DP-Camp in der Alten Kaserne Deggendorf

3
117

Immer mehr Überlebende kommen ins DP-Camp 7,  die Regensburger Zeitung verlangt die Vertreibung der Juden…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

Fast alle Überlebenden, die ihre Erinnerungen an Deggendorf niedergeschrieben haben, sprechen vom „anhaltendem Strom von Menschen aus dem Lager hinaus in die nahe Stadt, sowie auf allen Zufahrtsstraßen und –wegen in das Lager hinein. Der Zustrom jener, die nach Nachrichten über verschleppte Verwandte und Freunde forschten oder die überlebende Verwandte, Freunde und Bekannte suchten, stieg stetig an. Viele von ihnen litten selbst an den Folgen jahrelanger KZ-Haft, der Folter und des Hungers sowie der einseitigen Ernährung,  und manche blieben, weil es in Deggendorf medizinische Hilfe gab. Andere zogen weiter in der Hoffnung, in irgendeinem Lager doch noch überlebende Verwandte anzutreffen. Wieder andere, bitter enttäuscht von der Erkenntnis, dass ihnen niemand geblieben war, quartierten sich auf einige Zeit oder auf Dauer ein in der erklärten Hoffnung auf mitmenschliche Nähe und ein bisschen Geborgenheit. Hier waren sie wenigstens unter Menschen, die Ähnliches erlebt und erlitten hatten wie sie. Es ist wahr, Deggendorf war nach dem Chaos des Anfangs nun zu einem Modelllager geworden. Jeder US-Soldat, der ins Lager kam, wurde bekniet, möglichst viel Post mitzunehmen oder Listen mit Namen der Geretteten und der verzweifelt Gesuchten bei  jüdischen Zeitungen in anderen Camps  und vor allem in den USA einzuliefern.“

Typisch für den Zulauf war der 1927 geborene Hamburger Magnus Bari. Die Redaktion von DEGGENDORF CENTER REVUE  wollte seine „Erlebnisse als KZ-Häftling“ mit der Begründung nicht bringen, dass  man in die Zukunft schauen wolle. Aus der jüngsten Vergangenheit lerne man nicht durch Erinnern, sondern durch geistige Verarbeitung der Erlebnisse. Die Ausnahme rechtfertige der Neujahrstag (1946) als traditioneller Tag der Rückschau. Ferner die Tatsache, dass es um Erlebnisse eines 16-Jährigen gehe:

Magnus Bari und seine Eltern waren 1942 von Hamburg nach Theresienstadt verschleppt worden, über zwei Jahren danach landete Magnus in Auschwitz. Der Bub, nun (Unterarm-)Nummer B 11 122, überstand Gelbsucht und Typhus, Prügelszenen und Hunger, arbeitete als Schuster, wurde in einer oberschlesischen Zementfabrik geschunden, nach Sachsenhausen, Oranienburg und schließlich zu Fuß nach Flossenbürg getrieben. Nach zwölf Marschtagen bei Pfützenwasser und Gras mussten die Halbtoten sich dort im überfüllten Lager eine Baracke zimmern – und bald darauf wieder abwandern. Am 22./23. April 1945 wurden sie unweit von Cham in der bayerischen Oberpfalz von US-Soldaten befreit – 300 Lebende von 2200, die auf den Todesmarsch geschickt worden waren. Im Dorf Kreuth/Pemfling  nahmen der Bauer Alois Ederer und seine Familie den Buben auf, fütterten und pflegten  ihn ins Leben zurück. Nach vier Wochen radelte Magnus Bari unter unvorstellbaren Qualen 750 Kilometer nach Hamburg, um seine Eltern zu suchen. Englische Soldaten und die neue jüdische Gemeinde kümmerten sich dort um ihn – und brachten in Erfahrung, dass die Eltern Bari mittlerweile von Theresienstadt  nach Deggendorf umgesiedelt waren. Magnus Bari fuhr in die Donaustadt.  Hier kam es zu  einem bewegenden Wiedersehen des Buben mit Vater Samel, * 1888, , der gleichaltrigen Mutter Betty und der Schwester Mirjam Bari, *1929.

Untypisch war hingegen der Brief, den das Central Committee des JOINT am 11. November 1945 aus München an „Herrn Carl Atkins UNRRA-Direktor  Team 55 Deggendorf“ verfasste: „Wir bitten Sie, den jüdischen Ex-Häftling des KZ´s Auschwitz Gerechter Georg ausnahmsweise im Lager Deggendorf aufzunehmen. Wir danken im voraus für Ihre Freundlichkeit und begrüßen Sie…“  Der  immer noch  traumatisierte, kranke Mann war 1886 in Maschin geboren worden und hatte viele Jahre untadelig in Breslau gelebt. Er fand sich nach der Befreiung ganz allein auf der Welt, konnte auch in Deggendorf nur mühsam Anschluss gewinnen.

