Die Meinhardts (III)

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Diese Schrift ist dem Andenken unserer Großeltern Franz Meinhardt und Margarethe Meinhardt, geb. Löwenthal gewidmet, die 1942 im Holocaust umgekommen sind. Sie ist auch unseren Eltern Gerd Meinhardt und Käte Meinhardt, geb. Luft gewidmet, die 1939 Nazi Deutschland verlassen konnten und in Chile Aufnahme und Schutz fanden, um dort ein neues Leben beginnen zu können. Sei ihr Andenken selig. (Z.L.)…

Von Albert Michael Meinhardt und Dr. Yehuda (Franki) Meinhardt
[1. Teil] [2. Teil]

An Bord der “Leipzig”

Die “Leipzig” war einer der modernsten Frachter des Norddeutschen Lloyds. Sie war von Bremen Richtung Valparaiso ausgelaufen. Sie war ein Frachtschiff, das auch noch um die  30 Kabinen für Passagiere hatte. Es war ein modernes Dieselmotorschiff, das fast lautlos fuhr. Die Passagierkabinen  waren eng, aber piksauber, einfach und bequem möbliert. Die Verpflegung war gut und ausreichend. Alle Kabinen waren belegt, so dass ca. 60 Passagiere an Bord waren. Die Hälfte davon waren Emigranten wie meine Eltern, die andere Hälfte  Reisende, die nach Südamerika gelangen wollten, unter ihnen Geschäftsleute, 6 katholische Nonnen, die zu ihrer Mission nach Peru fuhren, ein deutscher Ingenieur, der mit seiner frisch getrauten Frau nach Chile fuhr, um sich dort niederzulassen, und ein chilenischer Agronom, der in Deutschland seinen Doktor gemacht hatte und in einem Versuchsgut in Oberschlesien eine Frau kennengelernt und geheiratet hatte und mit ihr nach Chile fuhr. Diese beiden nicht jüdischen Familien, Fenzahn und Duran, sollten gute Freunde unserer Eltern werden und die Freundschaft sollte über Jahrzehnte andauern. Nicht alle Passagiere hatten bis zum Endpunkt der Reise Valparaiso gebucht, sondern fuhren bis Venezuela, Kolumbien, Ecuador oder Peru.

Nun befürchtete man, dass die Emigranten extra behandelt würden, und zwar schlecht, am “Katzentisch” im Speisesaal sitzen würden und andere Benachteiligungen erfahren würden. Dies geschah aber nicht, alle Passagiere wurden gleich behandelt und es gab freie Sitzwahl im Speisesaal. Der Kapitän, mit Namen Wagner, war mit einer Deutsch- Chilenin verheiratet und fuhr schon jahrelang die Strecke entlang der Westküste  Südamerikas. Er gab das traditionelle “Kapitäns Dinner” an einem der  ersten  Abende, in dem er alle Passagiere an Bord willkommen hieß und über die genaue Reisedauer und das zu erwartende Wetter im Atlantik informierte.

Das Wetter war wunderbar sommerlich, man lag in Liegestühlen und genoss den leichten Fahrtwind. Man beobachtete Delfine und fliegende Fische im Atlantik. Es schien, als wenn man auf einer Urlaubsfahrt war und nicht auf einer Fahrt in ein fremdes Land, in eine ungewisse Zukunft.

Dann kam der 1.September. Deutsche Truppen marschierten in Polen ein. Das Radio übertrug die Rede Hitlers. Einige Matrosen sangen “ Wir fahren nach Polen…”, die Offiziere aber waren still und besorgt. England und Frankreich reichten ein Ultimatum von 72 Stunden an das „Deutsche Reich“ ein, mit der Aufforderung,  seine Truppen aus Polen wieder zurückzuziehen.

Das Schiff fuhr weiter in den Atlantik hinein. Nach Ablauf des Ultimatums, am 3. September, erklärten England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Der Seekrieg begann sofort danach. Das Schiff bekam Order von der Reederei, verdunkelt zu fahren und alle weißen Teile des Schiffes schwarz und grau anzumalen.

Die Matrosen begannen sofort damit. Dann kam ein Telegramm der Reederei  mit dem Befehl, dass das Schiff sofort nach Bremen zurückkehren sollte. Das war eine schreckliche Nachricht, vor allem für die Emigranten an Bord. Spontan bildete sich ein Komitee der Passagiere, in dem auch Nicht- Emigranten vertreten waren, und baten den Kapitän, sie vor der Umkehr auf einer der nächsten Karibik- Inseln auszuschiffen. Der Kapitän versprach nichts, sagte aber, dass er mit der Reederei in Verbindung bleiben werde und sie umzustimmen versuchen würde. Es folgten nun einige Nerven verzehrende Stunden der Ungewissheit und Angst, man hörte das  ununterbrochene Gepiepse der Funkstation. Telegramme vom Schiff zur Reederei gingen hin und her.

