Die Alte Kaserne in Deggendorf nach dem Zweiten Weltkrieg

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Aus der Hölle Theresienstadt und Polen  in den Wartesaal einer unbestimmten Zukunft…

Von S. Michael Westerholz

Die Ereignisse zwischen dem 27. April 1945, als Soldaten der 3. US-Armee die nur leicht kriegsbeschädigte Stadt Deggendorf und am 28. April beide Kasernen in der Stadt besetzten, und dem Oktober desselben Jahres, lösten nicht nur unter fast 3800 Menschen Hektik aus, die in der ALTEN KASERNE gestrandet waren. Der totale Zusammenbruch hatte sich unübersehbar angekündigt. Und wer als Deutscher bis dahin Augen und Ohren verschlossen hatte, um die in der Bevölkerung längst bekannten Verbrechen der Deutschen nicht wahrnehmen zu müssen, hatte die Tage zuvor unmittelbar vor Augen gehabt. Da waren nämlich zwei KZ-Züge durch die Stadt geleitet worden. Aus einem waren zahlreiche Tote heimlich auf den Friedhof getragen und dort verscharrt worden. Friedhofswärter Englmeier schwieg darüber und über den exakten Vergrabungsplatz bis in den Tod. Als mitleidige Bahnreisende den wimmernden Menschen in den Güterwaggons Wasser bringen wollten, verhinderten die SS-Begleiter dies unter Gewaltandrohung.

Schon an den Bahnhöfen zwischen Bayerisch-Eisenstein an der früheren böhmisch-bayerischen Grenze und Deggendorf, in Zwiesel, Regen, Gotteszell und Grafling, hatten Menschen das Elend der massenhaft sterbenden KZ-Häftlinge mitbekommen: Deren Schreie waren unüberhörbar, auch als es in stetig leiseres Wimmern überging, die aus den vergitterten Güterwaggons bittend ausgestreckten Hände waren unübersehbar gewesen. Überdeutlich hatte sich eine breite Blutspur auf der gesamten Fahrstrecke zwischen den Schienen ausgebreitet. Einer der beiden Züge war mit 4800 Häftlingen in Buchenwald gestartet. Nach seiner Abfahrt aus Deggendorf waren in Nammering 794 Opfer in einen Steinbruch unweit der Gleise aus den Waggons herausgeschossen oder hinaus geprügelt worden. Hier aber hatten ein mutiger Pfarrer und Dorfbewohner gegen den Willen und die Gewaltandrohungen der SS den noch lebenden Häftlingen im Zug jede eben mögliche Hilfe geleistet. Als dieser Zug Tage später endlich in dem bereits befreiten KZ Dachau eintraf, fanden die entsetzten US-Soldaten kaum 2000 Überlebende darin.

Dass die ALTE KASERNE noch stand, war ein Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet Baumeister Max Streicher hatte einen deutschen Major überredet, auf die Sprengung von Brücken in der Umgebung zu verzichten. Max Streicher war der Bruder jenes Julius Streicher, der als Chef der Hetzzeitung DER STÜRMER weite Kreise der Deutschen systematisch gegen die Juden aufgebracht und so radikal gewütet hatte, dass schließlich sogar Adolf Hitler ihn als Gauleiter Frankens abberufen musste. Julius Streicher wurde später im Verlauf der Nürnberger Prozesse gehängt. Max Streicher hatte seinen eigenen Kopf: Er baute Straßen und verweigerte sich der nationalsozialistischen Ideologie. Weder verschaffte er sich durch Interventionen seines Bruders Aufträge, noch nahm er Bonzen-Eingriffe in seine Betriebsführung widerstandslos hin. Zwar konnte er die Donau- und die Eisenbahnbrücke nicht retten. Aber er und vertrauenswürdige Mitarbeiter seiner Baufirma zogen mit Streicher-Baggern Bomben und Sprengmittel von den für den innerstädtischen und Überortsverkehr unverzichtbaren Brücken im und am Stadtgebiet. Zwar flogen ein Munitionslager und eine kleine Bachbrücke unweit der Kaserne noch in die Luft. Aber das Großbauwerk an sich blieb unbeschädigt. Dies auch, als eine Luftwaffenstaffel unter dem Kommando des deutschen Piloten Erich Hartmann am 7. Mai 1945 Bomben abwarf, als die US-Soldaten die Stadt bereits erobert hatten. In Wiesen in nächster Nachbarschaft der ALTEN KASERNE landeten diese Bomben, gingen aber nicht hoch.

Das vorteilhafte Wirken Streichers anerkannte Jahre später auch Peter Kellnberger (1921 bis 1982), der Erich Hartmanns wütenden Fliegerangriff in buchstäblich letzter Kriegsminute heftig verurteilte. Kellnberger war Deggendorfer, Kriegspilot und einer von nur drei aktiven Deggendorfer Widerständlern. Und er war – in der ALTEN KASERNE daheim gewesen: Sein Vater war Krankenpfleger und Schuhmachermeister, seit 1932 in der Kreisirrenanstalt Deggendorf angestellt. Seine und weitere Werkstätten waren von Mainkofen dorthin verlegt worden. Dort lebte denn auch Peter Kellnberger. Anfangs waren er und sein älterer Bruder vorbehaltslose NSDAP-Anhänger gewesen. Doch dann rückte Peter Kellnberger immer deutlicher davon ab.

Dafür dürften auch seine klösterlichen Lehrer in der Benediktinerabtei Metten Beispiel gebend gewesen sein: Deren Abt Corbinian Hofmeister war KZ-Häftling in Dachau, Pater Augustinus Mayer (1911 bis 2010), ein bayerischer Generalssohn, ein erklärter Nazigegner. Pater Augustinus wurde später selbst Abt in Metten, in die päpstliche Regierung im Vatikan berufen und war schließlich Kardinal. Nach Anzeigen gegen ihn und Vernehmungen durch die GESTAPO desertierte Peter Kellnberger 1944 mit einer ARADO-Luftwaffenmaschine nach Schweden. Dort heiratete und starb der Lehrer, Dichter und Schriftsteller auch. Schon dass er erst 1948 erstmals wieder nach Deggendorf kommen durfte, zeigt, dass die Deutschen die Gewissensentscheidung der meisten Deserteure nicht estimierten.