Das Gerede vom „Modelllager Deggendorf“  sprach sich herum. Es ging dabei nicht allein um gutes Essen, warme Räume, medizinische Betreuung  – es ging um Emotionen. Die sich hier aufbauende Gesellschaft entwickelte sich zu einer Lebens- und Sozialgemeinschaft, die früher betonte Nationalitätenkonflikte überwand, mindestens aber an den Rand schob. Es war normal, sich für die Strukturen eines künftigen Staates Israel zu interessieren.  Erst in dieser Normalität von Deggendorf konnten sich die Menschen dem Schmerz des Überlebens hingeben. Sie gedachten der ermordeten Eltern, Geschwister, Verwandten, Freunde und Bekannten. Margot Friedländers Mutter hatte sich der GESTAPO gestellt, als die ihren Sohn Ralph abgeholt hatte. Ihrer Lebens gewandteren Tochter hatte sie den Rat hinterlassen: „Versuche, dein Leben zu machen.“ Und die nahm ihn an: „Jetzt begann ich, mein neues Leben in die eigenen Hände zu nehmen“

Das traf auf die meisten der Camp-Bewohner  und jene Überlebenden zu, die irgendwo privat untergekommen waren.  Ruth Klüger über den Sommer 1945, die ungewohnte Freiheit und die Abenteuer der befreiten Jugend am Badegewässer Donau:  „In den DP-Lagern ging es im Kontrast hektischer, unruhiger zu. Das nächste war Deggendorf, wo Ditha (Anm. eine Pflegeschwester!) gern hinging, weil man dort tanzen konnte, während es mich deprimierte, einfach weil es wieder ein Lager war…“  Die 1931 in Hannover geborene Margot Kleinberger geborene Kreuzer, seit 1942 in Theresienstadt, Opfer brutaler medizinischer Versuche und ab dem 12. Lebensjahr zur Arbeit verpflichtet:  „Man machte uns noch darauf aufmerksam, dass in Deggendorf  in Bayern ein Lager für Auswanderungswillige bestand. Aber Papa wollte lieber nach Hannover zurück. Ganz im Gegensatz zu mir: Ich wollte lieber auswandern. Vater dachte, dass er in Hannover wieder als Beamter bei der Reichsbank arbeiten könnte. `Vor dem Krieg wollte uns kein Land haben. Jetzt, wo wir so elend aussehen, wollen sie uns wahrscheinlich noch viel weniger´, war seine Begründung, Deutschland nicht zu verlassen.“ ((www.ghetto-theresienstadt.info, aufgerufen am 2. April 201; H.G. Adler: Theresienstadt 1941 – 1945: Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Mohr-Verlag Tübingen, 2. Aufl. 1960, S. 719; Revisionsbericht  Nr. 2, Post, vom 6. März 1946; Tätigkeitsbericht des Kulturreferats Februar 1946 im Archiv Westerholz, desgl. DEGGENDORF CENTER REVUE;  zu  Georg Gerechter AJDC in BAVARIA, 11. 11. 1945, Archiv. Westerholz))

Vertriebene Sudentendeutsche kommen

Nach den schrecklichen Jahren der Verfolgung hatten die Juden gehofft, freundlich empfangen zu werden. Sie waren auch überzeugt, dass man ihnen ihr geraubtes, enteignetes oder bei vermeintlich hilfsbereiten Nachbarn verstecktes Eigentum zurückgeben würde. Tatsächlich stießen sie auf Abwehr. Das verstärkte ihren Eindruck, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Die Deutschen begannen, zu verdrängen, was sie getan hatten. Ihre Erinnerungen setzten erst bei der eigenen Flucht oder  Vertreibung, die der Evakuierten bei  den Bombardierungen ein. Also  in jenen Tagen, an denen nun s i e zu Opfern geworden waren – Opfern freilich der Verbrecher an ihrer Staatsspitze, die sie einst frenetisch bejubelt und in freier Wahl als ihre „Führer“ berufen hatten. Sie hatten „den totalen Krieg“ gewählt, den Propagandaminister Joseph Goebbels ihnen offeriert hatte, und einen grauenhaften Untergang erlitten. Ein Drittel ihres Staatsgebiets hatten sie für immer verloren. Vor allem jene Juden, die bei der Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse und angesichts der teils offenen, teilweise versteckten Feindseligkeit ihres Umfeldes  in den Schockzustand ihrer Haftjahre zurückfielen, wurden zunehmend ungeduldiger: Sollte, was sie erlitten hatten, auch nach der Befreiung kein Ende finden? Sollten sie, die notabene auf der Seite der Sieger standen, trotzdem ewige Verlierer bleiben?

Bei allen Begegnungen mit eingesessenen Deggendorfern und den Flüchtlingen, die sich statistisch berechnet zu dritt ein Zimmer in der Stadt teilen mussten, sich in ungeheizten Haus- und Bierkellern, Schupfen und leeren Ställem, in den zahlreichen Baracken aus RAD-Zeiten und in Gartenlauben eingerichtet hatten, blieb doch das wachsende Gefühl, nicht willkommen zu sein. Mit der Ausgabe der eben lizensierten MITTELBAYERISC HEN ZEITUNG in Regensburg vom 31. Dezember 1945 brach die bis dahin latente Feindschaft offen aus. Der Diplom-Ingenieur und Redakteur Otto Wulff hatte seinen Bericht  „Der erste Flüchtlingszug aus der Tschechei“ überschrieben – fehlerhaft wie der gesamte Bericht in der nazideutschen Diktion von 1938: „TSCHECHEI“ war die Ausdrucksweise von Adolf Hitler persönlich, mit der er schon Jahre vor der Besetzung des Landes den slowakischen Teil des Staates verbal abtrennte – wie dies nach der Besetzung dann auch vollzogen wurde. Der völkerrechts-bindende Name lautete indessen Tschechoslowakische Republik!

