Die jüdische Frau in der deutschen Frauenbewegung

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Zum Internationalen Frauentag publizieren wir einen Text zur Bestandsaufnahme der jüdischen Beteiligung an der Frauenbewegung aus der Feder von Henriette Fürth. Die 1861 in Gießen geborene Frauenrechtlerin und Politikerin stammt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie. Sie ist Verfasserin von Hunderten Artikeln und 30 eigenständigen Schriften zu sozialpolitischen Themen. Sie war Mitglied der SPD und des Frankfurter Stadtparlaments. Sie engagierte sich in zahlreichen Bereichen der Wohlfahrt und der Frauenbewegung. 1933 wurde sie aller Ämter enthoben und lebte zurückgezogen bis zu ihrem Tod im Jahr 1938 in Bad Ems. Der vorliegende Text erschien 1918 in den „Neuen jüdischen Monatsheften“, die zwischen 1916 und 1920 erschienen und sich als „Sprechsaal für alle Richtungen“ des Judentums, der der „Versöhnung der jüdischen Parteien“ dienen sollte verstanden. Die Zeitschrift richtete sich außerdem explizit an das nichtjüdische Publikum, um der „Unkenntnis in jüdischen Dingen entgegenzuarbeiten“ und den „Kampf um die Gleichberechtigung der Juden in Staat und Gesellschaft“ voranzutreiben…

Von Henriette Fürth, Frankfurt a. M.
Neue jüdische Monatshefte, Heft 20 v. 25.7.1918

Die jüdischen Frauen nehmen in hervorragendem Maße an der Frauenbewegung teil. Das ist kein Zufall, sondern darin begründet, daß die Frauenbewegung ursprünglich von einem Punkte ausging und in Gegebenheiten verwurzelt war, die von alters her die ureigenste Domäne jüdischen Frauenlebens in sich begriffen. Die ersten Anfänge dessen, was wir heute unter Frauenbewegung verstehen, sind charitativer und pädagogischer Natur. Leidenden wollte man Hilfe bringen, Schutzbedürftige schützen und betreuen, durch Natur und Verhältnisse Lebensschwache mit Hilfe von Erziehung und Berufsschulung für das Leben ertüchtigen.

Von dem Gedanken an eine Frauenbewegung, die es sich zum Ziel setzt, die Frauen als nach allen Seiten hin gleichverpflichtet aber auch, gleichberechtigt dem Staatsganzen einzugliedern, war man damals noch weit entfernt. Zwar wetterleuchtete es schon lange, bevor es zu eigentlichen Bekundungen einer Bewegung innerhalb des Frauentums der Kulturnationen kam, am Himmel des geistigen Geschehens. Prachtvolle Einzelerscheinungen, Vollmenschen im besten Sinne des Wortes treten hervor, erzwingen und erringen sich die Sympathie oder zumindest die starke Beachtung ihrer Zeitgenossen und ein Andenken, das die Zeiten überstrahlt. Schon ums Jahr 1789 erließ Olympe de Honges, die Führerin der revolutionären Frauen Frankreichs, eine „Erklärung der Frauenrechte“. Und 1792 folgte dieser mutigen und feurigen Verteidigerin der Menschen- und Frauenrechte die schlichtere Engländerin, Mary Wollstonecraft mit der Streitschrift „Eine Verteidigung der Frauenrechte“, (A Vindication of the Rights of Woman.) Auch Männer wie Condoveet, v. Hippel und vor allem John Stuart Mill nahmen sich der Frauensache an.

Vergebens aber suchen wir die Spuren, die alle diese Männer und Frauen im Tatsachenleben ihrer Zeit hinterlassen hätten, forschen wir nach ihren Erfolgen für die soziale, geistige und wirtschaftliche Befreiung der Frau.

Dem einen und andern dieser frühen Vorkämpfer der Frauensache wurde die rasch wieder zerbröckelnde und in alle Winde sich zerstreuende Gefolgschaft weniger, das war alles. Eine Frauenbewegung ging von ihnen allen nicht aus und konnte nicht von ihnen ausgehen, weil die Zeit noch nicht erfüllt war, weil ihnen, neben der geistigen Bereitschaft und Erkenntnisfähigkeit der Massen für die inneren Zusammenhänge der Wirtschafts- und Geisteswelt, der breite Resonanzboden der wirtschaftlichen Bedürftigkeit fehlte.