Peter Kellnbergers Eindruck von Deggendorf, drei Jahre nach dem Kriegsende: „Selbst auf Verwandte kann man heute in Deutschland nicht mehr viel rechnen. Die allgemeinen Angst vor der Zukunft und die unsichere Gegenwart führt zur radikalen Durchführung des Satzes: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Gesamteindruck: Schieberei und Ungerechtigkeit an der Tagesordnung. Bestechung wie auf dem Balkan. Die Behörden sehr häufig käuflich.“ ((Bericht von Max Streicher in P. Erkers STREICHER 1909 – 2009, Verlag Pustet Regensburg, S. 53/54, und in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 17/1996, S. 349/50; Alt und Jung Metten, 76. Jahrgang, Heft 2, Gedenken an Kardinal Augustinus, ferner in DEGGENDORFER ZEITUNG vom 30. Mai 2011; F. Jung über Peter Kellnberger in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 28/2006, S. 217 ff., desgl. R. Schlickewitz: https://www.hagalil.com/2011/05/05/wehrmachtsdeserteur/. ))

Im April/Mai 1945 herrschten chaotische Zustände in Deggendorf. Dies auch dadurch, dass der von US-Offizieren wieder eingesetzte Vorkriegs-Bürgermeister, der opportunistische NS-Mitläufer Dr. Anton Reus, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Zwar vertrieb er am 27. April 1945, kaum zum Bürgermeister ernannt, Plünderer aus den Innenstadt-Geschäften. Er musste dabei aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich darunter neben entlassenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern viele Einheimische und deutsche Flüchtlinge befanden, die ungeniert zugriffen. Mittlerweile passierten im Tagesdurchschnitt um die 10.000 heimat- und orientierungslose Menschen die kleine Stadt, auch schwerstkranke KZ-Häftlinge darunter, um die sich mit Ausnahme der katholischen Ordensschwestern im Städtischen Krankenhaus Deggendorf kaum jemand kümmerte: Sie waren ja eine lebendige Anklage gegen die Deutschen, der lebende Beweis dessen, das die Mehrheit der Deutschen zwölf Jahre hindurch nicht zur Kenntnis genommen hatte und alsbald wieder leugnete. Wirklich helfen konnten die Nonnen diesen Kranken nicht, da auch sie keine Medikamente bekamen und Lebensmittel nur auf den ihnen persönlich zugeteilten Marken.

Am zweiten Tag seines Dienstes berief Bürgermeister Dr. Reus Hilfspolizisten – und erlebte, dass unter den schließlich bis zu 75 „Hiwis“ vor allem Nazi-Parteigenossen aus der Stadt nach den Armbinden gegriffen hatten. Er ließ das von den Nazis entfernte Kreuz ins Rathaus zurück tragen, berief an die 60 Bürger als Helfer in zahlreiche substanzlose Ämter – und dirigierte doch nur Leerlauf. Als 400 Bürger die Sperrzeiten missachteten, ließ er sie auf US-Befehl viele Stunden streng bewacht auf den Stadtplätzen stehen. Doch die Tat dieser Bürger war eine Demonstration seiner Bedeutungslosigkeit. Und als von 300 bis 500 zur Reinigung in die ALTE KASERNE und zu Arbeitseinsätzen befohlenen Frauen und Mädchen nur 120 erschienen, ferner auch die meisten der 400 zum Aufräumen der Kriegshinterlassenschaften befohlenen Männer fernblieben, mussten die Amerikaner energisch eingreifen. Sie taten dies mit Hinweisen auf das Verhalten der Deutschen in den besetzten Ländern: „Wären wir Deutsche, so wären Sie schon erschossen.“

Dass der Bürgermeister offenbar glaubte, im politischen und praktischen Handeln des Jahres seiner Absetzung 1933 wieder ansetzen zu können, erboste US-Offiziere so, dass sie Dr. Reus unter heftigen Stößen gegen die Brust einzutrichtern suchten, wie s i e sich die Wiederherstellung und Neuausrichtung einer lokalpolitischen, vor allem basisdemokratischen Ordnung vorstellten.

Chaos und Gefahren herrschten aber auch, weil die rund 3800 Menschen aus unterschiedlichen Nationen, die sich in das Backsteingemäuer der ALTEN KASERNE geflüchtet hatten, absolut nicht daraus weichen wollten: 1000 jugoslawische Kriegsgefangene und Zivilisten, ungarische Volksdeutsche, verschiedene andere Gruppen, die zum Teil freiwillige Arbeiter oder gar Verbündete NS-Deutschlands gewesen waren, traten zuerst dem neuen deutschen Bürgermeister, ferner den US-Soldaten, die ihn unterstützten, und wenig später den neu einquartierten KZ-Überlebenden feindlich gesinnt entgegen.

Dass dies nicht auf alle Insassen der Gebäude zutraf, hat der Deggendorfer Historiker und haGalil-Autor Robert Schlickewitz vor einiger Zeit dargelegt. Dieser Teil der Geschichte der ALTEN KASERNE wird in einem späteren Beitrag dargestellt. UNRRA-Mitarbeiter, die DP-Camp 7 Deggendorf am 15. November 1945 übernahmen, notierten für diesen Tag unter der Obhut des XII. US-Korps über den Daumen gepeilt 1000 jüdische Camp-Insassen. Weitere 3000 Juden lebten in Gemeinden im Kommandobereich dieses Korps, das unter anderem die Region Deggendorf besetzte. An ihre endgültige Rettung zu glauben, fiel den überlebenden Juden schwer: Noch am 7. Mai 1945 war ein deutsches Jagdflugzeug über das schon besetzte Deggendorf gedonnert. Luftwaffenmajor Erich Hartmann (1922 bis 1993), als Lieblingsobjekt der NS-Propaganda als der deutsche Pilot gefeiert, der die meisten gegnerischen Flugzeuge abgeschossen und zahllose Menschen getötet hatte, feuerte auf US-Soldaten. Hernach steuerte er seine Maschine nach Prag und gesellte sich mit seinen Kameraden einem deutschen Flüchtlingstreck zu, der im tschechischen Pisek in US-Gefangenschaft geriet. Die Soldaten im Treck wurden an die Sowjets ausgeliefert. Hartmann kam erst 1955 dank Bundeskanzler Konrad Adenauer frei und wurde bald darauf in die Bundesluftwaffe eingereiht – wie viele der einstigen NS-Offiziere. Hartmann brachte es bis zum Oberst. Selbst Rolf Schiller, Sohn eines Deggendorfer Metzgers und Kriegsgewinnlers, den der eigene Sohn als (Nazi-)Parteimitglied und „Hitler-Sympathisant“ bezeichnet, nennt Hartmanns Tieffliegerangriff „einen kleinen Terror“.