Es waren auch keine Flüchtlinge, die  eintrafen, sondern Vertriebene aus dem Sudetenland. Wulff schlug vor, die ALTE KASERNE in Deggendorf mit bis zu 4000 Personen zu belegen. „Diese Kaserne, die zur Zeit mit 1500 Juden belegt ist, wäre zu räumen, da diese auch im Falle der Nichtbenutzung als Umladestation als Flüchtlingsgroßkrankenhaus für das ganze Gebiet Passau-Regensburg geeignet ist. So werden die Vorbereitungen durchgeführt, um Menschen aufzunehmen, die man nicht als lästige Zuwanderer zu betrachten hat, sondern als Deutsche, die zu Deutschen kommen, um für sich und für uns alle eine bessere Zukunft aufzubauen.“

Dieser schier unglaublich frechen antisemitischen Ansage  begegneten Center-Revue-Chefredakteur Dr. Alexander Gutfeld und die Mitarbeiter Rubin Goldberg und Martin Heilbrunn (*1901). Der Kölner lebte mit Frau Ida, * 1897, und der aus Nordhausen verschleppten Mutter (?) Berta, *1875, in Deggendorf) in journalistischer Deutlichkeit. Sie wiesen den Gleichlaut der Diktion Wulffs mit der Nazi-Sprache zum Beispiel in dem Begriff „räumen“ nach. Sie zeigten sich aber auch erbittert „von den Wulffen überall in Deutschland“ (Heilbrunn). Und sie entschlossen sich, dem britischen Außenminister Bevin diesen Bericht persönlich zu übergeben: Bevin hatte nach antisemitischen Vorfällen in allen Besatzungszonen eine Kommission beauftragt, sich in Deutschland und auch in Deggendorf umzusehen. Schlimm war, Wulff hatte sich als Sonderkorrespondent seiner Zeitung aus Regensburg in Deggendorf  vorgestellt, als er im Rathaus vom 2. Bürgermeister Josef Schneider, empfangen wurde. Der Bürgermeister  hatte vorsorglich einen Zeugen mitgebracht. Mit keinem Wort war von der Stadtspitze eine Räumung des DP-Camps angesprochen worden. Nun distanzierte sich Deggendorfs neuer Bürgermeister Andreas Maderer öffentlich. Er missbilligte Wulffs Schreiberei scharf. Und er versicherte, in Deggendorf denke niemand an eine Vertreibung der überlebenden KZ-Häftlinge aus der ALTEN KASERNE.

Maderer (1891 bis 1959) galt als unbelastet. Der Gymnasiallehrer hatte am Tag vor der Einnahme der Stadt eine weiße Fahne gehisst. Er war vor ein Standgericht gestellt, zum Tode verurteilt und zur „Bewährung“ an die nahe Front auf dem anderen Ufer der Donau geschickt worden. Ein mitleidiger Unteroffizier hatte dem Offizier des Ersten Weltkrieges die Desertation ermöglicht. Maderer war am 17. Mai  1945 von der Militärregierung  zum Bürgermeister ernannt worden. Der erste freigewählte Nachkriegsstadtrat hatte ihn im Amt bestätigt. Maderer übergab sein Amt am 13. Juni 1946 an einen Nachfolger. Er selbst wurde Leiter des heutigen Comenius-Gymnasiums und gehörte einige Jahre dem Bayerischen Landtag an.  

Die Kontroverse um die Juden und die ALTE KASERNE beendete Dr. Gutfeld in der CENTER REVUE so:

„Selbst wenn alle unsere Wünsche erfüllt wären, wenn Deggendorf das Paradies für Jung und Alt wäre, so bleibt uns ein Wunsch immer noch unerfüllt: Wir wollen fort aus diesem Paradies! Die Jungen wollen an die Arbeit, wollen ein richtiges Leben aufbauen, und die Alten wollen zu ihren Kindern! Wir haben genug von Lagern, und seien sie auch noch so schön!“ ((E. Fraller/G. Langnas: MIGNON Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938 – 1949; DEGGENDORF CENTER REVUE Nr. 5; zu Bürgermeister Maderer M. Tannerbauer/Mietraching, Facharbeit für das Abitur 2010.))

Mehr Platz  im DP-Camp 7

Stetig mehr Überlebende bevölkerten das DP-Camp 7 Deggendorf:

Oktober 1945: rund 1000 Insassen, davon 300 aus Polen. Durch die Ausquartierung von rund 300 Jugoslawen wurde etwas Platz gewonnen. Jetzt konnten auch die für den strengen Winter unbrauchbaren Holzbaracken aufgelöst werden. Die Mehrheit wünschte „eine baldmögliche“ Auswanderung nach Palästina, Minderheiten strebten in die USA, zu ihren Kindern nach Großbritannien, in britische Kolonien oder nach Südamerika. Während in allen anderen DP-Camps in der US-Zone (Bayern, Baden-Württemberg und Hessen) das Durchschnittsalter bei Anfang 30 lag, betrug es in Deggendorf  50 Jahre. Dabei lebten hier 54 Kinder unter vierzehn Jahren.

18. Dezember 1945: 1223,
Silvester 1945:  1350.

Die amtliche Liste vom 1. Januar 1946 nennt 1174 Bewohner. Waren weitere 176 nur kurzzeitige Besucher? Oder waren sie wegen Überfüllung in der 1935 eröffneten neuen Kaserne untergebracht? Jedenfalls hat die Klasse 10c des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf  (Betreuer: Oberstudienrat Schandl und Studiendirektorin Hoch!) 1999  ermittelt,  dass von jenen in der ALTEN KASERNE

518 Polen,
354 Deutsche,
90 Österreicher,
72 Sowjets,
69 Tschechoslowaken,
15 Rumänen,
7 Ungarn und
38 Bewohner mit unklarer Nationalität waren.

Bis zum 24. Dezember 1946 stieg der Anteil der polnischen Juden auf 63 %.

