Siret: Die Stadt als „Er-Innerung“

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Siret ist eine kleine Stadt in der Südbukowina am Rande der Karpaten. Die Bukowina stand 144 Jahre unter österreichischer Herrschaft. 1918, nach dem verlorenen Krieg, mußte Österreich die Provinz an Rumänien abtreten. Sereth, wie das Städtchen unter Österreich hieß, wurde von den Rumänen umgetauft und hieß nun Siret. Aber unter den Bukowinern hieß Siret weiter Sereth, und daran hat sich bis heute nichts geändert…SERETH (SIRET)

Bei der Volkszählung 1910 hatte Sereth eine jüdische Majorität. Es lebten damals 3178 Juden in Sereth, 2070 Ukrainer, 1498 Deutsche, 354 Polen und 715 Rumänen. Bei der Volkszählung 1930 waren es nur noch 2115 Juden, 1473 Ukrainer, 2169 Deutsche und 4302 Rumänen. Von der polnischen Bevölkerung existieren keine genauen Daten. Als die Russen im ersten Weltkrieg in die Bukowina einmarschierten, flüchteten fast sämtliche Juden aus Sereth. Nach dem Krieg kehrte ein Großteil der Juden zurück.
Ich – der Verfasser dieser Rückblende – wurde 1926 in Leipzig geboren. 1929 zogen wir nach Halle an der Saale.1938 flüchteten wir vor den Nazis und zwar nach Sereth, wo meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter, lebten. Ich kannte Sereth von früher, da wir meistens im Sommer, während der Schulferien zu den Großeltern fuhren. Ich hatte mich damals als Kind in das kleine Städtchen verliebt. Die Warmherzigkeit der Leute, ihr gemütlicher Bukowiner Akzent mit leicht österreichischer Färbung, die jüdisch geprägte Atmosphäre und vieles andere, hatten es mir angetan. Die Rumänen hatten, wie schon erwähnt, die Stadt Sereth in Siret umgetauft, ebenso alle österreichischen Straßennamen geändert. Sie trugen jetzt rumänische Namen, aber darum kümmerten sich die Juden in Sereth nicht. Ihre Stadt hieß weiterhin Sereth, und die Leute spazierten nach wie vor auf der Kirchengasse oder schlenderten um den Ringplatz. Das größte Hotel hieß weiterhin Annahof und die Volksfeste, ebenso wie der Wochenmarkt, fanden nach wie vor auf der Hutweide statt.

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Sereth hatte echte Wiener Kaffeehäuser und Zigeunerkneipen. Von den NichtJuden sah man nu hl viel, da die Ukrainer, sogenannte Ruthenen, die Deutschen und die Rumänen entweder in den Randgebieten oder in den eingemeindeten Dörfern ringsum das Städtchen wohnten. Es gab einen Badestrand in Sereth mit einem Kaffeehaus, einen Fuß ball und Tennisplatz. Der Fluß – dtl wie das Städtchen hieß – Sereth kam aus den Karpathen und floß am Rande des Städtchens dahin. Das Wasser des Flusses war so sauber, daß die Pferde daraus tranken. An der Serethbrücke stand der bekannte Wegweiser mit der Aufschrift: 40 km nach Cernowitz. In Sereth gab es eine große Synagoge und viele kleine Betstuben.

Das Wahrzeichen der Stadt war die deutsche Kirche in der Kirchengasse, ganz in weiß und von weither sichtbar, aber es gab auch eine russisch – orthodoxe und griechisch – orthodoxe Kirche. In der Kirchengasse befand sich der jüdische Heiratsmarkt, wie er scherzhaft von den Leuten genannt wurde. Dort schlenderten junge Mädchen, nie allein, immer zu zweit oder mehreren, auf und ab und ließen sich von den jungen Männern bewundern. Sie saßen gewöhnlich im Kaffeehaus und starrten den Mädchen hinterher.
1941 hatte die Idylle ein jähes Ende. Die Deutschen griffen am 22.Juni 1941 Rußland an. Die Rumänen verbündeten sich mit den Deutschen und marschierten ebenfalls in Rußland ein. Im Oktober 1941 wurden sämtliche Juden der Bukowina nach der Ukraine deportiert und zwar in die Nähe von Odessa in das sogenannte Gebiet von Transnistrien, das Hitler den Rumänen übergeben hatte. Es handelte sich um einen schmalen Landstreifen der eroberten Südukraine zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug. Ich erinnere mich, daß wir am 14.Oktober 1941 vom Radautzer Bahnhof in Richtung Osten abfuhren, alle Serether Juden. Wir waren in Viehwaggons eingepfercht.

Der Zug fuhr durch Bess-arabien. Da die Brücke über den Dnjestr gesprengt war, überquerten wir den Fluß in Flößen. Auf der anderen Seite des Dnjestr lag die ukranische Ruinenstadt Moghilew-Podolsk. Wir kamen in das Ghetto der Stadt. Viele Serether wurden weiter deportiert in die ukrainischen Städte Jampol, Scharogorod, Berschad, Tiraspol, Djurin und kleinere Ortschaften, auch in Arbeitslager am Bug. In den Ghettos und Lagern von Trans-nistrien herrschten Hunger und Typhus. Die meisten Serether starben. Die Rumänen verwalteten das Gebiet zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug. Auf der anderen Seite des Bugs stand die deutsche SS.