Margot Bendheim, 1921 geborene Berlinerin, hatte Tage nach der Befreiung Theresienstadts den Verwaltungschef des Jüdischen Kulturbundes Berlin, Diplom-Kaufmann Adolf Friedländer (* 1910 ebenfalls in Berlin, bis 1997 in New York) geheiratet. Friedländer war von Theresienstadt nach Wulkow bei Frankfurt an der Oder verschleppt worden, wo er und zahlreiche weitere Häftlinge im Auftrag von Adolf Eichmann Baracken und Luftschutzbunker für das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) bauen sollten. Der Bau stoppte recht bald, weil die Russen unüberhörbar näher rückten. Eichmann hielt sein Versprechen, die Häftlinge nach Theresienstadt zurückschaffen zu lassen. Friedländer kam schwer furunkulös dort an.

Dass er noch lebte, verdankte er Robert Wachs und einem ungenannten Gendarm. Roberts christlicher Vater hatte sich von seiner jüdischen Frau nicht scheiden lassen und wurde darum selbst in ein KZ gebracht. Bald darauf sollte eines seiner beiden Kinder deportiert werden. Die Mutter sollte entscheiden, welches. Robert ging freiwillig. In Theresienstadt übernahm der durchtrainierte Bursche einen Teil der Steinbruchaufgaben Adolf Friedländers. Als der im Steinbruch von einem LKW-Fahrer eine Salami eintauschte, hängte er sie innen in seine Hose. Beim Einmarsch von der Arbeit ins Lager durchsuchten SS-Leute und tschechische Gendarmen die Häftlinge. Ein Gendarm ertastete die Wurst – und winkte ihn durch.

Friedländers Freund Hans Manasse, 1918 in Luzern geborener Schweizer, aber in Berlin lebend, hatte weniger Glück. SS-Leute fanden bei ihm ein paar grüne Äpfel – und verfrachteten ihn unverzüglich „in den Osten“. Aber auch Manasse überlebte und kam mit seiner Mutter Berta (*1894) aus Berlin im DP-Camp 7 Deggendorf wieder zusammen. Adolf Friedländer hingegen hatte seine Mutter verloren: Ein nach Theresienstadt bestellter Zug, in dem auch seine Mutter saß, wurde kurzfristig „in den Osten“ umdisponiert. Er rollte schon, als Adolf Friedländer am Berliner Bahnhof eintraf, um die von ihm erwirkte Freistellung seiner Mutter zu präsentieren. Viel später erfuhr er, dass die Mutter ohne Umwege nach Auschwitz geschafft worden war.

Margot Friedländer: „Eines Abends saßen wir wieder auf der Bank, als Adolf mich fragte: `Kannst du dir ein Leben mit mir vorstellen?´ (…) Ich sagte ja. Adolf gab mir den Trauring seines Vaters. (…) Am 26. Juni (1945), genau einen Tag bevor der letzte Rabbiner Theresienstadt verließ, wurden wir nach jüdischem Ritus getraut. Rabbiner Neuhaus leitete die Zeremonie. Statt einer Chuppa hielten vier unserer Freunde als Brautbaldachin einen Gebetsmantel über uns. Wir hatten keinen Wein, und so gab uns Arnold (Kirschberg) die Flasche Brandy, die er auf einem seiner Beutezüge `befreit´ hatte. Leider konnte er selbst nicht zur Hochzeit kommen, denn er war wieder krank. Statt dessen lieh er Adolf, dessen Hose bereits sehr zerschlissen war, seine eigene Hose und einen Gürtel. Mein Hochzeitskleid hatte ich mir in den letzten Tagen selbst genäht – aus dem orange-weißen Tupfenstoff, den ich ebenfalls von Arnold bekommen hatte. (…) Da wir kein Glas hatten, wickelten wir eine alte Porzellantasse in ein Stück Stoff. Adolf trat darauf, und die Tasse zersplitterte in viele Scherben. Eine davon bewahre ich auf, bis heute.“ (…)

„An einem warmen Sommertag Anfang Juli (1945) verließen wir Theresienstadt – in Viehwaggons. Diesmal sollten sie uns in die Freiheit bringen.(…) In Pilsen (…) warteten amerikanische Militärlastwagen (…) die uns in das DP-Lager in Bayern bringen sollten. (…) Wir fuhren durch den Böhmerwald, den Bayerischen Wald. Wälder, Berge, eine Weite, an die meine Augen nicht mehr gewöhnt waren. (…) wir fuhren in einer langen Kolonne. Unser Wagen war der zweite von vorn. Auf einer Seite steile Bergwände, auf der anderen Seite ging es ebenso steil hinab ins Tal.“

 „Endlich hatten wir den Pass erreicht. Von nun an ging es ständig bergab. Die Wege waren abschüssig. Plötzlich nahmen wir einen seltsamen Geruch wahr: `Die Bremsen brennen durch!´ In diesem Augenblick verlor der Fahrer direkt vor uns die Kontrolle über seinen Lastwagen. Der Wagen stürzte vornüber, mehrere Passagiere fielen heraus und rollten den Abhang hinunter. Unser Fahrer riss das Steuer herum und fuhr in die Felswand hinein. Kurt, der noch immer auf dem Dach lag, wurde auf die Straße geschleudert. Wir alle stiegen aus und liefen zu ihm, aber Kurt rappelte sich schon wieder auf. Er war unverletzt und rannte sofort mit anderen Männern den Berghang hinunter. Von dort unten waren Schreie zu hören (…) überall auf der steilabfallenden Böschung lagen die Verletzten aus dem ersten Wagen. Sie bluteten, stöhnten und schrien. Schließlich hörten wir Sirenen, die Polizei kam und einige Krankenwagen, um die Verletzten ins Spital zu bringen(…) Ich war wie betäubt. Ich konnte nicht fassen, dass vielleicht einige von uns an unserem ersten Tag in der Freiheit auf diese Weise sterben mussten.“