In der ALTEN KASERNE lebten am

31. Mai 1946: 1203,
11. Septemb. 1946: 1506, davon 705 Männer, 594 Frauen und 207 Kinder.
19. Oktober 1946: 1537,
25. Oktober  1946: 1561, davon 735 Männer, 628 Frauen und 198 Kinder. Leiter waren nun Josef Koeniger und Adolf Blau.
31. Oktober 1946: 1572, davon 50 im UNRRA-Hospital,
3. Oktober 1947: 1290,
18. Oktober 1948: 1965 Juden, einige aus Platzmangel in der neuen Kaserne untergebracht .

In Plattling, wo es seit 1944 mitten in der Innenstadt, unübersehbar für die damals rund 7000 Einwohner, ein KZ-Außenlager von Flossenbürg mit außerordentlich hoher Sterblichkeit gegeben hatte, lebten

am 19. Oktober 1946 in Privatwohnungen
80 Juden, davon 45 Männer, 25 Frauen und zehn Kinder,
am 31. Oktober 1946
77 Angehörige der neuen Jüdischen Gemeinde, die eine Synagoge hatte,
am 31. Januar 1947
80 Juden, davon drei Neugeborene. Polen bildeten mit 90 % die Mehrheit. Unter den Männern waren drei Mechaniker, sechs Schneider und 16 Kaufleute und Händler. 15 Gemeindemitglieder hatten sich einem Sportclub angeschlossen, drei Kinder besuchten deutsche Schulen, 15 nahmen Unterricht in Hebräisch und Englisch.   Von den 21 überlebenden Juden, die auf einer US-Liste für Plattling genannt werden, waren 19 zuvor in Lublin, Piaski, Plaszow oder Auschwitz gewesen, ehe sie über das hoffnungslos überfüllte KZ Flossenbürg nach Plattling geschafft worden waren. Der älteste dieser Überlebenden war 1900, der jüngste 1930 geboren.

Dass die Plattlinger Juden am 25. April 1946 in Englisch und Deutsch beim Chef der Militärregierung in Deggendorf, Major Rhodes,  eine Genehmigung erbitten mussten, am 28. April als dem ersten Jahrestag ihrer Befreiung aus dem KZ Plattling  „durch tapfere amerikanische Truppen“ eine stille Feier veranstalten zu dürfen, erbitterte die Gemeindemitglieder. Vier Kränze wollten sie auf dem vorläufigen KZ-Friedhof niederlegen. Die Genehmigung wurde erteilt. Die Toten auf dem Friedhof wurden 1957 exhumiert und dann auf dem KZ-Sammelfriedhof in Flossenbürg neuerlich begraben.


Die in Plattling überlebenden Juden errichteten 1945 einen Gedenkstein für die KZ-Opfer. In der Mitte Kantor Amtmann, der später in die USA auswanderte (Foto: Sammlung Westerholz)

DP-Camp 7 Deggendorf wurde am 15. Juni 1949 geschlossen, die letzten Insassen in das bis 1952 zuletzt unter deutscher Verwaltung stehende Camp Föhrenwald umgesiedelt, in dem auch die früher in Deggendorf untergebrachte Familie Salamander lebte: Sie war wegen der Erkrankung der Mutter in keinem jener Länder aufgenommen worden, in die Emigranten einreisen durften – und ähnliche Gründe gab es für die meisten der in Deutschland zurückbleibenden überlebenden Juden. Dabei hatten sie fast alle am Kriegsende keinen anderen Wunsch als den gehabt, Deutschland so schnell wie möglich und ein- für allemal zu verlassen.

Vor allem in Föhrenwald hatten sie zuletzt unter deutscher Verwaltung gelebt und bald wieder leiden müssen: Denn viele der Deutschen in der Verwaltung hatten weder Takt noch angeborene Herzensbildung, um sich in die traumatisierten, schwerkranken, verarmten, entrechteten, gebrochenen Menschen hinein zu versetzen. Vor allem Razzien deutscher Polizisten, die bald auch wieder Schlagstöcke und Waffen tragen durften, weckten schreckliche Erinnerungen an die Jahre zwischen 1933 bis 1945.  Hingegen hatten sich die meisten der US-Soldaten, die als Wachen oder Betreuer zu den Camps gehörten, nach der Ablösung des Generals Patton und der raubeinigeren kämpfenden Einheiten als einfühlsam, hilfsbereit und mitleidig erwiesen.

Bildung, Kultur, soziale Hilfen  und Sport

Im Camp Deggendorf gab es eine Volksschule und den Kindergarten,
im Dezember 1946: 103 Schüler,
in der Talmut-/Thoraschule im Herbst 1948: 35 Schüler.

Eine  World-ORT-Schule  mit den Kursen Schlosserei, Automechanik, Zahntechnik, Modistik, Lederverarbeitung. Damenschneiderei und Krankenpflege hatte am 30. September 1947 vierzehn Lehrer für 105 Schüler. Bei den Handwerksprüfungen bestanden alle Kursteilnehmer, berichtete Schulleiter Ingenieur Siegfried Rittberger.

Eine jüdische Studiengemeinschaft mit bald schon über 100 Studenten verlegte ihre Unterrichtsstunden in ein Haus an der Graflinger Straße. Im November 1945 wurde eine „Höhere Lehranstalt DP Center 7“ gegründet, die im Dezember ihre Vorlesungen in der früheren Oberrealschule Deggendorf (heute Comenius-Gymnasium!) aufnahm. Den bis zu 50 Hörern vermittelten auch vier Studienräte aus Deggendorf ihr Wissen. Chef der Anstalt war der 1895 im schlesischen Glogau geborene Erich Neustadt, der mit seiner gleichaltrigen Frau Erna (aus Landsberg an der Warthe) in Berlin gelebt und als Religions-Pädagoge gearbeitet hatte. Erich Neustadt war ein getaufter Jude und hatte als in der Welt lebender Laie in geistig-innerer Verbundenheit als Tertiar dem katholischen Dominikanerorden mit dem Namen  Donat Maria angehört. Den deutschen Behörden galt er wie alle getauften gleichwohl als Jude. Deswegen war auch er drei Jahre Konzentrationslager-Häftling.