Als diesen Boden dann die Not der Zeit, die Anarchie der industriellen Entwicklung geschaffen hatte, da waren es naturgemäß zuerst die bewußtesten und ökonomisch freier gestellten Schichten, die die neuen Lebensforderungen zu meistern und in ihrer Art zu erfüllen suchten. So kam es, daß die zutiefst wirksamen wirtschaftlichen Ursachen der Frauenbewegung in ideologischer Verkleidung auf den Plan traten, daß die erste Massenforderung der Frauen Bildung und Beruf war, so daß bei all denen, die die Oberfläche der Dinge für ihren Kern nahmen, die Vorstellung entstand, daß die Frauenbewegung eine rein geistige Sache sei, der sich erst im Laufe der Zeit wirtschaftliche und politische Strömungen und Strebungen angegliedert hätten.

Dieser Irrtum ist sehr begreiflich. Von jeher hatte es Frauen und vereinzelt   auch Männer gegeben, die das dem weiblichen Geschlecht zugefügte Unrecht erkannt und tief empfunden hatten. Ihre flammenden Proteste gegen Unrecht und Unter-drückung waren ergebnislos verpufft und mußten verpuffen, solange der wirtschaftliche Untergrund noch nicht so weit vorbereitet war , um all das neue Saat- und Vorstellungswerk aufnehmen zu können. Erst nachdem der Siegeszug der Maschine die Hauswirtschaft revolutionierte und die Frauen in größerer Zahl genötigt hatte, (…) sich ein hartes Stück Brot zu erkämpfen, kam mit dem wirtschaftlichen auch das geistige Umdenken und Umlernen. Die Not verdichtete sich zur Forderung. Es wurden die beiden Zweige der modernen Frauenbewegung, die von verschiedenen Punkten her, aber im letzten Grunde mit der gleichen Zielsetzung die Welt für die Frauen zu erobern trachteten.
So sehen wir als die beiden Grund- und Ecksteine der modernen Frauenbewegung auf der proletarischen Seite die Arbeitsüberlastung und das brennende Verlangen nach Erlösung von Überarbeit, Elend und Schutzlosigkeit. Auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Stufenleiter aber ist es ursprünglich der Drang nach Bildung und Wissen, die Sehnsucht durch die Berufsübung von der Leere und Zwecklosigkeit eines Daseins erlöst zu werden, dem man seinen Inhalt genommen. Das Heim sich neu auf neuer Grundlage aufbauen, wollen die einen; hinaus auf den Markt des Lebens begehren die andern.
Zum Ringen um Beschränkung der Arbeitszeit, um Verbesserung der Arbeits-, und Lebensbedingungen, um Schutz des Lebens und der Arbeit verdichtet sich das eine, zum Ruf nach Arbeit, nach Bildung und Beruf wird das andere. Beide begegnen sich endlich in der Einsicht, daß ihren gerechten Forderungen und Bestrebungen nur die Erringung der Bürger- und der politischen Rechte der Frau die Erfüllung bringen könne.
Jüdische Frauen haben in allen Stadien dieser Entwicklung mitgewirkt. Ihre charitative Veranlagung, ihr leicht beweglicher und aufnahmefähiger, aber auch in die Tiefe brennender und leuchtender Geist und endlich der dem Judentum zutiefst eignende Drang nach Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmungsrecht ließen sie als die gewiesenen Mitstreiterinnen und auch Führerinnen der allgemeinen Frauensache erscheinen. Aber auch schon bevor es eine eigentliche Frauenbewegung gab, finden wir Jüdinnen in vergleichsweise großer Zahl unter denen, die die persönlichen Härten und Unbilden einer engen Zeit schwer empfanden und sich tatkräftig dagegen auflehnten. Die bekanntesten Frauen der Romantik sind aus dem Judentum hervorgegangen. Rahel Varnhagen, die Brandes, der berühmte Literarhistoriker, die bedeutendste Erscheinung ihrer Zeit, die Dorothea Mendelsohn (Veit-Schlcgel), Henr. Herz und andere erhoben zu einer Zeit, in der die Persönlichkeit zu erwachen sich anschickte, das Banner einer neuen Geistigkeit und einer souveränen Moral. Man mag mit der Freiheit, die sie meinten und die sie sich nahmen, nicht in allen Punkten einverstanden sein. Entscheidend für die Beurteilung dieser Frauen ist aber das eine, daß sie es wagten, sie selbst zu sein. Daß sie es unternahmen, den Persönlichkeitsanspruch und damit das Recht der Frau als eine Selbstverständlichkeit zu formulieren und — zu leben. Die Salons dieser geistvollen Berliner Frauen, denen sich in Wien die der Schwestern Fanny von Arnstein und Cäcilie von Eskeles gesellten, wurden zu Mittel- und Ausstrahlungspunkten einer erlesenen geselligen und geistigen Kultur. Ihre persönliche Einwirkung befruchtete die Geister der zu Führern des Volkes vorbestimmten Persönlichkeiten. So mag mit Fug gefolgert werden, daß manches von dem, was die Staatsmänner, Politiker, Dichter, Pädagogen und Philosophen ihrer Zeit damals oder später gewollt und erreicht haben, mit irgendeinem Würzelchen hinabreicht in das von dem Geist und Wollen jüdischer Frauen befruchtete Erdreich einer emporstrebenden Kultur.