„Wir verbrachten die Nacht in einer Notunterkunft, einem Elektrizitätswerk am Fuß der Berge. Dort schliefen wir auf dem nackten Fußboden. Erst am nächsten Morgen kamen wir in unserem DP-Lager an. Als wir in das Lager einfuhren, begann plötzlich in unserem Lastwagen eine Frau zu weinen. Nun sahen wir es alle: Rings um das Lager lief ein Zaun aus Stacheldraht. Im Lastwagen brach Panik aus. Wir kamen aus dem KZ und waren schon wieder hinter Stacheldraht. Das Lager wurde von den Insassen aus irgendeinem Grund `Lager Windsor´ genannt, ein trostloser Ort…!“


Auf dieser Passstraße von Böhmen nach Deggendorf verunglückten fast täglich LKW, so im Juli 1945 auch die beiden ersten der US-Armee mit Überlebenden des KZ Theresienstadt  (Foto: Sammlung Westerholz)


Nach dem Unfall wurden die 400 Juden des LKW-Transports Pilsen-Deggendorf für eine Nacht in diesem Wasserkraftwerk untergebracht. (Foto: Sammlung Westerholz)

„Kurt“ – das war Kurt Kohorn. Für ihn war die Reise von Theresienstadt über Prag bis Pilsen Neuanfang, Ende und Abschied zugleich: Er war 1921 in Stiedra geboren worden, einem tschechischen Dorf mit gegenwärtig 551 Einwohnern im Tepler Hochland unweit von Karlsbad. Als die Deutschen ihn ins KZ verschleppten, lebte er in Pilsen. Von Theresienstadt aus war er in einem der Todestransporte nach Auschwitz gebracht worden, hatte aber wie durch ein Wunder überlebt. Mit fünf etwa gleichaltrigen Leidensgenossen hatte er sich nach der Befreiung Auschwitz´ auf den Weg nach Theresienstadt gemacht. Als er sich in Pilsen auf das Dach des US-Fahrzeugs legte, warf er nur einen kurzen Blick auf die Stadt zurück, die ihm einst Heimat gewesen war und in ihrer großen Synagoge Zuflucht an trüben Tagen bot. Nun hielt ihn hier nichts mehr: Von seinen jüdischen Freunden war niemand mehr dort, die meisten mit großer Wahrscheinlichkeit ermordet. Die Deutschen standen vor ihrer Vertreibung, die der erste Nachkriegspräsident der Tschechoslowakei, Eduard Benesch, schon Jahre zuvor im Exil angekündigt hatte. In einigen Orten wurden sie bereits Monate vor dem Beschluss der Aliierten, alle Deutschen aus der Tschechoslowakei auszusiedeln, illegal gejagt.

Sollte Kurt Kohorn nach allem, was sie ihm angetan hatten, Mitleid mit den Deutschen haben? Aber auch die Tschechen in seinem Umfeld hatte er nicht als Beiständer der Juden in Erinnerung. Wie 96 Prozent jener Überlebenden, mit denen er im DP-Camp 7 Deggendorf zusammen wohnte, wollte auch er nach Palästina auswandern, in eine sichere jüdische Heimstatt. Sollte er nun an der steilen Ruselbergstraße im Stadtgebiet Deggendorfs sterben? Nein, Kurt Kohorn kam leicht verletzt davon. Er wanderte in die USA aus, studierte dort Chemie und Pharmazie und baute ein großes Unternehmen seines Fachs auf. Der letzte Hinweis auf ihn fand sich in einer Dankliste, in der Yad Vashem die Spender des Jahres 2002 nannte und bedankte.

Die später in den USA erfolgreiche Pianistin Pauline Schneider, *1913 in Polen, in Deggendorf mit dem 1910 in Berlin geborenen Ingenieur Kurt Buchenholz verehelicht, schrieb über die Bahnreise von rund 700 Theresienstädter Überlebenden nach Deggendorf: „Der Zug mit hunderten von Flüchtlingen hielt an einer Grenzstation am Wald zwischen der Tschechoslowakei und Bayern. (…) Kurt stieg aus dem Zug. Ein großer Farbiger in einer amerikanischen Militärpolizeiuniform stand da, wie eine Statue aufgerichtet. Kurt nannte umgehend die Anzahl der Männer und Frauen usw. „Oh, Sie sprechen Englisch – das ist aber schön!“ Ich trat hinunter und begann den Mann aus der Entfernung zu betrachten. Er war der erste Amerikaner, den ich je gesehen hatte. Der weiße Helm, die maßgeschneiderte Uniform, Gürtel und Gewehr und die weißen Gamaschen verliehen ihm ein glänzendes Aussehen. E war mein Beschützer, das Symbol des amerikanischen Volkes. Sie werden mich jetzt verteidigen, nichts kann mir geschehen. Für immer!“

„Der Zug näherte sich Deggendorf, einer Stadt in Bayern, an der Donau gelegen. Der Bahnhof wimmelte von Menschen. Busse brachten uns durch die Innenstadt und hielten dann vor einem großen Gebäude. Während des Krieges war es eine militärische Vorschule für Offiziersanwärter und diente nun als Unterkunft für `Displaced Persons´. (…) Kurt belegte sofort einen großen Raum in dem Gebäude als Büro und das angrenzende Zimmer für uns, und wir ließen uns in der neuen Umgebung nieder. Das Gebäude besaß eine große Anzahl von Räumen mit fließendem Wasser. Die Toiletten waren auf dem Flur. Die Küche versorgte uns mit zwei Mahlzeiten täglich, Frühstück wurde von den Bewohnern auf den Zimmern zubereitet. Jeden Morgen schnitt ich der Länge nach vier Scheiben von einem runden Brot. (…) Es gab keine Getränke. Wir aßen schweigend und genossen das Essen mit großem Appetit. Kurt ging dann in das Büro, wo er für die Verwaltung des Camps arbeitete. Später erhielt jede Person einmal im Monat ein Rot-Kreuz-Päckchen. Es enthielt Konserven wie Sardinen, Margarine usw. Daneben enthielt es ein Stück weißer Seife ähnlich wie „Ivory“, aber sie hieß „Swan“. Ich wagte kaum, diesen luxuriösen Toiletten-Artikel zu benutzen; er musste lange reichen. Ich roch nur daran und strich mit den Fingern darüber. Meine erste Errungenschaft war ein Büstenhalter, den ich aus Männerunterwäsche angefertigt habe, die ich in einem Behälter draußen im Hof gefunden hatte….“