Käthe Stux, die Freundin von Mignon Langnas seit unbeschwerten Tagen in Wien, und eine Heli Schlager (oder Rachel Schlanger, * 1923 in Düsseldorf?) richteten ein Kinderheim ein, in dem auch Mignon Langnas trotz ihrer Schwäche nach fünf Monaten Krankheit mitarbeitete.

Die Camp-Bibliothek war im Dezember 1946 bereits mit 1700 Büchern und 300 Zeitschriften und Zeitungen  bestückt, der Lesehunger trotzdem kaum zu befriedigen. Wie die Eheleute Freimark abonnierten auch andere Insassen bis zu drei Zeitungen, die in US-Regie oder mit US-Lizenz und von jüdischen Organisationen erarbeitet wurden. Ihre Leser  interessierten sich jedoch nicht für lokale oder überregionale Vorgänge in Deutschland oder die Deutschen betreffend.

In dem von der Vaad Hazala –  einer Hilfsorganisation amerikanischer orthodoxer Juden –  geführten Altersheim im DP-Camp 7 Deggendorf lebten im  Juni 1947 rund 80 Menschen.

Im von Eugene Deutsch gegründeten Schauspielhaus  gab es eine Theatergruppe mit Künstlern wie dem 1901 in Danzig geborenen Tenor Arnold Kirschberg, der bei Aufführungen des „Jüdischen Kulturbundes“ in Berlin brilliert hatte. Dieses Varieté, Musik- und Sprachtheater bot aus den eigenen Reihen Künstler auf, wie Deggendorf sie nie zuvor erlebt hatte und auch später nur selten  auf der Bühne erleben sollte. So hatte eine Aufführung des „Weißen Rössl am Wolfgangsee“  von Ralph Benatzky Weltniveau. Kostüme und Bühnenbild waren dank UNRRA-Major Atkins in Deggendorf hergestellt worden. Und der Erfolg sprach sich dermaßen herum, dass die Künstler und Bühnenarbeiter  auch noch in einem Straubinger Bierlokal und später in Regensburg auftreten durften.

Den tosenden Beifall genossen die mitwirkenden Abraham Popper, Wilhelmine Deutsch, Ernst Wulkan  (*1922 in St. Pölten; auch seine Frau Sala, * 1928 in Oswiecim/Auschwitz , lebte im DP-Camp 7 Deggendorf), Erna Sucher, die eine Kostümwerkstatt führte, Felix Huber (*1913 in Wien), Trude Kornfeld, Ernst Böhm, *1923 in Breslau, woher auch seine Frau Edith, *1921, stammte, die ebenfalls in Deggendorf lebte), Irene Hahn, Otto Kalwo , (*1918 in Wien, lebte mit seiner Mutter  Hermine, * 1876, in Deggendorf),  Annemarie Durra, *1909 in Breslau, Walther Fröhlich, *1909 in Wien, war aus Paris nach Theresienstadt verschleppt worden, Margot und Adolf Friedländer, Hilde Parnes, * 1901 in Schypot/Rumänien, Anny Seidl, Heinz Beer, Dorli Stern, Paul Sucher, Renate Worch, *1926 in Oppeln, Ilse Adler , *1930 in Wien, und Rita Hahn. Welcher der drei Rosenberg-Männer im Camp 7 Deggendorf mitwirkte, ist unklar: Es gab Louis aus  Siegen in Westfalen, Josef , * 1896 in Lichenroth/Hessen, und Ingenieur Max Rosenberg , *1903 in Berlin.


Mit einer Aufführung des „Weißen Rößl“ erlebten die Kulturaktivitäten der DPs in Deggendorf einen Höhepunkt (Foto: Mit freundl. Genehmigung des Leo-Baeck-Instituts New York)

Die CENTER REVUE  nannte in einer Sonderausgabe Mitte November 1945 weitere Künstler: Den Wiener Conferenzier Eugene Deutsch (*1903), die Couplet-Vortragskünstlerinnen Emilie Bechmann aus Leipzig (*1876)  und Steffi Bott aus Breslau, *1925, die mit Ihrer Mutter Käte (*1901) in Deggendorf lebte. Ferner die Sängerinnen Annemarie Durra  und  Hilde Aronsohn-Lind aus Berlin (*1899, Verwandtschaftsgrad zu Nathan A. aus Magdeburg, *1874. , ist ungeklärt), Vortragskünstler  Louis Löwy aus Prag, *1920 in München, Pianistin Pauline Klein-Buchenholz brillierte mit Chopin, ihr Ehemann  Kurt Buchenholz und  seine Freunde Max Rosenberg und Adolf Friedländer  begeisterten mit satirischen Sketchen und Kabarett-Texten. „Die Aufführung verbreitete  Entspannung, Glück und Lachen und ermöglichte die Flucht vor vielen Sorgen .“  Als die Truppe sich dann an das professionelle Stück „Park Avenue 17“ wagte, wer der Erfolg so groß, das ein Auftritt in München anvisiert wurde. Er unterblieb, weil plötzlich die lang ersehnten Visa vor allem in die USA ausgestellt wurden und die wundersame letzte Schtetl-Gemeinschaft in Europa sich rasant aufzulösen begann.