Ein tief Bedauerliches bleibt in diesem Zusammenhang festzustellen: alle diese hochbegabten Frauen haben sich im Laufe ihres Lebens durch die Taufe dem angestammten Glauben und Volksverbande entzogen. Eine Würdigung der Anteilnahme der jüdischen Frauen an dem neuen Frauentum und der Frauenbewegung kann natürlich trotzdem an diesen Erscheinungen schon darum nicht vorübergehen, weil das Moment der Taufe weder die Vererbungs- noch auch die Milieuzusammenhänge aufzuheben vermag, die beispielsweise als köstlichste Habe den Töchtern eines Moses Mendelsohn zu eigen sein mußten. So haben diese Frauen der geschichtlichen Würdigung als Jüdinnen zu gelten. Und Rahel Varnhagen z. B. hat trotz ihrer äußeren Abkehr vom Judentum sich ein tiefes Gefühl für das angestammte Volk bewahrt. Sie wurde, wie Kayserling ausführt, „stolz darauf, eine Jüdin zu sein“. (Kayserling: Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst. Leipzig 1879. F. A. Brockhaus. S. 215.) „Für die Juden und die Verbesserung ihrer politischen Stellung zeigte sie, so oft die Gelegenheit sich bot, lebhaftes Interesse. Sie hat ihr Volk, im ganzen und im einzelnen, immer nach Kräften verteidigt, Unheil und Druck beständig für dasselbe mitgefühlt.“ Und als im Sommer 1819 sich eine wilde Judenhetze in ganz Deutschland erhob, schrieb sie ihrem Bruder Ludwig Robert, der in Karlsruhe Zeuge jener Vorgänge gewesen war: „Ich bin grenzenlos traurig und in einer Art, wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener tun! Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen und Verachten, zum „Judenmauschel“-Schimpfen, zum kleinen dürftigen Schacher, zum Fußstoß und Treppenrunterwerfen. . . . Die gleißnerische Neuliebe zur christlichen Religion (Gott verzeihe mir meine Sünde!), zum Mittelalter mit seiner Kunst, seinen Dichtungen und Greueln, hetzt das Volk zu dem einzigen Greuel, zu dem es sich noch, an alte Erlebnisse erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm …. ich bin hochbetrübt. Eine herrschende Religion taugt nicht, das ist unreligiös11 (a. a. O. S. 215 f.).
Zwischen dem in diesen jüdischen Frauen verkörperten ersten Aufflammen der Sehnsucht nach Kultur, geistiger und sittlicher Befreiung und dem Eintreten jüdischer Frauen für konkrete, aus der Sphäre des Persönlichen in die des allgemein Zuständigen und Notwendigen führenden Ziele des Frauentums liegen Jahre. Es sind dann zunächst, übereinstimmend mit dem Gang der allgemeinen Entwicklung, Erziehungs- und Bildungsaufgaben, für die jüdische Frauen sich einsetzten.