Weil für die Aufnahme der Juden nichts vorbereitet war, hatte der erste LKW-Transport von rund 400 Überlebenden aus Theresienstadt über Deggendorf ins 17 Kilometer entfernte Winzer (Margot Friedländer behielt es als „Windsor“ in Erinnerung ) weitergeleitet werden müssen: In dem armseligen Marktort an der Donau waren einige der 15 Baracken des einstigen Reichsarbeitsdienstes (RAD) geräumt worden. Es waren alles andere als wirklich geeignete Unterkünfte für durchweg kranke, sehr geschwächte, meist total verängstigte Menschen. Die massive Umzäunung versetzte sie in Angst und Schrecken. Den übrigen Lagerbewohnern aus vierzehn europäischen Nationen erschienen die Juden als unerwünschte Konkurrenz im Überlebenskampf.


Weil in der ALTEN KASERNE Deggendorfs für die Aufnahme der KZ-Überlebenden nichts vorbereitet war, mussten die KZ-Opfer einige Tage im armseligen Ort Winzer an der Donau untergebracht werden. (Foto: Sammlung Westerholz)

Bei dem Unfall auf der LKW-Reise über Klatovy, Zwiesel und Regen am gefährlichen Steilhang der Rusel kurz vor Deggendorf starben eine Ärztin und eine weitere Person. Verletzte wurden ins Krankenhaus Deggendorf gefahren. Per Eisenbahn waren ab 14. Juli 1945 rund 700 deutsche und österreichische Überlebende, davon 330 über 60, etwa 100 um die 80 Jahre alt, nach Deggendorf geschafft worden. Viele waren unterwegs nur mühsam am Leben gehalten worden, aber alle so entschlossen wie die sterbenskranke Mignon Langnas, „mich keinesfalls in ein Prager oder Pilsner Spital einweisen zu lassen, wie Begleitärzte dies vorschlugen!“ Im September 1945 trafen weitere 300 jüdische Flüchtlinge aus Polen ein, nach den dortigen Pogromen schwerst traumatisiert.

Kaum befreit, wieder hinter Stacheldraht

Dass auch das DP-Camp 7 Deggendorf scharf bewacht wurde, beunruhigte viele der Überlebenden, so sehr zum Beispiel Pauline Buchenholz die neue Sicherheit genoss. Sie und ihr Mann Kurt, nach der Abschiebung aller aus Polen stammenden Juden in Krakau versteckt, hatten sich mit dem Architekt Paul Sucher (*1909 in Wien), dessen Frau, der Kranken-Oberschwester aus dem Altenheim in der Wiener Malzgasse 16 Erna (*1912) und Pauls Mutter Henie (*1878 in Jasienow), angefreundet – eine Freundschaft für´s Leben, die sich auch in New York bewährte. Zum engeren Kreis rechneten sie auch die Wiener Eheleute Eugene (*1903 in Brünn) und Wilhelmine („Vilma“) Deutsch (* 1910 in Wien). Allerdings litt Pauline Buchenholz, die in Przemysl geboren worden war, unter der deutschen Besatzung in Krakau vegetiert und im Ghetto fürchterlich gelitten hatte, unter Wilhelmines österreichisch-gutturaler Aussprache des „R“. Sie hatte es in den bellenden Befehlen der Österreich-stämmigen SS-Ghettowachen oft gehört, wenn diese meist mitten in der Nacht Juden zusammengetrieben, Alte, Kranke und Behinderte rücksichtslos geprügelt und Babys grausam ermordet hatten. Hingegen konnte Wilhelmine Deutsch Polen nicht ausstehen. Ressentiments jüdischer Deutscher gegen jene aus Polen, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren und trotz der gemeinsamen Angst vor den Nazis eine Rolle gespielt hatten, waren in den KZ nicht überwunden worden. Gemeinschaftlich aber kümmerte sich diese Gruppe um den Rechtsanwalt Dr. Nikolaus Kohn (*1907 in Szewius) und dessen Frau (*1909 in Potok), die unter dem Verlust ihrer Tochter litten. Sie waren in Hust von den Nazihäschern gefasst worden. Über den ebenfalls zum Freundeskreis der Eheleute Adolf und Margot Friedländer gehörenden Sänger Arnold Kirschberg verband sich dieser Kreis mit anderen Freundeskreisen.


Juli 1946: Margot und Adolf Friedländer dürfen endlich in die USA ausreisen. (Foto:  Privat, mit freundl. Genehmigung von M. Friedländer /Berlin) 

Nicht minder zahlreich war der Freundeskreis um Mignon Langnas (*1903 in Boryslaw). Die Wiener Krankenschwester hatte 1938 die schwerste Entscheidung ihres Lebens getroffen: Statt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in die USA auszureisen, war sie geblieben: Einerseits, weil ihre alten Eltern hilfsbedürftig waren, andererseits, weil sie ihre Patienten in Wien nicht allein zurücklassen wollte. Sie war bei ihren Eltern, als diese starben, überlebte Bombardierungen und ahnte nicht, dass sich in der Ruine des Elternhauses ein Wiener Baumeister niederlassen würde und nicht mehr vertreiben ließe: Ein dreister, reueloser Nazi! Mignon Langnas verlor alles – ausgenommen ihre Arbeit im Krankenhaus! Sie war eine der ganz wenigen Jüdinnen, die das Kriegsende in Wien erlebten, nicht DP im eigentlichen Sinne, aber sofort nach Theresienstadt geeilt, um dort zu helfen.