Die Jugend begeisterte schon wenige Wochen nach Schul- und Oberschulbeginn eine riesige Zuhörerschaft mit Liedern und Gedichten in deutscher, hebräischer und englischer Sprache. Übrigens stand auch Jiddisch noch in hohem Kurs. Unter einstigen Turnier- und Schautänzerinnen und –tänzern ragten beim ersten Preisturnier mit Walzer, Tango und English Walz die Paare Hans Nothmann (*1904) aus Berlin undHilde Ucko aus Prag (*1922 in Berlin),  der Wiener Schulim Segel (*1922) und Bärbel Wallach aus Berlin (*1921 in Frankfurt/Oder), der Berliner Hainz Frankenstein (*1918, lebte mit Schwester Ingeborg, *1925, in Deggendorf) und die Wienerin  Herta Hersenander (*1927), sowie einer der sieben  Goldberg und seine Partnerin Irmgard Aukstukalsky aus Königsberg hervor. Das ostpreußische Marjellchen Irmi war 1929 in Insterburg geboren worden, traf in Deggendorf auf viele Flüchtlinge aus Ostpreußen, ließ sich aber auf Kontakte nicht ein: „Euch traue ich nicht – ich habe die Nazibegeisterung  daheim erlebt!“  Es gab die „6 Center-Girls“, die Geigerin Betty Jacobs aus Berlin, *1888 in Breslau, die mit ihrem 1884 in Röbel geborene Mann Albert in Deggendorf lebte , ferner die Komiker Julius Kuflick aus Prag, *1907 in Delmenhorst, Deutsch und Walther Fröhlich aus Paris.

War es verwunderlich, dass die soeben geretteten Menschen jegliche Unterbrechung des normierten  Tagesablaufs im DP-Camp genossen? Louis  Rosenberg schilderte seinem Bruder Sally in den USA Schiffsausflüge auf der Donau: Die absolvierten er und seine Camp-Nachbarn auf der Luxusyacht, die Adolf Hitler dem ungarischen Reichsverweser Admiral Nikolaus Horthy de Nagybanya  (1868 bis 1957) geschenkt hatte. Hitler hatte den konservativen Alt-Monarchisten auf diese Weise bei Laune und als Verbündeten bei der Stange halten wollen. 1944 war Horthy  prominenter Häftling auf Schloss Hirschberg bei Beilngries geworden, 1947 im oberbayerischen Weilheim  die Miete schuldig geblieben. Als freier Mann hatte er mit seiner Familie nach Portugal ausreisen dürfen. Seine Yacht war vor dem Einmarsch der siegreichen Sowjets nach Deggendorf gefahren worden, wo schon einige Fluss-Kriegsschiffe lagen und in der Umgebung neben ungarischen Armeeeinheiten ganze Ministerien samt den Angehörigen der Beamten einquartiert worden waren. Nach dem Ende des Krieges war sie sowohl als Ausflugsschiff, als auch zu Linienfahrten zwischen Deggendorf, Vilshofen und Straubing eingesetzt worden: Da alle Donaubrücken von den abziehenden Deutschen gesprengt worden waren, konnten nur so Verbindungen hergestellt werden. Noch 1955 war die Yacht das Bereisungsschiff der Wasserstraßendirektion Mainz.

Die Eheleute Friedländer durften einen Urlaub in einer zauberhaften Parkvilla in der unzerstörten Stadt  Eichstätt genießen, zu dem ein  emigrierter Berliner sie eingeladen hatte: Jürgen Rötter, Sohn jenes Berliner Rechtsanwaltes, der 1933 den  Kommunistenchef  Ernst Thälmann vertreten hatte, den die Nazis später im KZ ermordeten. Anwalt Friedrich Rötter war aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und verhaftet worden. Er hatte aber Frau und beide Kinder zuvor nach England in Sicherheit schaffen lassen. Er selbst war 1935 ausgewandert und mit der Familie in die USA übergesiedelt, als die Nazis ihn dank internationalen Drucks freilassen mussten. Sein Sohn Jürgen hatte  in der US-Armee eine steile Offizierskarriere gemacht. Nun war er Kommandeur in Eichstätt und dort Vernehmungsoffizier deutschet und baltischer SS-Soldaten.  Der hilfsbereite Offizier, der bei Margot Friedländers plötzlicher Diphterie-Erkrankung blitzschnell schwer zu beschaffende Medikamente besorgte und eine Krankenschwester einstellte, kümmerte sich zwei Monate um seine Gäste – und begeisterte sie mit seinem originalen Berlinerisch. „Keene Sorje“ lautete sein Leib- und Magenspruch. Fanatische Deutsche trachteten ihm nach dem Leben, weshalb er sich einen Deutschen Schäferhund zugelegt hatte.

Freimark bekundeten in Briefen an ihre Kinder in den USA, dass sie im schroffen Gegensatz zu ihrer Häuslichkeit in ihrem früheren Leben nun an kaum einem Abend in ihrem Zimmer blieben. Es war ja kein Tanz auf dem Vulkan, sondern es war der des Jubels, weil der Vulkan – die gezielte Vernichtung der europäischen Juden durch Hitler und seine willigen Vollstrecker  –  erloschen war. Die durch Angina pectoris schwerkranke Wienerin Stefanie Stux  (* 1892) schickte Mann und Tochter trotz ihrer Angst vor der Einsamkeit und im Wissen um ihr nahes Ende ins Kino. Und dann starb sie im DP-Camp 7 Deggendorf.