Zwei jüngere Emigranten traten an Vater heran und sagten, “Wenn das Schiff beidreht, müssen wir den Maschinenraum sabotieren und Feuer legen, damit das Schiff nicht fahren kann, bist du dabei?” „Seid ihr verrückt!”, antwortete Vater. Es wurde aber nicht nötig, solche Maßnahmen zu ergreifen, der Kapitän konnte die Reederei überzeugen, diese Fahrt weiter zu fahren, man wollte ja auch die Passagiere und die Fracht abliefern, außerdem musste das Schiff  Treibstoff aufnehmen, bunkern, und man war schon sehr nah an der Karibik.

Einige Tage später sahen die Eltern zum ersten Mal einen Teil der “Neuen Welt” und zwar fuhr das Schiff an den französischen Inseln Martinique und Guadeloupe vorbei. Danach steuerte es Curacao an, was damals und bis heute zu den “Niederländischen Antillen” gehört. Dort bunkerte das Schiff Treibstoff. In Curacao sind die großen Raffinerien, die Erdöl von Kolumbien und Venezuela verarbeiten. In Venezuela und Kolumbien stiegen die ersten Passagiere aus. Dann ging es durch den Panama- Kanal, der damals von den USA verwaltet wurde. Die USA waren nicht im Krieg und das deutsche Schiff konnte anstandslos passieren. Sehr schön beschrieb es Mutter, das Schiff fährt praktisch durch einen tropischen Park durch. Dann war man im Pazifik und man steuerte den Hafen Guayaquil in Ecuador an. Dort erklärte der Kapitän, dass er nun doch nicht weiter fahren dürfe. Er hatte schon erfahren, dass ein chilenisches Schiff mit Namen “Peru” dort lag und nach Valparaíso fahren würde. Auch die „Peru“ war ein gemischtes Schiff für Fracht und Passagiere und nahm gerade Fracht und Passagiere in Guayaquil auf, es hatte auch noch Platz für die weiterfahrenden Passagiere der „Leipzig“.

Nach Ankunft in Guayaquil erlaubte der Kapitän den Passagieren, noch an Bord der “Leipzig” zu wohnen, bis das chilenische Schiff  drei Tage später auslaufen würde. Aber die Fahrkarten der “Leipzig” wurden von der chilenischen Reederei nicht anerkannt. Trotz Telegramme und  Zusagen der deutschen Reederei, die Kosten zu überweisen, trauten die Chilenen einem kriegsführenden Land nicht und bestanden auf Barzahlung. Meine Eltern gingen zu einer amerikanischen Bankfiliale in der Stadt und konnten den Betrag in US- Währung ausbezahlt bekommen, telegraphisch von ihrem angelegten Konto in den USA.
Alle Passagiere, die weiter fuhren, mussten auch den Rest der Fahrt in bar bezahlen, was die Nicht-Emigranten leicht konnten, denn sie durften ja Geld aus Deutschland hinausbringen. Die Nonnen haben sich sicher an den Bischof in der Stadt gewandt, der ihnen weiter half. Für die Fracht gab es keine Probleme, da die Empfänger im Peru und Chile sicher die Kosten der Weiterfahrt übernehmen würden. Es ist scheinbar leichter Fracht zu transportieren als Menschen.

Dann besuchten unsere Eltern einen  Schwedter,  der schon seit einigen Monaten  in Guayaquil lebte. Heinz Seelig war ein Freund meines Vaters aus Schwedt. Er und seine Frau betrieben einen kleinen Waschsalon in Guayaquil, der mit primitivsten Mitteln ausgestattet war und enorme körperliche Arbeit erforderte, um die Wäsche zu waschen, zu trocknen und zu bügeln. Guayaquil hat volles tropisches Klima, heiß und sehr feucht. Im kleinen Waschsalon war die Hitze unerträglich. So bekam mein Vater einen Vorgeschmack von den Härten, die die Emigration bringen würde. Hr. Seelig erzählte, dass sie nur so lange in Guayaquil bleiben würden, bis sie genug Geld sparen könnten, um in die Hauptstadt Quito umziehen. Quito liegt 2800 Meter hoch in den Anden und hat ein angenehmes Klima. Heute betreibt ein Sohn und Enkel der Seeligs die modernste Wäscherei in Quito und wäscht die Wäsche von Hotels, Krankenhäusern, der Polizei usw. Die Seeligs kehrten Anfang der 70er- Jahre nach Deutschland zurück und liegen in Berlin begraben.

An Bord der “Peru”

Vater ging nun in den Hafen, um sich die “Peru”, die dort lag, anzuschauen. Das Schiff hatte auch in Ruhestellung leichte Schlagseite, Rostschäden überall und die Farbe bröckelte ab. Es könnte kein größerer Kontrast zur modernen „Leipzig“ geben. Die Ladung, die das Schiff aufnahm waren Südfrüchte  wie Bananen, Orangen und Zitronen. Chile war scheinbar doch kein Tropenland, da es ja solche Früchte importierte. Die Restladung von der  Leipzig und das Gepäck der Passagiere wurde auf die “Peru” umgeladen und die Passagiere, die nach  Peru oder Chile gelangen wollten, gingen an Bord.