Der österreichische Post-, Bahn- und Bibliotheks-Angestellte Journalist, Philosoph, Shoa-Forscher und -Bearbeiter und mit dreizehn Preisen ausgezeichnete Schriftsteller Professor Robert Schindel („Kassandra“, „Gebürtig“, „Geier sind pünktliche Tiere“ u. v. a. m.), *1944 in Bad Hall, verdankt Mignon Langnas und der jüdischen Fürsorgerin Franzi Löw sein Leben: Der Sohn jüdischer Kommunisten, die in Linz eine Widerstandsgruppe aufbauten, wurde nach der Verhaftung seiner Eltern unter dem Namen Robert Soel im Wiener jüdischen Kinderspital Tempelgasse versteckt. Die beiden mutigen Frauen verhinderten seine Deportation. Sein Vater René Hajek wurde am 28. März 1945 im KZ Dachau ermordet, seine Mutter Gerty Schindel überlebte Auschwitz und Ravensbrück und fand 1945 ihren Sohn in Wien.

In Deggendorf widmete Mignon Langnas sich ebenfalls den Kranken. Sie litt mit der dreizehnjährigen Ditta Paulsen, die aus ihrem Kindheitstrauma nicht herausfand. Niemand wusste, wie dieses schwache Kind überlebt hatte – und überdies erinnerte es Mignon Langnas an ihre Tochter Manuela („Molly“). Von der, ihrem Mann Leo und dem Sohn Georg hatte sie seit Jahren kein Lebenszeichen und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich Kontakt zu ihnen bekam.

Die meisten Mitglieder ihres Kreises gehörten einer Gruppe von 90 Wienern an. Die hatten sich nach teils massiver Abweisung in Wien und aus Angst vor der scheinbar sowjetisch dominierten Viermächte-Besatzung den DP in Deggendorf angeschlossen. Es waren überwiegend entwurzelte Menschen. Viele hatten ihre Familien verloren. Zu ihnen gehörten Siegfried Rittberg, *1909 in Czernowitz, bis zu seiner Deportation Kanzlist im Wiener Altenheim Seegasse 9, Leo Luster, * 1927 in Wien, und seine 1892 in Brezko geborene Mutter Golda. Diese drei Freunde hatten Theresienstadt und Auschwitz überlebt. Zu ihr gehörten auch Elise Schlesinger aus Mönchen-Gladbach, * 1878 in Köln, Israel (* 1871 in Komarno/Österreich), Max (*1902 in Wien) und Lili Spielmann (* 1904 in Wien), Henriette Seidl, *1883 in Wien, und deren Tochter Anny, * 1921, mit der Mignon ab Anfang 1946 bis zur Auswanderung ein Zimmer teilte. Anny Seidl und Elfriede Gregor (nähere Angaben nicht bekannt), kümmerten sich um die sterbenskranke Mignon, Gregor erkrankte schließlich selbst und lag nun im selben Krankenzimmer mit Mignon.

Mignon Langnas selbst zog Maurycy („Moniek“) Nossal (*1913 in Kutno/Polen, gestorben 1985 in Kitchener/Kanada) in ihren Kreis, der seine Familie in Auschwitz verloren hatte. Er wurde zu einem der engsten Freunde Langnas´, blieb es nach ihrer Abreise und Eingewöhnung in den USA. Zu ihr gehörten ferner Kurt Herzka aus Wien (*1926), Frau Burghardt, Elfriede Gröfer (oder Gröber?), Edith Zimmermann, die in den UNRRA-Listen nicht auftauchen, weil sie die Heimkehr nach Wien wagten oder sich nach Prag begaben in der Hoffnung, dort beim US-Konsulat eher eine Quotennummer für die Einwanderung zu erhalten – eine bittere Täuschung! Denn Elfriede Gröfer oder Gröber wurde in Wien gewaltsam abgewiesen. Und die US-Quoten für Menschen aus der Tschechoslowakei waren weitaus niedriger als für jüdische Deutsche.

Einer von Mignons Freunden, Schlomo Sztejndel, auch er ganz alleine auf dieser Welt, war eine polnische DP und ein zionistischer Aktivist, der in Deggendorf mit flammenden Reden für Erez Israel und dessen völkerrechtliche Anerkennung warb. Zum Freundeskreis gehörte auch die Wienerin Trude Kornfeld (*1922), ehemals Krankenschwester im Wiener Rothschild-Palais. In Auschwitz hatte sie ihren Mann Dr. Kornfeld und ihre Mutter verloren. Trude und Mignon kümmerten sich nun um Zdenka (* 1897 in Trebicze) und deren Sohn Heinz Beer (*1925 in Wien), um Helene (*1921) und Gertrude Eisenstein (*1923). Verwandte dieser beiden Schwestern lebten später in Deggendorf, das der Sohn „in schrecklicher Erinnerung behielt, weil vor allem in der Schule ein widerlicher, kaum kaschierter Antisemitismus fühlbar war!“