Ein solch bitteres Sterben in tiefer Verlassenheit war Mignon Langnas´ Vater in Wien erspart geblieben. Er war taub geworden, konnte sein Bett allein nicht mehr verlassen, durfte kein Telefon mehr besitzen, war in der Wohnung im IV. Stockwerk hilflos den Bombenangriffen der Alliierten ausgesetzt.  Und seine Tochter hatte 84 Stunden an einem Stück Dienst geleistet. Am Nachmittag des 30. November 1944  wurde Mignon Langnas unruhig, flehte  ihre Chefin um eine Viertelstunde Freizeit an, lief heim und fand den Vater im Bett sitzend vor. Seine Augen suchten – und fanden die Tochter. Sie nahm seine Hände in ihre Hände, lehnte ihr Gesicht an seine eingefallene Wange – und diese wurde kalt.  „Es dämmerte, wir waren beide allein, nur Gottes traurigster Engel war an seinem Werke.“

Margot Friedländer hatte den umjubelten Künstler Kirschberg in Berlin gekannt. Als er unmittelbar vor der Befreiung Theresienstadts durch die Sowjets aus Auschwitz kommend wieder im KZ auftauchte, war Margot Friedländer fassungslos: „Erkennst du mich nicht“, sagte die Gestalt. „Aber dieses Skelett war nicht Arnold Kirschberg. `Margot´, sagte er, `hast du nicht ein Stückchen Brot?´“ Arnold Kirschberg wanderte in die USA aus. Er erlebte als Chorsänger und als Solist in der New Yorker Metropolitanoper  (MET)  künstlerische Höhepunkte. Bei einer bis heute hochgeschätzten „Lohengrin“- Aufführung  im Jahre 1964 in der MET  brillierte er als einer der drei „Edlen“. Die digitale Bearbeitung der Bandaufnahmen von damals ist immer noch ein Verkaufsschlager.

Es gab die Synagoge, Mikwe und wechselnde Rabbiner, Koscher-Küche für anfangs 400 Essen täglich und einen Shochet  = den Schächter. Von November 1946 bis Februar 1947 erschien die Wochenzeitung „CUM OFBOJ“  in Jiddisch mit lateinischen Buchstaben, die Chefredakteur Menachem Sztajer verantwortete. Er hatte zuvor schon eine Zeitung in Föhrenwald mit aufgebaut. Es gab ferner die „CENTER REVIEW /REVUE“ in jiddischer und in deutscher Sprache. Deren Chefredakteur war Dr.Alexander Gutfeld, ein 1898 in Berlin geborener, dort sehr erfolgreicher Journalist.

Es gab als eigenes Geld im DP-Camp 7 Deggendorf: 5, 10, 25 und 50 Cents, ferner1, 5 und 10 Dollar mit der Unterschrift „Ba“ des 1903 im böhmischen Reichenberg geborenen Bankiers Karl Basche  aus Wien, der ebenso wie seine Frau, die 1900 in Wien geborene Paula Basche, das Grauen überlebt hatte. Das Geld war von der US-Campleitung herausgegeben worden und von einer Münchner Bank gestützt. „Dollars Deggendorf“ waren aber nicht die ersten speziell Deggendorfer Banknoten: Solche hatte es bereits in der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg als Notgeld der Stadt gegeben.


DP-Camp 7 Deggendorf hatte eigenes Geld (Geldschein-Sammlung Westerholz)

Überdies gab es Schwimmstunden und  –wettbewerbe im Kasernen-zugehörigen Freibad, Fußball nicht nur für Kinder und Jugendliche, Leichtathletik, Football und Turnmöglichkeiten, geführte Wanderungen und Kletterpartien.

Rachel Salamander:  „Es war etwas Ungeheuerliches, dass sich auf deutschem Boden – ein Paradox sozusagen –  noch einmal und zum letzten Mal die Lebensform eines osteuropäischen Schtetls etablieren konnte. Das muss man sich wirklich einmal vorstellen. Ich hatte eben das Glück, einen Hauch dieses Schtetls mitzubekommen. Das Jiddische war dort unsere Sprache und wir lebten nach den Vorschriften des Judentums – nach den Gesetzen und den Feiertagen. Ich hatte das Glück, das Judentum noch in einer Weise leben zu können, wie es vielen aus der jetzigen Generation als gelebte und erlebte Erfahrung eigentlich nicht mehr möglich ist.“

Auch der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sah Juden in Deutschland nach 1945 zwischen Anti- und Philosemititismus hin- und hergerissen: „Die Lager in der amerikanischen und britischen Besatzungszone wurden Zentren jüdischer Kultur und jüdischer Religiosität in Deutschland. Aber die Synagogen und Schulen, Zeitungen und Theatergruppen setzten nur das Leben des Ghettos fort. Die überwiegend ostjüdischen Ghettobewohner hatten kein  Interesse an ihrer deutschen Umgebung; sie lehnten Kontakte meist strikt ab.“

Im heutigen Deggendorfer Ortsteil Mietraching war im August 1946 ein Auffanglager für den Massenansturm osteuropäischer Juden eröffnet worden. Darin lebten am

19. Oktober 1946: 214,
3. Oktober 1947: 169,
18. Oktober 1948: 89 Flüchtlinge aus Polen und dem Einflussgebiet der Sowjets in Osteuropa. Dieses Lager wurde im Oktober 1948 geschlossen. Auch die hier zuletzt noch lebenden Juden wurden in das Camp  Föhrenwald gebracht.

Eine Statistik der UNRRA vom 24. August 1946 nennt als weitere Außenstellen des Deggendorfer Camps jene in Mainkofen und Natternberg. Gemeint sind damit  die Abteilungen für geistig und körperlich Schwerkranke in der Psychiatrie, die ab 1911 aus  der früheren Kreisirrenanstalt Deggendorf hervorgegangen war, dem nunmehrigen DP-Camp 7. Ferner das Gut Mainkofen, auf dem vor der Ermordung von 623 Patienten der Psychiatrie Mainkofen durch verbrecherische deutsche Ärzte  Patienten für die Selbstversorgung der Anstalt mit Lebensmitteln gearbeitet hatten.