Johanna Goldschmidt, geb. Schwabe, selbst Mutter von acht körperlich und geistig begabten Kindern, gründete in Hamburg zusammen mit einer gleich fühlenden Christin zu Ende der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts den ersten konfessionslosen Frauenverein, der, von seinen eigentlichen erzieherischen und allgemeinen Aufgaben abgesehen, wesentlich zur Ausgleichung konfessioneller Gegensätze beigetragen hat.
Als Hauptaufgabe hatte sich Johanna Goldschmidt die Propaganda Fröbelscher Ideen und die Ertüchtigung des Frauengeschlechts für die Aufgaben der Gattin, Mutter und Hausfrau gesetzt.

Auch eine der markantesten jüdischen Frauengestalten unserer Zeit, Frau Lina Morgenstern (Berlin), tritt uns zuerst in Verbindung mit der Förderung Fröbelscher Ideen entgegen. Als Vorsitzende des Kindergartenvereins gründete sie ein Seminar für Kindergärtnerinnen, veranstaltete Kurse für Kinderpflegerinnen und hielt populäre Vorträge zur Belehrung der Frauen und Mütter. Unter großen Opfern rief sie ferner neben den Kindergärten für Wohlhabende den ersten Volkskindergarten ins Leben. Die Not des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 reifte in ihr der Entschluß, Volksküchen zu gründen. „Am 31. Mai 1866 teilte sie in einem warm geschriebenen Aufrufe ihre Ideen dem größeren Publikum mit und schon am 5. Juni trat ein Komitee zur Durchführung ihres Planes zusammen: am 9. Juli konnte die erste Volksküche in Berlin eröffnet werden. Infolge eines von ihr gehaltenen Vortrags wurde auch bald in Breslau eine Volksküche errichtet und rasch folgten solche in Warschau, Posen, Lemberg, Hannover, Wien, Pest und anderen Städten.“ Ebenso verdankt ihr die „Akademie zur wissenschaftlichen Fortbildung für Damen“ ihre Entstehung. Sie hat sie mit großen persönlichen Opfern im Jahre 1869 errichtet, von dem Wunsche beseelt, die Frau für ihren natürlichen Beruf allseitig zu schulen. Neben ihrem praktischen Wirken entfaltete Frau Lina Morgenstern eine reiche und erfolgreiche literarische Tätigkeit. Ihr Andenken wird mit der aufstrebenden und aufblühenden Frauenbewegung ehrenvoll verknüpft bleiben.

Als Dritte im Bunde der von der pädagogischen Seite her zur Frauenfrage und Frauenbewegung gekommenen jüdischen Frauen ist Frau Henriette Goldschmidt zu nennen, die Gattin des Rabbiners Dr. A. M. Goldschmidt in Leipzig. Eine der Mitgründerinnen des 1865 entstandenen Allgemeinen deutschen Frauenvereins, der „die Arbeit, die Grundlage der ganzen modernen Gesellschaft, als Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts erklärt und bestrebt ist, alle der weiblichen Arbeitskraft im Wege stehenden Hindernisse zu beseitigen“, schuf sie schon um 1871 den Verein für Familien- und Volkserziehung und legte damit den Grundstein zu einem Erziehungswerk, das in der mit Recht hochgeschätzten Frauenhochschule in Leipzig seine Krönung fand. Ihre im Winter 1881 gehaltenen, in dem Buch „Ideen über weibliche Erziehung im Zusammenhang mit dem System Friedrich Fröbels“ gesammelten Vorträge veranlagten den Magistrat der Stadt Leipzig zur Errichtung? der städtischen Fortbildungsschule für Mädchen.