Mignons und anderer Helfer fortwährenden Beistand benötigten die aus Rumänien nach Wien eingewanderten, in Theresienstadt stark geschwächten Abraham (* 1889) und Berta Popper (*1893). Mit Samuel Sußmann, * 1902, freundete Mignon sich umso mehr an, als ihr dieser nach einer Wien-Reise Grüße ihrer einstigen Nachbarn und engsten Freunde aus der Heimat überbrachte. Es waren durchweg nichtjüdische Mitbürger gewesen, die ihren Eltern und ihr selbst in der schlimmsten Zeit der Nazis offen oder heimlich beigestanden hatten. Jetzt, da sie nach ihrer Erkrankung selbst auf Hilfe angewiesen war, standen ihr Rosa Apfelbaum (* 1899 in Mikulince) und Samuels Frau Elise („Lizzi“) Sußmann ( *1916 in Wien) bei. Und wenn sie sich deprimiert fühlte, lud Mignon Langnas sich gerne zu Dr. Heinrich Liebrecht ein, einem 1897 geborenen, klugen, einsamen Berliner. In solchen Kaffeestunden genossen beide das Schweigen, bauten sie in Gesprächen ihre Ängste ab. Wenn auch das Grauen der Erinnerungen nicht schwand – es minderte sich im Gleichklang ihrer Gedanken! Dr. Liebrecht übernahm Verantwortung im DP-Camp 7 und wurde an das Landgericht Deggendorf berufen – über zehn Jahre nach dem Entzug seiner Juristenzulassung und der Promotion nun wieder ein angesehener und gefragter Jurist! ((Harrison-Report in WIKIPEDIA, aufgerufen am 21. 2. 2011; über R. Schiller und Erich Hartmann der Mettener Kloster-Gymnasiast R. Moosburner/Niederwinkling in seiner Facharbeit : Die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges im westlichen Landkreis Deggendorf, zitiert in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 17/1996, S. 367 ff; P. Buchenholz, Survivor Testimonies, RG-02, United States Holocaust Memorial Museum, Washington, zuerst zitiert von B. Petschek-Sommer, DEG: Jüdische `Displaced Persons´ in Deggendorf 1945 – 1949, in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 20/1999; MIGNON, E. Fraller/G. Langnas (Hg.) S. 369, 392 ff.; M. Friedländer (mit M. Schwerdtfeger): Versuche, dein Leben zu machen, Rowohlt Berlin, 2008, S. 223, 232 f.; Yad Vashem, Neue Nachrichten online, abgerufen 15. 04. 2011.))

Die Freundschaftskreise waren nicht starr. Ihre wunderbare Flexibilität zu gegenseitiger Hilfe erwies sich für die Eheleute Freimark, Friedländer und Buchenholz sowie für den Wiener Kreis der Mignon Langnas und ihre jeweiligen Gruppierungen bei gegenseitigen Kaffeeeinladungen, bei Skat- oder Bridgespielrunden, bei Wanderungen und in Lernstunden, ausgedehnten Diskussionen, Koch- oder Handwerks-Veranstaltungen, in Näh-, Wasch-,Bügel-, Strick- und Stickrunden, die schon einmal zu Modeschauen wurden. Darüber hinaus gab es Tanz- und Sketsch-Runden, Konzerte in Klassik oder zeitgenössischer Musik, Gedicht- und Leseabende, Sprachstudien. Bei Filmvorführungen waren kaum mehr freie Stühle zu finden und Zeitungen gingen von Hand zu Hand, in großer Runde auch unverzüglich diskutiert. Solche Runden, zu denen gerne auch Schnaps- oder Biervorräte mitgebracht wurden, fanden sich an schönen Tagen auch im weiten Stadtpark zusammen. Höhepunkte spontaner Festlichkeiten waren die Hochzeiten: So als Siggi Rittberg seine Adele Lindner heiratete. Die Polin Lindner (1921 bis 1987) war beim Überfall der Deutschen auf Polen in die Sowjetunion geflohen und hatte sich als Krankenschwester der Roten Armee angeschlossen. Sie war dabei, als die Sowjets Theresienstadt befreiten und hatte im Krankenhaus Sigfried Rittberger angetroffen und gepflegt. Seinetwegen war sie desertiert und mit ihm ins DP-Camp 7 Deggendorf gelangt. Bald nach ihrer Heirat gelang ihnen die Einwanderung in Palästina, wo sie in glücklicher Ehe miteinander lebten.

Nicht allein Mignon Langnas lernte in diesen Kreisen Englisch und genoss die Schönheiten und den Sprachwitz des Jiddischen. Nicht nur sie nutzte die praktischen Lebenserfahrungen alter Jüdinnen in Haushalt- und Familienführung, auch in der häuslichen Naturmedizin. Und nicht nur sie fand in diesen Kreisen auch zu den Gewissheiten, Traditionen und Tröstungen der Religion zurück. Denn auch da gab es höchst unterschiedliche Vorgeschichten: Mignon Langnas zum Beispiel betete in der schlimmsten Zeit ihrer Erkrankung im Krankenhaus Deggendorf zur Madonna Maria, die nach der christlichen Lehre die Mutter G´ttes ist – für Juden ein jüdisches Mädchen, das einen Propheten gebar. Im Laufe der Zeit inmitten der bis zu 1965 Juden im DP-Camp 7 Deggendorf reifte auch sie zu einer in der Religion glücklichen Jüdin heran, die koscher aß und wie die überwiegende Mehrheit der Frauen in dieser Gemeinschaft den Sabbatsegen sprach. ((

Über Kurt Kohorn tel. Gespräch mit M. Friedländer/Berlin am 16. 04. 2011. Amtl. Mitteilungsblatt Nr. 24/1945; W. Benz, Juden im Nachkriegsdeutschland in: JUDEN UND DEUTSCHE, SPIEGEL-Spezial, Nr. 2/1992, S. 47ff; Briefsammlung Louis Rosenberg, bereitgestellt von Pia Rosenberg geb. Tvilum, Dänemark, erfasst und übersetzt von Georg Stockschlaeder, Gebhardshain, S. 40, 43, 48, 50, 52, 54, 67, 74, 93, 123, 124., zu Joseph Michel S. 31, 33, 37.))

Fortsetzung

5 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Westerholz,
     
    danke für Ihre sehr interessante und informative Antwort.
     
    Sie drücken die Hoffnung aus, dass bei unseren Damen und Herren Stadträten bald ein Umdenken einsetzen möge. Nun, wie Sie mich kennen, teile ich gewiss diese Hoffnung mit Ihnen; gleichzeitig möchte ich jedoch zu bedenken geben, dass Stadträte meist die Stimmung der Bevölkerung repräsentieren, bzw. dem Volk aufs sprichwörtliche Maul schauen, ehe sie handeln. Und da, ‚an der Basis‘, sieht es derzeit bedauerlicherweise nicht gut für Reformen oder Sinneswandel aus.
     
