Heimat, eine Plombe

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Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposion der Internationalen Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache in Wien zum Thema »Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er«…

Von Paul Parin

Fritz Hochwälder, ein junger Tapezierergeselle aus Wien, ist 1938 als jüdischer Flüchtling in die Schweiz gekommen. Nach der Entlassung aus dem Lager ist er der bedeutende und erfolgreiche Dramatiker geworden. Er hat bis zu seinem Tod mit 75 Jahren in Zürich gewohnt. Oft hat er seinen Abscheu vor dieser kalten und engstirnigen Stadt ausgedrückt, böse und ironisch, nie klagend. Bis ich ihn einmal fragte: »Warum gehst du nicht fort? Alles was du zum Leben brauchst, ist deine Schreibmaschine. Die ist leicht mitzunehmen«. »Das ist es ja«, sagte er, »überall fühl‘ ich mich besser als hier. Bin ich vierzehn Tage in Wien, hab‘ ich wieder mein Kaffeehaus, die Freunde und bin ein Wiener. Paris habe ich ausprobiert, da hat es etwas länger gedauert, so drei vier Wochen, und ich war an der rive gauche zu Hause«. Sogar aus London, wohin er zur englischen Uraufführung seines Dramas »Reich Gottes auf Erden« gefahren ist, reiste Fritz Hochwälder bald fluchtartig ab. »Du weißt ja, ich spreche nur ein paar Worte englisch, aber ich kam im Fernsehen, ich hatte gleich meinpub, alle kannten mich dort, und ich hab‘ gespürt, du mußt weg.«

Hochwälder ging es in seinen Stücken immer um eines: um die Gerechtigkeit. Wenn es um Gerechtigkeit geht, muß der Dichter den Ort und die Epoche aufsuchen, wo Gerechtigkeit als ein gewachsener Fels gerade noch herausragt, aus dem trüben Schlamm. Im dramatischen Ablauf steht dann der Fels, an dem sich alles bricht, vor aller Augen da. Um diesen Ort in jener Zeit zu finden, darf man nirgends »zu Hause« sein. Fritz Hochwälder meinte, das Heimatgefühl, das ihn so leicht ergriff, mache den Blick trüb wie ein schlammiger Regen. Ein Dichter, der so leicht einer Heimat verfällt und wegen seines Themas Heimatgefühle nicht brauchen kann, ist vielleicht kein geeigneter Zeuge.

Da nehme ich lieber einen, der keine Heimat hat, mich selber. Biographisch ist es so, daß ich in Novikloster in der Südsteiermark geboren, im gleichen Novikloster in Slowenien im Königreich Jugoslawien aufgewachsen bin und – damals freiwillig – nach Zürich gezogen bin, wo ich seit 56 Jahren wohne. Als mich unlängst die Kulturredakteurin einer Zeitschrift ermahnt hat: »Dann ist doch zürich Ihre Heimat!« sagte ich: »Nein. Ich bin zwar in Zürich enorm seßhaft; aber eine Heimat ist es für mich nicht«, und zur Erläuterung: »Zürich macht es einem leicht, sich nicht daheim zu fühlen«. Weil sie das nicht gleich verstand, fand ich ein Gegenbeispiel, den bekannten Schweizer Fernsehjournalisten Frank A. Meyer. Als er mich am Telephon um ein Interview für eine einstündige Sendung bat, sagte ich: »Ja; aber ich werde Hochdeutsch sprechen. Sie können ruhig bei Ihrem Berndeutsch bleiben«. »Ich spreche nicht Berndeutsch, ich spreche Bieler Deutsch«, erwiderte Frank A. Meyer, hörbar beleidigt. Ich hatte die beiden Dialekte, die einander ähnlich sind, verwechselt. Es brauchte einiges, um meinen Partner zu versöhnen. Mein Irrtum über seine engere Heimat hatte ihn ernsthaft gekränkt. Das nenne ich ein richtiges Heimatgefühl.