Die “Peru” war ein alter abgefahrener Dampfer. Man musste immer auf die Windrichtung achten, um nicht den Qualm aus dem Schornstein abzubekommen. Die Kabinen waren schmuddelig, eng und spärlich möbliert. Die gemeinsamen Toiletten schmutzig und ungepflegt. Das Essen für meine Eltern am Anfang ungewohnt und ungenießbar. Die Fliegen setzten sich auf den braunen Zucker, der offen in Schälchen am Frühstückstisch lag. Die chilenische Spezialität „Guatitas“ (Schweine Zwerchfell) war einfach ungenießbar.

Die nicht europäischen Passagiere, zu denen man ja zugestiegen war, waren sehr laut und redselig. Vater probierte seine ersten Sätze auf Spanisch mit den Passagieren, den Matrosen und Offizieren aus. Aber zum Glück gab es einen deutsch- chilenischen Offizier, der, wenn nötig, beim Übersetzen half.

Mutter ekelte sich vor dem Essen. So kletterte mein Vater nachts über eine Absperrung in den Frachtraum und entwendete Bananen und Orangen. Dabei machte er eine unangenehme zoologische Entdeckung, es sausten überall Ratten herum. So ernährte sich meine Mutter hauptsächlich von frischen Früchten während der Fahrt.

Fast an jedem Hafen unterwegs hielt das Schiff an. Fracht wurde gelöscht und aufgenommen, Passagiere stiegen aus  und neue kamen dazu. In Callao stiegen fast alle europäischen Passagiere und die Nonnen aus. Anfang Oktober 1939 erreichte das Schiff chilenische Gewässer und schließlich Valparaiso.

Ankunft in Chile

Am Hafen wartete schon Mutters Cousine aus Breslau, Dora Staub, mit ihrem Ehemann Richard und dem 16- jährigen Sohn Rudi. Sie waren schon seit einigen Monaten in Chile und wohnten in Viña del Mar. Die Eltern hatten von Guayaquil aus ein Telegramm an sie geschickt. Richard Staub war in Breslau Richter gewesen, bis er im April 1933 sein Amt verlor, als die Nazis allen jüdischen Juristen die Ausübung ihres Berufs verboten. (Nur Frontkämpfer waren von dieser Regelung für einige Jahre ausgenommen).

Sofort überschütteten sie meine Eltern mit vielen Ratschlägen für das neue Leben in Chile. Sie rieten ihnen, nach Santiago, in die Hauptstadt zu ziehen, weil es dort bessere Chancen gebe. Sie selbst blieben aber in der Region Valparaíso, wo heute Rudi (Don Rodolfo) mit seinen Nachkommen lebt. Rudi hat einen Sohn und eine Tochter und acht Enkelkinder. Aber ein Ratschlag war richtig und wichtig. Richard Staub hatte sich über die Tabakbranche in Chile erkundigt und herausgefunden, dass es ein staatliches Monopol für Tabakwaren gab, das den Import und die Verarbeitung des Tabaks kontrollierte, und  dass kein eigener Tabak in Chile angebaut wurde. So wusste mein Vater von vornherein, dass er in seinem erlernten Beruf im Land keine Aussichten haben würde.

Die Kiste wurde beim Zoll im Hafen hinterlassen, denn es gab noch keine Adresse, wo sie hin sollte. Dann fuhren meine Eltern nach Santiago.

Was geschah mit der “Leipzig”? Die “Leipzig” kehrte nie mehr nach Deutschland zurück. Nachdem das Schiff  Ladung und Passagiere in Guayaquil ausgeladen hatte, bekam es Befehl von der Reederei,  in die Bucht von Callao in Peru zu fahren (la Rada de Callao). Dort kam es am 21. September 1939 an. Die Crew wurde ausgeschifft und das Schiff wurde auf Anker gelegt. Die Deutschen sammelten dort ihre Handelsschiffe, die vom Kriegsausbruch überrascht worden waren. Peru war neutral und erlaubte den Schiffen dort im peruanischen Hoheitsgewässer zu bleiben.


Die Leipzig

Die kanadische Marine plante Anfang 1941, ein Prisenkommando zu entsenden, um diese Schiffe zu kapern, um den Briten zu helfen, die  schweren Verluste zu ersetzen, die der Seekrieg im Atlantik forderte. Der deutsche Geheimdienst bekam Wind von dem Vorhaben  und konnte die Schiffe rechtzeitig warnen. So fuhren sie aus der Bucht von Callao in internationale Gewässer und versenkten sich selbst, bevor die kanadischen Kriegsschiffe „Prince Robert“ und „Prince Henry“ sie aufbringen konnten. Dies geschah am 1. April 1941.

Kapitän Wagner kam nach Chile, lebte dort mit seiner Frau und liegt dort begraben.


Vater Gerd und unsere Mutter Käte Meinhardt auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer viele Jahre später

–> Fortsetzung

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