Die Rumänen versuchten viele Juden über den Bug abzuschieben. Dort wurden sie gleich von der SS erschossen. Da die Juden aus Typhusgebieten kamen und die SS Angst vor Ansteckung hatten, schickte sie die nachfolgenden Transporte wieder zurück. Das war unser Glück. Wir blieben im Ghetto von Moghilew-Podolsk . Im März 1944 befreiten uns die Russen. Die meisten von uns waren tot. Die Überlebenden kehrten nach Sereth zurück, viele zogen auch weiter, nach Israel, Nord-und Südamerika und Australien.

Ich kam im April 1944 nach Sereth zurück. Die Stadt war verödet. In den jüdischen Häusern wohnten Ukrainer und Rumänen. Ein Teil der Stadt war vom Krieg zerstört. Nach und nach kehrten überlebende Juden nach Sereth zurück. Bis 1980 existierte noch eine kleine jüdische Gemeinde in Sereth. Inzwischen ist niemand mehr da. Die letzten drei Serether Juden sind inzwischen verstorben: Nora Kirstian, geb. Nussja Rosenzweig, Markus Schäfer und Herbert Gropper. Angeblich gibt es noch einen jüdischen Arzt, der im örtlichen Krankenhaus arbeitet, aber der ist kein Serether, sondern zugewandert.

Das jüdische Städtchen Sereth ist eine jüdische Stadt ohne Juden. Ich war vor einiger Zeit wieder in Sereth. Früher wurde hier last nur deutsch und jiddisch gesprochen, jetzt hört man kein deutsches und auch kein jiddisches Wort mehr. Das Einzige, was von den Serether Juden geblieben ist, ist der jüdische Friedhof, einer der ältesten jüdischen Friedhöfe Europas.

Die sprechenden Steine von Siret

2 Kommentare

  1. Übrigens, wisst Ihr überhaupt, wie es den österreichischen Juden gelang, dem Kaiser die vollen Bürgerrechte abzuringen, seinerzeit?

    Nein?

    Nun, dann werd ichs Euch erzählen!

    Es waren nicht die vornehmen, wie zB bei Hannah Arendt beschrieben, oftmals sehr reichen „Ausnahmejuden“ der damaligen Zeit und auch nicht die um Assimilation bemühten in den grossen Städten, nein, es waren bitterarme Orthodoxe aus der Gegend um Czernowitz die dieses Wunder vollbrachten, und das kam so:

    Eines Tages, riesen Aufregung im kleinen am Pruth, das ist ein Fluß, gelegenen Schtetl, in dem der Jossel, das ist der von dem ich diese wirklich wahre Geschichte habe, mit seiner Familie lebte.

    Der Kaiser mit seiner ganzen Equipage war vom Weg abgekommen, irrte am Ufer des Pruth entlang um endlich mit Riesengetöse über die hölzerne Brücke zu gelangen und wenig später in Jossels Schtetl einzutreffen, wohl um nach dem rechten Weg sich zu erkundigen.

    Hungrig und durstig wie er war, der Kaiser, ließ er auch noch Ausschau halten, nach einer geeigneten Wirtschaft, um sich zu laben.

    Da gabs aber nur die Eine, die des Jossels Großvater, des Leib Wassermann und dort trat er dann auch ein, der Kaiser, gebückt durch die niedrige Tür, in den dunklen Raum und nahm Platz am Tisch um was zu essen.

    Was war da?

    Jüdischer Hering und Schnaps!

    Nun, der Kaiser, Franz wie er hieß, schlang paar dieser Salzherhinge herunter um mit Schnaps kräftig nachzuspülen, schnalzte zufrieden mit der Zunge und griff nach dem nächsten und dem nächsten bis, ja bis ihm, in seiner Gier, endlich einer im Halse stecken blieb, nicht vor und nicht zurück wollte und ihm das Atmen immer schwerer und schwerer machte. Der Kaiser krächzte, lief ganz blau an im Gesicht und die Augen traten ihm aus den Höhlen, er fiel vom Stuhl und die Dienerschaft lief hin und her und wollte sich vor Hektik und Angst gar nicht zu helfen wissen, bis endlich Jossels Großmutter, wie die nun hieß hab ich vergessen, Rivka oder so ähnlich, glaub ich, im Schankraum auftauchte und dem Kaiser entschlossen mit gekonntem Griff den Hering, aus seinem, wie sie es laut und deutlich vor sich hin sagte, trefernem Maul, daran erinnerte sich der Jossel ganz deutlich, zog.

    Phu, da war der Kaiser aber froh und erleichtert. In seiner Freude, nicht erstickt zu sein, versprach er der Oma des Jossel, sozusagen in die Hand, dass er den Juden des gesamten Reiches, als Dank sozusagen, nun endlich die vollen Bürgerrechte zu gewähren gedenkt, ja so war das.

    Nun, da haben die sich natürlich sehr gefreut. Keine Ahnung, ob die Großmutter das dann noch erlebt hat, kann mich zumindest nicht mehr erinnern, denn so ca. zehn bis zwölf Jahre, vielleicht auch fünfzehn wirds wohl gedauert haben, wie das halt so iss mit den Kaisern und bis die sich dann, mehr oder weniger, auch durchsetzen, auf jeden Fall so war das, damals und wenn Ihrs genau wissen wollt, dann könnt Ihr es leicht nachlesen in „Jossel Wassermanns Heimkehr“ von Edgar Hilsenrath, was, wie zum Beispiel auch „Nacht“, oder auch „Das Märchen vom letzten Gedanken“, ohnehin jeder gelesen haben sollte, okay?

    Okay!

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