurde erschossen.

Die Polizeikompanie war im August 1941 aus über 100 Nürnberger und Fürther Polizeibeamten sowie aus Reservisten älterer Jahrgänge zusammengestellt worden. Nach kurzer Ausbildung wurde die Einheit im September nach Brest-Litowsk verlegt. Sie unterstand dem SS- und Polizeiführer für Wolhynien und fand Verwendung bei der Objektbewachung sowie bei der „Bekämpfung von Partisanen“.


Der Einsatzbefehl vom 22. September 1942: „Kompanie Nürnberg vernichtet Kortelisy“. Repro: jgt-archiv

In den 1960er Jahren ermittelte die Nürnberger Staatsanwaltschaft gegen etwa 60 ehemalige Angehörige des Mordkommandos. Das Verfahren wurde jedoch 1972 eingestellt. Mangels „hinreichenden Tatverdachts gegen bestimmte Angehörige der Kp Kp Nürnberg”, so die Staatsanwaltschaft in ihrer Verfügung. Die Justiz ging zwar davon aus, dass Mitglieder der Polizeikompanie an „rechtswidrigen Tötungen“ teilgenommen hatten und „ein erheblicher Tatverdacht“ besteht, dass Kortelisy durch die Nürnberger niedergebrannt wurde. Weitere Ermittlungen, wie ein Rechtshilfeersuchen an die sowjetischen Behörden, lehnte die Behörde jedoch ab. Es scheint „ausgeschlossen, dass eventuell noch lebende russische Augenzeugen nach so langer Zeit in der Lage sind, einzelne Täter zu identifizieren oder sogar deren Namen zu nennen“, argumentierte der Jurist.

Die Vernehmungen der ehemaligen Angehörigen der Kompanie Nürnberg wurden zum größten Teil durch Kollegen der örtlichen Kriminalpolizei durchgeführt. Einige der Beschuldigten waren zu diesem Zeitpunkt noch aktive Polizeibeamte und versahen unbehelligt ihren Revierdienst. Alle früheren Angehörigen der Polizeikompanie Nürnberg bestritten in den Verhören vehement eine Teilnahme an dem Massaker. Sie waren in der fraglichen Zeit entweder in Urlaub, erledigten Botendienste oder lagen im Lazarett. An Ortsnamen oder bestimmte Einsätze konnte sich keiner der Polizisten erinnern. Einige der beschuldigten Männer bestätigten zwar, an „Aktionen zur Partisanenbekämpfung“ teilgenommen zu haben, jedoch kam es dabei zu „keinen Übergriffen“. Ein Beschuldigter räumte sogar ein, bei der Vernichtung einer Ortschaft dabei gewesen zu sein, jedoch habe er „nur die Anzahl der getöteten Personen notiert“. Ein anderer gab zu Protokoll: „Ich möchte noch sagen, dass die Polizeieinheit bei der Bevölkerung gut angesehen war“.

Die 1920 geborene Agawija Iwanowna Sachatschuk entging den Mördern, weil sie sich im Kuhstall hinter Milcheimern versteckte. Im Unterschied zu den Polizisten hatte sie keine Gedächtnislücken. „Überall lagen Leichen“, erinnerte sie sich, „etliche dieser Menschen wurden bei dem Versuch zu fliehen erschossen“. Nachdem die Deutschen das Dorf verlassen hatten, so berichtete Frau Sachatschuk weiter, schlichen sich die wenigen Überlebenden aus den Verstecken und bedeckten die Toten mit Erde. „Wir haben Erde auf die Gräber geworfen, doch das Blut quoll hervor.“ Dass es überhaupt Überlebende gab, war nur dem Zufall zu verdanken. Ihr ganzes Leben stellte sich Agawija Iwanowna Sachatschuk daher die quälende Frage: „Warum hatten die Deutschen keine Kugel mehr für mich, warum geizten sie mit einer einzigen Patrone.“


Eine der wenigen Überlebenden des Massakers: Die damals 22-Jährige Agawija Iwanowna Sachatschuk.  Foto: jgt-archiv

Über das Massaker von Kortelisy drehte der Autor unter dem Titel „Der schwarze Mittwoch“ eine TV-Dokumentation. Der Film ist als DVD bei der Produktionsgesellschaft unter info(at)medienwerkstatt-franken.de für 18 € erhältlich. Weitere Informationen enthält die Broschüre „Ihr Gewissen war rein; sie haben es nie benutzt. Die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg“. Hefte zur Regionalgeschichte, Bd. 1, 53 Seiten, 5,80 Euro, Bestellung auch direkt beim Verlag: bestellung(at)antogo-verlag.de.

6 Kommentare

  1. See you soon again

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  2. Vielen Dank für diesen Beitrag. Genau diese, oft leider nicht in der Tagespresse zu findenden Geschichtsstunden sind wichtig. Zum Glück gibt es Menschen wie Agawija Iwanowna Sachatschuk, die erzählen, wie es war, gegen all die Lügner von damals. Gleichzeitig sieht man, und zwar auf allen Seiten, in der heutigen Propaganda, wie leicht es ist, fast alles zu verdrehen, schönzureden, und kein oder ein reines Gewissen zu haben. Wahrscheinlich hilft dagegen nichts als aufzuschreiben und zu zeigen, wie es ist und wie es war, denn es fällt auf, daß Verdreher auf allen Seiten es meist mit der Empirie nicht so genau nehmen.

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