Weil mein erstes Erzählbuch über die Jahre in Slowenien mit dem großzügigen Geburtstagsgeschenk von Kollegen und Kolleginnen für die Übersetzungskosten in slowenischer Sprache herausgekommen ist, hat mich Anka Krcmar, die Leiterin der Gemeindebibliothek Zalec, einer kleinen Stadt nahe von Novikloster eingeladen. Wir vereinbarten vorerst einen privaten Besuch. Es gab aber einen Empfang, der Bürgermeister war da, sein Stellvertreter, Frau Krcmar und die Übersetzerin Milena Pobezin, es gab Ansprachen, Blumen für die Frau Gemahlin, eine Führung zu einigen Schlössern, die renoviert werden sollten, zu einer Barock-kirche, die bereits sehr schön renoviert worden war, und als Geschenk einen Prachtband von einem Professor der Kastellologie und Vedutologie über Schlösser Sloweniens. In meiner Dankansprache sagte ich, diese Schlösser hätten mir dreimal im Leben Freude bereitet, zuerst als ich in einem solchen Schloß aufwuchs, dann als die Schlösser endlich angezündet wurden und heute, wo sie mit Kunstverstand renoviert werden. Das vom Anzünden hörte man gar nicht gern. Als die Partisanen Novikloster anzündeten, hauste darin die Gestapo. Für die slowenischen Freunde bin ich seither ein slowenischer Dichter, obwohl ich nicht Slowenisch spreche. Ein Sohn der Heimat, dessen Leben zurückreicht in die mythisch gewordene Zeit der k. u. k. Monarchie und der eine Brückenfigur zum Westen ist, in die Zukunft Sloweniens.

Ich fand die neuen Freunde sehr liebenswürdig, konnte in mir aber keine Rührung oder andere Heimatgefühle wahrnehmen. Darum machte ich mich auf die Suche. Wenn alle Heimat haben, wieso gerade ich nicht! Schließlich entdeckte ich, daß die Berge, die das liebliche Sanntal umrahmen, den Horizont mit schöneren Linien begrenzen als anderswo. Sonst ist die Gegend nicht spektakulär, Alpenvorland. Immerhin, in meiner ästhetischen Wahrnehmung steckt doch ein Stückchen »Heimat«. Seither sind jedoch Freunde nach Slowenien gereist und haben mir spontan erzählt: »Im Sanntal, in deiner Heimat ist es wunderschön; die Berge dort haben schönere Linien als anderswo.« Es ist also wieder nichts mit meinem Heimatgefühl. Hab‘ ich da einen Defekt? Kommt es daher, daß ich als Großbürger aus dem sozialen Gefüge herausgehoben aufgewachsen bin? Vielleicht ist so einer in seiner Klasse daheim und braucht keine andere Heimat.

Dagegen sind meine Geschwister Kronzeugen. Mein jüngerer Bruder, der mit mir aufgewachsen ist und 1949 als Dreißigjähriger nach Amerika ausgewandert ist, sprach slowenisch und hat in kroatischer Sprache die Matura abgelegt. Als er Novikloster in den siebziger Jahren zum ersten Mal wieder besucht hat, fühlte er sich fremd und hatte beide slawische Sprachen vollständig vergessen. In Pennsylvania, wo er die letzten Jahre gelebt hat und wo er gestorben ist, hatte er das Gefühl, eine Heimat gefunden zu haben. Meine Schwester, die in Lugano lebt, hat Sehnsucht, die »alte Heimat« wiederzusehen, derart, daß sie gewiß ist, eine Stadt, die ich erfunden, aus Merkmalen zweier Orte zusammengedichtet habe, existiere wirklich. Sie kenne ihre Heimat. Wahrscheinlich haben die Slowenen recht. Heimat ist einfach dort, wo man geboren ist. Im Französischen heißt espays natal oderpatrie, englisch horne, homeland oder einfach native country, italienisch terra natia oderpatria. Vaterland ist aber doch noch etwas anderes als das deutsche Wort »Heimat«. Gerade wegen der nationalen Etikette, die der Heimat anhaftet, ist mir die tatsächliche Trennung vom Land der Geburt immer angenehm gewesen. Internationale Solidarität verbindet mich mit allen Menschen dieser Welt, ich bin Weltbürger. Das ist meine Heimat.

Seit die Werte der Aufklärung obsolet zu werden drohen, seit es anscheinend nur noch Nationen und Stämme gibt oder zu geben scheint und keine Welt der Menschen, die guten Willens sind, gilt das nicht mehr. Ich stamme aus einer verflossenen Epoche. Damit wären mein Begriff von Heimat und meine persönlichen Heimatgefühle hinfällig.

Und dennoch gibt es Heimat: ganz ohne Vaterland oder Nation oder Deutschtum. Auf dem Weg zu den Dogon in der Republik Mali lernten wir in Agadez am Südrand der Sahara, mehr als 2000 Kilometer vom Dogonland, den ersten Dogon kennen, einen jungen Soldaten der französischen Kolonialarmee. Im Tornister trug er den dicken Band des französischen Ethnologen Marcel Griaule, Les masques Dogon mit sich. Wenn er sich einsam fühle oder traurig, lese er darin, und dann sei er wieder daheim. Er gab uns Grüße mit in die schönste Stadt der Welt, Bandiagara im Dogonland.

