Der Nebel ist die Trauer des Meeres

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In der Verfilmung des historischen Romans „Simon“ verbinden sich zwei Familienschicksale durch die drohende deutsche Invasion und den Antisemitismus in Schweden…

Von Gaston Kirsche

Simon ist ein Film voller Naturtotalen, viele Szenen spielen draußen. Gedreht wurde vorzugsweise am Vorabend, wenn es in Südwestschweden dieses besondere, leicht blauschimernde Licht gibt. Gedämpft, nicht grell.

Von seinem Baumhaus oben in der Eiche hat Simon eine tolle Aussicht, auf das felsige Ufer und dahinter – die Weite des Meeres. Eigentlich ist es kein Haus, sondern ein paar Bretter, auf denen er liegen und am Stamm sitzen kann, ein paar bunte Fantasietiere hängen an Bändern darüber. Es ist Sommer, die Blätter der Eiche ummanteln den in einen Abenteuerroman vertieften, etwa zehnjährigen Jungen. Der träumt sich in die Ferne auf eine Wüstenexpedition. Zwischen den Zweigen hindurch schaut er in die Wolken, aus denen sich ein Kamel formt, dass über den Himmel schreitet.

Der Vater von Simon, Erik Larsson, hat eine kleine Holzwerkstatt, die Mutter Karin besorgt den Garten und den Haushalt. Es gibt kein fließendes Wasser, keine Heizung. Abgeschieden liegt das einfache Schwedenhaus, in dem sie leben. Ein kleiner Bootsanleger, eine einfache Piste verbindet sie mit der Welt. Warum angelt er nicht, spielt nicht Fußball, warum hat unser Sohn keine Freunde außer diese Eiche, die ihm angeblich zu wispert, regt sich der Vater auf. Als Simon einmal mit seiner Mutter bei der Eiche aufs Wasser schaut, vertraut er ihr an: „Der Nebel ist die Trauer des Meeres. Und ebenso unendlich wie das Meer ist der Schmerz“. Die Mutter verteidigt Simon, gibt ihm Bücher, möchte, dass er in Göteborg auf die weiterführende Schule geht.

Sie setzt sich durch, Simon ist glücklich. Muss dem Vater aber versprechen, nie zu vergessen, wo er herkommt – aus einfachen Verhältnissen – und: nicht mehr zur Eiche zu gehen. Das fällt ihm schwer, aber in der Schule stößt er auf den gleichaltrigen Isak. Als der von älteren Schülern bedrängt und als „Judenschwein“ beschimpft wird, kommt Simon das nur widerwillig vom Vater erlernte Boxen zugute. Er landet eine rechte Gerade, die antisemitischen Sprüche sind erst mal vorbei. Der Film erzählt, wie sich durch die beiden Jungen ihre Familien kennenlernen. Die Deutschen beginnen mit der Invasion in Polen den Zweiten Weltkrieg, marschieren in Dänemark und Norwegen ein. Erik wird zur Armee mobilisiert, die Bedrohung stärker. Da taucht Inga auf, die Schwester von Simons Mutter. Sie hat einen geheimnisvollen Brief bei sich. Simons Eltern fordern sie eindringlich dazu auf, den Brief zu verbrennen: Stell dir vor, die Deutschen kommen und finden den. Ruben Lentov, der Vater von Isak hat eine Buchhandlung in Göteborg. Beim Kaffeetrinken im Garten legt er einen Zettel mit einer antisemitischen Schmiererei auf den Tisch, berichtet von alltäglichen Beleidigungen.

In Schweden gibt es wenig Auseinandersetzung um die Rolle des Landes in der Nazizeit, erklärte die Regisseurin Lisa Ohlin in einem Interview. Der Film deutet an, dass der schwedische Staat mit den Deutschen verhandelt hat, es Sympathien für die Judenverfolgung gegeben hat. Dafür stehen nicht nur einige Mitschüler von Simon und Isak, durch dessen Vater wird im Film auch angesprochen, dass die Polizei beginnt, Listen von Juden anzulegen: Um den Deutschen bei einer Besatzung etwas anbieten zu können, so Ruben. Simons Eltern sind verzweifelt und offenbaren Ruben ihr Geheimnis: Simon ist eigentlich der Sohn der geistig etwas verwirrten Inga und eines verschwundenen deutschen jüdischen Musikers.