Die Außenstellen waren

  • Kibbuz Lanegow  unter dem aus Palästina eingereisten Zionisten Reismann Mordechai und UNRRA-Team  55 in Mainkofen/Natternberg  mit bis zu 206 Teilnehmern: 111 Männer, 69 Frauen und 26 Kindern und Jugendlichen. Ende 1946 waren es 193 Juden, davon 70 Männer, 50 Frauen und 73 Kinder.
  • Kibbuz Herelija unter  Rubin Leicht und UNRRA-Team 35 in Mietraching mit bis zu 175 Juden, die nach Palästina auswandern wollten. Davon waren 97 Männer, 52 Frauen und 26 Kinder.
  • Ferner lebten 41 Juden, davon 38 männliche und drei weibliche, im Kibbuz Halbmeile bei Deggendorf.

Joseph Levine  beschrieb in einem JDC-Rechenschaftsbericht für die Zeit zwischen dem 10. Oktober und 20. November 1945 den Plan eines großen Kibbuz  für 100 junge Menschen in der beim Psychiatriekrankenhaus vorhandenen Landwirtschaft.  Der  Natternberger Teil des Kibbuz Lanegow schloss im Mai 1947. Seine Mitglieder wurden nach Mainkofen umgesiedelt. Dort fühlten sich die Kibbuzim so wohl wie seit Jahren nicht mehr: Jede der drei Gruppen belegte ein eigenes Gebäude. Sechs Mitglieder  arbeiteten in einer Schuhmacherwerkstatt.  Für eine geplante Schneiderei waren bereits zwei Nähmaschinen beschafft worden.

  • Eine Besonderheit war das Deggendorfer Marine-Kibbuz.  JDC-Mitarbeiter  Rae Fischer am 22. Mai 1947: „Der Hauptunterschied besteht darin, dass der Inhalt des Trainings die Schifffahrt und nicht die Landwirtschaft ist, wie es bei den `Hachsharoth´ üblich ist.“  Der bereits genannte Bankier Basche war zum Verwalter der Josef Wallner Schifffahrtsgesellschaft berufen worden, weil Wallner als aktiver Nazi zu der Zeit keine Firma führen durfte. Basche hatte also die Kibbuz-Errichtung angeboten und damit zweierlei bewirken wollen: Einerseits kam für die Nutzung der Wallner-Anlagen und Wallner-Schiffe  Geld von jüdischen Organisationen in die Firma. Andererseits konnten junge Juden lernen, Schiffe instand zu halten, zu reparieren und  zu steuern, Maschinen zu pflegen – kurzum: Der vorausschauende Basche, der nicht nur von der Ausrufung eines Staates Israel träumte, sondern sie aktiv betrieb, wollte für den Tag X Schiffsinstandhaltungen sichern und jungen Menschen überdies den Eintritt in einen modernen, spannenden Beruf ermöglichen. Zwar gab es wegen der Unterbringung der jungen Menschen in Baracken in dem von US-Bombern schwer zerstörten Deggendorfer Hafen oftmals Beschwerden. Aber die Deggendorfer Nocham-Gruppe schaffte es dennoch, auch diesen Kibbuz erfolgreich zu gestalten. ((Statistische Daten vom Regionalkomitee Niederbayern und Oberfpfalz, ferner Archiv Westerholz aus Leo-Baeck-Institut New York;  B. Petschek-Sommer, DEG, Jüdische Displaced Persons in Deggendorf 1945 – 1949, in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 20/1999.))

–> Fortsetzung

3 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Müller,
    dass heute niemand mehr ernsthaft behaupten kann, seinerzeit habe NIEMAND gewusst, was passierte, verdanken wir der Enkelgeneration: Die Alten sprachen nicht, die Jungen fragten nicht, erst die ganz Jungen fragen nun die Großeltern – und da öffnen sich oft Schleusen. In den mir nun vorliegenden Büchern und Briefwechseln, die unter anderem das DP-Camp 7 Deggndorf betreffen, wird überdeutlich, dass auch die Juden, die noch in ihren Heimatstädten waren und auf den Abtgransport warteten, wussten, was in der „weiten Ferne“ oder „weit im Osten“ passierte; dass die Unglücklichen in Theresienstadt wussten: Wer nach Auschwitz gebracht wird, kehrt nie wieder zurück. Leider ist es aber eine Tatsache, dass zum Bei8spiel die Camp-Geschichte in Deggendorf immer noch verdrängt  wird: Auf meine hier nun schon dreiteilige Veröffentlichung, der noch drei Teile folgen, kamen nur wenige Mitteilungen aus der Deggendorfer Bevölkerung. Dabei leben noch sehr viele Zeitzeugen. Einige versprachen mir Informationen, sofern ich sie als Informanten absolut unkenntlich mache.
    Mit freundlichen Grüßen
    und Dank für Ihre Meldung,
    S. Michael Westerholz

  2. In Deutschland wird immer noch häufig die Ansicht geäußert, von der Schoa habe man im Allgemeinen nichts gewusst; das kann so nicht stimmen, denn ich habe schon im Alter von weniger als zehn Jahren einige Andeutungen so deutlich vernommen, dass ich sie mir gemerkt habe. Mit freundlichen Grüßen
    Ihr Bolko Müller

Kommentarfunktion ist geschlossen.