Es ist also möglich, aus einem cartesianisch trockenem Buch tiefe Heimatgefühle zu beziehen. Wie viel eher aus einem uralten Glauben, einer geistigen Überlieferung, aus heiligen Büchern. Eretz Israel, die großartigste Stiftung von Heimat, war längst zur Heimat von Juden der Diaspora geworden – am wenigsten vielleicht der im Land Israel geborenen Sabra -, lange bevor ihnen der Hitlerstaat nach den Worten von Paul Celan ein »Grab in den Wolken« bereitet hatte. Die Geschichte des Staates Israel seit seiner Gründung dauert erst 46 Jahre. Darum können wir leicht zurückverfolgen, wie sich die biblische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse in jenes gefühlsgetragene Vaterland verwandelt hat, das die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Vorväter in altehrwürdigen Schriften und archäologischen Grabungen zu finden hoffen, wahrlich nicht gesucht haben; sie vermissen die verheißene Heimat. Ich habe an die Heimat der Juden erinnert, um nicht in die Falle einer nationalen Etikettierung zu geraten. Allzu leicht sind wir geneigt, »Heimat« als etwas spezifisch Deutsches, als ein rückständiges, sentimentales und mit Ressentiment beladenes Phänomen zu betrachten: Heimatverbände, Heimatvolksgruppen, Heimatvereine und -chöre, und dergleichen. Diese alle enthalten eine Perversion von Heimat, die unschwer auf den Begriff zu bringen ist. Was ich damit sagen will, ist leicht zu verstehen, wenn man etwa die Gedenktafel aus Bronze betrachtet, die auf dem Schloßberg in Graz (über den Kasematten, in denen die Opfer der Heiligen Inquisition und politische Gefangene des Österreichischen Imperiums schmachteten) angebracht ist. Eine völkische Familie, Vater, Mutter, Söhnchen und Dirndl, richten den Blick traurig, aber entschlossen nach Süden. »Südsteiermark, verlorene Heimat« heißt es auf der Tafel, die ein sozialdemokratischer Bürgermeister eingeweiht hat. Die »verlorenen« Städte sind mit deutschen Namen eingetragen, Marburg, Pettau, Laibach, Gotschee. Die Heimat der Slowenen ist ausgelöscht oder soll ausgelöscht werden. Diese Art Heimat meine ich nicht, wenn ich von Heimat spreche. Heimatlos sein ist auch kein Gegensatz zu Heimat, die man hat, die man braucht, die man in sich hat oder eben nicht, durch Verlust oder Verzicht. Wer heimatlos geworden ist, kann sehr wohl zeitlebens Heimat in sich tragen, und wer daheim geblieben ist, ohne Heimat sein.

Vor dieser Versammlung wage ich es nicht, von der Sprache als Heimat zu reden. Hatte Heinrich Heine, als er in der Nacht an Deutschland dachte, Heimatgefühle, oder war er Patriot, oder doch ein Weltbürger, und maß sein Preußen, sein Deutschland am sittlichen Ideal der Menschheit? Und Thomas Mann, und Bertolt Brecht? Von unserem Erich Fried weiß ich: Heimat und Sprache sind zwei ganz verschiedene Dinge. Er bezeichnete sich als Österreichischen oder auch als deutschen Dichter, der Sprache gemäß. Diese oder jene Heimat, die jüdische, die Londoner, die Wiener Heimat, die alle waren für ihn unwichtige und zumeist überflüssige Etiketten, die einem angeheftet werden. Ich will Heimat keineswegs verleugnen. Dommo, ein tüchtiger junger Pflanzer aus dem Dorf Andioumbolo im Dogonland, ist mit uns in die nächste Stadt Mopti gefahren, um seine Geschäfte zu erledigen. Er konnte noch die Säcke mit Hirse, die er mitgebracht hatte, gegen Salz tauschen. Dann verfiel er in einen katatonen Stupor, verlor die Sprache und wurde starr und gelähmt. Ausgetrocknet und halbverdurstet, hockte er in praller Sonne, keine zwanzig Schritt von den Fluten des Nigerstromes. Wir mußten ihn in den Schatten tragen und ihm Wasser einflößen. Auf der Fahrt zurück ins Dogonland kam er bald zu sich. Als die Felszacken, die trockenen gelben Halden und die Brotfruchtbäume des Dogonlandes auftauchten, gewann er seine Sprache zurück und war bald wieder der gesprächige, intelligente und tatkräftige Mann, der er vor der Reise gewesen war; so wie er in seiner Heimat gelebt hatte und weiter leben wird. Wer nie »Heimat« gefunden hat, kann auch in der Schweiz nicht leben. Das Gegenbeispiel zu Dommo ist Alice. Sie ist als älteste Tochter einer Wirtin in einem Bergdorf der Innerschweiz aufgewachsen. In den Jahren ihrer Kindheit hat die Mutter buchstäblich alle Räume des behäbigen Bergbauernhauses mit Gastwirtschaft, das sie gemietet hatte, zu modernen Hotelzimmern umgestaltet. Die Gäste konnten sich in dem verwinkelt gebauten Chalet das Zimmer aussuchen, das ihnen zusagte. Die Familie schlief dann eben in einem Zimmer, das gerade nicht vermietet werden konnte, oder im Stall oder in der Waschküche, nicht zweimal hintereinander im selben Raum. Als Alice heranwuchs, suchte sie vergeblich nach Heimat, trug die Volkstracht, sang im Jodelchor, bestieg trotz ihrer schwachen Konstitution im Sommer und Winter den Bergriesen, der ihrer engeren Heimat den Namen gibt, reiste ins Ausland, kehrte zurück, aber niemals heim. In ihren allnächtlichen Träumen hing sie verzweifelt an eisigen Felswänden, außen an bröckelnden Hausfassaden über dem Abgrund. Als sie mit dreißig erstmals eine eigene kleine Wohnung in der Stadt mietete, kaufte sie unter Hingabe aller Ersparnisse so viele Möbel ein, daß sie nicht mehr zur Türe hereinkam, als alles geliefert war, und sie bei einer Freundin Unterschlupf suchen mußte.