Einmal treten sogar reale Vertreter des deutschen Staates auf – in Uniform mitten in Göteborg, wo ihnen bei einem offiziellen Besuch die beiden Jungs auf der Straße begegnen. Isak wird von Panik erfasst, Erinnerungen an SA-Männer kommen in ihm hoch, die ihn vor der Flucht der Lentovs aus Berlin dort gequält haben – als Vierjährigen. Um ihn zu schützen, verheimlichen Simons Eltern ihm seine biologische Herkunft. Auch als die Nazis besiegt sind, fällt es ihnen schwer, ihm alles zu erzählen. So lange Jahre haben sie mit der Legende gelebt, so lange hat Simon wachsende Zweifel, ob er wirklich hierher gehört. Mit seinen dunklen Haaren, seiner vom Vater abgelehnten Träumerei. Mit der tiefsitzenden Angst der Mutter, die er spürt, ohne zu wissen, worum es geht: Hat er versagt? Ist er irgendwie falsch?

Als Ruben die Familie fragt, ob jemand mit in ein klassisches Konzert möchte, sagt Simon: Ja! Seine Eltern lassen ihn widerwillig mitgehen. Für Simon ist die Musik wie ein Rausch, eine Offenbarung an Gefühlen. Der Kameramann Dan Laustsen findet ausdrucksstarke Bilder. Die aufwühlende „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz verbindet sich für Simon mit seinem fantastischen Zufluchtsort, der Eiche am Meer, mit ebenso überbordenen Eindrücken aus der Natur: Flirrende Blätter, sich ballende Wolken, blühende Obstbäume, wuselende Ameisen.

Seine Begeisterung, die sich in der intensiven, präsenten Filmmusik ausdrückt, wo sich Mozart, Sibelius mit eigens für „Simon“ komponierten Werken von Annette Focks abwechseln, stößt bei seiner Mutter auf Unsicherheit, bei seinem Vater auf Ablehnung. Aber Simon will seinen eigenen Weg gehen.

Die Regisseurin Lisa Ohlin teilt mit dem Protagonisten die Kindheitserfahrung, sich nicht dazugehörig zu fühlen. Sie kommt aus einer jüdischen Familie, die langer vor ihrer Geburt aus Nazi-Deutschland floh und landete als Kind plötzlich aus New York in Schweden. Diese Erfahrung mag es sein, die ihr den Mut gegeben hat, „Simon“ zu verfilmen. Denn nahezu jeder in Schweden kennt die Buchvorlage, die dem Film zugrunde liegt: „Simon“ von Marianne Fredriksson – ein Weltbestseller, mit vier Millionen verkauften Exemplaren, der in 25 Sprachen übersetzt wurde. Im Original heißt es wie der Film auch ”Simon och ekarna”, Simon und die Eiche. Ein schöner Titel, der aber im Deutschen auf ein Problem stösst, und deshalb zu Simon verkürzt wurde: Simons Eiche ist eben nicht die deutsche Eiche.

Der erste Regisseur, der sich an der Verfilmung von „Simon“ versuchte, Björn Runge, sprang schon bei den Vorbereitungen 2009 ab. Seit Mai 2009 bereitete Lisa Ohlin die für schwedische Verhältnisse mit 50 Millionen Kronen sehr aufwendige Großproduktion vor. In 18 Fassungen verwandelte sich ”Simon” von einem Buch in ein Film-Drehbuch. Dessen holländische Autorin Marnie Blok für ihre Arbeit bei der diesjährigen Berlinale ausgezeichnet wurde. „Simon“ ist einer der erfolgreichsten schwedischen Filme. Bei der Guldbaggegala, der schwedischen Filmpreisverleihung, war er dieses Jahr in 13 Kategorien nominiert. Preise bekamen als beste Nebendarstellerin Cecilia Nilsson für die Rolle der verwirrten Inga und der Deutsche Jan Josef Liefers als bester Nebendarsteller für die Rolle des besorgten Vaters Ruben Lentov. Aber auch die anderen SchauspielerInnen sind mit Bedacht gewählt: Bill Skarsgård, der den erwachsenen Simon spielt, tut dies ebenso ernsthaft und zurückgenommen wie Jonatan S. Wächter, der den kindlichen Simon darstellt. Für Beide ihre ersten großen Rollen, die sie überzeugend, bewegend verkörpern. Fast am Schluß des Filmes tritt Hermann Beyer auf, er spielt einen Juden in Berlin. Es ist, als ob durch ihn etwas von der unvergesslichen DEFA- Produktion „Ich war neunzehn“ in „Simon“ eingespielt ist. Auch dort spielte er einen befreiten Häftling, einen Überlebenden.

Simon, Simon och ekarna, Schweden 2011, 121 Min., R: Lisa Ohlin, K: Dan Laustsen, D: Bill Skarsgård, Jonatan S. Wächter, Helen Sjöholm, Stefan Gödicke. Deutsche Fassung. Nach dem Roman von Marianne Fredriksson.

Weitere Infos: http://www.simon-derfilm.de/

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