    Wenn ich nur daran denke, wie vielen meiner Deggendorfer, Hengersberger, Niederalteicher, Mettener, Vilshofener, Passauer, Straubinger Bekannten ich die Lektüre meines Kellnberger-Beitrags http://test.hagalil.com/2011/05/05/wehrmachtsdeserteur/ nahe gelegt (ja, manchen sogar den Ausdruck persönlich in die Hand gegeben) habe und wie wenige es für Wert befunden haben ihn zu lesen und von den wenigen, die ihn gelesen haben, wieviele wiederum ihn als persönliche Beleidigung ihres höchsteigenen Selbstverständnisses als Bayern empfunden haben, so muss ich Ihnen leider sagen, dass meine Hoffnung am Schwinden ist. Aber, wie es immer heißt, man soll Optimist bleiben.

  2. Sehr geehrter Herr Schlickewitz,
    die von mir erwähnten weiteren Widerständler sind Berthold Heckscher und Karl Rößler. Heckschers Vater war Jude, die Mutter nicht: Somit war B. Heckscher, der Onkel und Pate des späteren Deggendorfer Oberbürgermeisters, kein Jude, nach der Nazi-Diktion aber eben doch. Heckscher war schon im 1. Weltkrieg zum Tode verurteilt worden, weil er den Krieg für ein Verbrechen hielt. Der Hinrichtung war er entkommen. Er wurde in der Nazizeit vom Volksgerichtshof München erneut zum Tode verurteilt, ebenso wie sein Freund aus der Sozialdemokratie, Karl Rößler, weil beide nie aufgehört hatten, den Terrorstaat zu bekämpfen. Einige mutige, zugleich pragmatische Beamte haben die Hinrichtung verzögert, ein SS-Mann beiden die Flucht in einem Isarkahn nahegelegt – sie gelang. Ich habe darüber in „Da wurden die Juden erslagen“ – einer kurzgefassten Geschichte der Juden im Landkreis Deggndorf, bereits vor 30 Jahren berichtet, ferner in „Die Mauer des Schweigens – Stadt und Landkreis Deggendorf in der NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit“ im Jahre 1995.
    Thomas Muggenthaler beschreibt in „Verbrechen Liebe“ zwei Hinrichtungen von Zwangsarbeitern in der Deggendorfer Landkreisgemeinde Auerbach. Beider deutsche Freundinnen haben überlebt. Ich habe in meiner Buchbesprechung in DEGGENDORF aktuell noch die Tragödie der Schöllnach-Englfinger Schmiedsfamilie Ranzinger angefügt: Schmied Peter Ranzinger starb Ende April 1945 im letzten Bombenangriff auf Plattling, als er auf dem Weg nach Thüringen war: Er wollte dort Rache an einem Wirt nehmen, der seine Tochter Rosa sexuell belästigt und, als die sich wehrte, als „Zwangsarbeiter-Liebchen“ denunziert hatte. Das unschuldige Mädchen, Ranzingers einziges Kind, starb Tage später nach einem Schlag auf den Hinterkopf im KZ Sachsenhausen. 
    Zu Kellnberger, Heckscher, Rößler usw, fällt mir auf: sie stehen nicht in der Liste der Straßenwidmungen. Hindenburg, Grashey, Pfarrer Stich aber schon. Schön wär´s, setzte da bei den Stadträten bald ein Umdenken ein.

  3. Sehr geehrter Herr Westerholz,
     
    haben Sie Dank dafür, dass Sie die Vita von Peter Kellnberger in Ihrem Beitrag ebenfalls aufgegriffen haben. Auf diese Weise erhält man nun bei Eingabe seines Namens in die Suchmaschine Google doch bereits eine beträchtliche Anzahl von Treffern. Vor einem halben Jahr gab es da nur den Hinweis auf die „Deggendorfer Geschichtsblätter“, jedenfalls nichts Konkretes zu K.s Biografie.
     
    Es wird somit auch für die bösartigen unter den Ignoranten im Deggendorfer Stadtrat immer schwieriger werden, an Kellnberger vorbei zu kommen.
     
    Sie schreiben oben von drei Menschen in Deggendorf, die sich dem NS-Regime aktiv widersetzten. Wären Sie so freundlich und würden noch Namen und Funktion der übrigen beiden nennen? Dies würde sicherlich auch andere Leser interessieren.
     
    Übrigens erfuhr ich kürzlich, dass sich zunehmend Russlanddeutsche aus unserer Region für die hiesige NS-Geschichte interessieren. Ein junges Mädchen aus Kasachstan etwa hat eine Reihe von Interviews mit den allerletzten Zeitzeugen geführt und diese in eine längere Arbeit zur Ortsgeschichte einfließen lassen.
     
    Ein Literaturtipp:
    Wie allgemein bekannt, wurden in den Kriegsjahren hier in Niederbayern, ebenso wie anderswo, zahlreiche Zwangsarbeiter eingesetzt, darunter viele Polen und russische Kriegsgefangene. Ãœber die Massenerschießungen von gefangenen Russen kurz vor Kriegsende hat u.a. Anna Rosmus in ihrem Buch „Wintergrün“ (1993) sehr detailliert Auskunft gegeben. Nun (2010) erschien in Viechtach in der Edition Lichtung das Buch „Verbrechen Liebe“ des Journalisten Thomas Muggenthaler. Es beschreibt den grausamen und menschenverachtenden Umgang der Niederbayern und Oberpfälzer mit polnischen Männern, die Liebesverhältnisse mit einheimischen Frauen eingegangen waren. Nahezu für jede kleinere oder größere Stadt der Region hält er darin eine dieser unglücklichen Liebesgeschichten parat, teilweise mit Fotos und unter Heranziehung von Interviews mit überlebenden Beteiligten. Ich kann das Buch sehr empfehlen.
     
    Zuletzt noch: Wie Sie, sehr geehrter Herr Westerholz, mehr als einmal bekundet haben, bereisten Sie früher häufig die Türkei und genossen das Land. Ich möchte Ihnen daher in Deggendorf ein Lokal empfehlen, in dem Sie nett bedient werden und ausgezeichnete türkische Küche vorgesetzt bekommen:
    In allernächster Nähe zur unseligen Gnad-Kirche befindet sich das Lokal „Orienttraum“, in dem bisweilen auch literarische Lesungen abgehalten werden. Afiyet olsun!
     
    Mit besten Grüßen
    Robert Schlickewitz, Deggenköy
    (Köy = türk. Dorf)
     

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