Nur selten fuhr sie nach Hause, um Mutter und Geschwister zu besuchen und verbrachte eine schlaflose Nacht in einem der Zimmer des eleganten, teuren Berghotels, das aus dem armseligen Gasthaus geworden war, dem Lebenswerk ihrer Mutter.

Meine Damen und Herren, Sie werden bemerkt haben, daß ich immer wieder auf einzelne Personen und ihr Schicksal zu sprechen komme. Ich gestehe, daß mich das Thema dieser Tagung: »Wieviel Heimat braucht der Mensch?« erst einmal konsterniert hat. Nicht wegen »Heimat«. Mit Heimatgefühlen, Sehnsucht, Geborgenheit, Verlust und Suche nach Heimat habe ich mich als Psychoanalytiker befaßt, beinahe bei jeder Frau und jedem Mann, die zu einer Analyse gekommen sind. Was mich betroffen gemacht und beinahe verärgert hat, war das Allgemeine in der Frage: »Wieviel braucht der Mensch«. Heimat ist nach meiner Erfahrung ein obligat individuelles Phänomen, jeder Mann und jede Frau mag Heimat brauchen, ihre ureigenste Heimat, wie auch jedes Kind »daheim« sein müßte, bis es erwachsen ist und unter umständen der Heimat entraten oder sich eine neue Heimat suchen kann. Sobald »der Mensch« darauf befragt wird, ob er Heimat braucht, rücken wir ihn in bedenkliche Nähe zu den postmodernen Suchern, Vermittlern und Kämpfern um Identität, mit der heute jede nationale, völkische oder sonstwie kollektive Abgrenzung oder Ausgrenzung legitimiert, jeder beliebige Herrschafts- und Machtanspruch begründet, schließlich jede mitmenschliche Solidarität in Frage gestellt wird. Gewiß sind Kinder auf eine Heimat, auf Sicherheit und Geborgenheit angewiesen, auf ein Minimum, einen Stall von Bethlehem oder auch nur das Tragtuch einer liebenden Nomadenmutter. Was das Heimatgefühl der Erwachsenen betrifft, mag es die Seele nötig haben, wenn Kälte, Einsamkeit, Depression, Verlust und Orientierungslosigkeit drohen, wenn das Selbstgefühl erschüttert ist und zu zerbrechen droht. Für Psychoanalytiker hat Heimat die Bedeutung einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger die Heimatgefühle, die wir darum eine Plombe für das Selbstgefühl nennen. Psychoanalytiker haben es leichter als jene, die sich um Heimat in diesem oder jenem Land, in diesem Staat, jener Nation, um Heimat in einer Weltanschauung, Dichtung, Religion oder Sprache kümmern.

Wir sagen: Wer ein gutes Selbstgefühl hat, der hat Heimat, wem es daran gebricht, der habe Heimat.

Quelle: Paul Parin, Heimt, eine Plombe, EVA Reden Bd. 21, 1996.
Paul Parin (2005): Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Paul Parins Schriften auf CD, herausgegeben von Johannes Reichmayr, 19,90 Euro, Psychosozial-Verlag, Gießen, Bestellen?