Erziehungs- und Bildungsinstitute für das weibliche Geschlecht zu schaffen, die, vor dem schulpflichtigen Alter beginnend, die ganze Kindheit und Jugend umspannen und so ein geistig, sozial und humanitär abgerundetes Bildungsganze schaffen sollten, das war der Traum ihres Lebens. Sie sah ihn erfüllt, als es ihr vergönnt war, die von ihr geschaffene Hochschule zu eröffnen.
Hochbetagt wirkt diese echt jüdische Frau, der die vergeistigte Güte eines langen Lebens ihren Stempel aufgedrückt hat, auch heute noch im gewohnten Kreise, von allen verehrt und— was mehr ist — von allen geliebt.

Als die erste jüdische Repräsentantin jenes modernen Geistes, der an Stelle der Wohltätigkeit die Wohlfahrtspflege, an Stelle der Barmherzigkeit und des Almosens die Gerechtigkeit und den Rechtsanspruch setzte, ist Frau Jeanette Schwerin anzusprechen. Durchdrungen von dem Empfinden, daß es heute nicht mehr genügt, sein Geld und einen Teil seiner Zeit in den Dienst planloser Wohltätigkeit zu stellen, entfaltete sie eine rege aufklärende Tätigkeit auf ethisch-sozialem Gebiete, das, nach Helene Lange, „die königliche Domäne der Frau der Zukunft“ ist. Berlin verdankt ihr durch Gründung der „Auskunftsstelle der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ eine tiefgreifende Reform der privaten Wohltätigkeit. Weiter schuf sie zusammen mit Minna Cauer, um den Frauen das Verständnis für die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge zu erschließen und sie für die daraus erfließenden Aufgaben sozialer Fürsorge zu ertüchtigen, 1893 die Berliner „Mädchen- und Frauengruppen für soziale HiIfsarbeit“. Aus ihnen gingen nachmals geschlossene Jahreskurse hervor, deren Aufgabe die berufsmäßige praktische und theoretische Schulung zur sozialen Hilfsarbeit war. Später entwickelten sich aus diesen glücklichen Anfängen eine Reihe sozialer Frauenschulen und Seminare, deren erste (1908), die Soziale Frauenschule in Berlin, die unmittelbare Fortsetzung der Schwerinschen Gruppen war.

Daneben entfaltete Frau Schwerin eine rege Tätigkeit auf dem Gebiet allgemeiner Sozialpolitik, Sie war die erste Frau, die durch planmäßige, von reifem Verständnis getragene Arbeit das Interesse für den Arbeiterinnenschutz zu wecken verstand, die durch unermüdliche Propaganda in Wort und Schrift, durch Einsetzen ihrer charaktervollen, klaren und tiefen Persönlichkeit der kommunalen und sozialpolitischen Betätigung der Frauen die Wege ebnete. Ihr ist es zu danken, wenn Deutschland vergleichsweise früh zur Anstellung weiblicher Gewerbeinspektoren schritt. Ihr auch, daß sich endlich das Interesse weiterer Frauenkreise den Fragen des Arbeiterinnenlebens und Arbeiterinnenschutzes zuwandte. Selbst die Sozialdemokratie brachte ihr, der bürgerlichen Frau, ein unbegrenztes Vertrauen entgegen. So heißt es mit Fug von ihr (Das Frauenbuch. 3. Teil. Stuttgart 1914. Franckhscher Verla, S. 209): „Wer die zarte Frau mit dem starken Geist, dem gütigen Herzen gekannt hat, der weiß, welch ein Segen von ihr ausging, er staunt über die Fülle von Anregungen in der nur sieben Jahre umfassenden Zeit ihres öffentlichen Wirkens und ist doppelt überzeugt von der Berechtigung der Frauenfrage, weil gerade Jeanette Schwerin für sie eintrat.“ Die Referentin kann dasselbe bezeugen, charaktervoll, lauter, warm und wahr wie ihr Wesen, war Jeanette Schwerins Werk.

Ihre Schülerin und Nachfolgerin auf dem Gebiete sozialer Fürsorge und allgemeiner sozialpolitischer Arbeit ist Dr. Alice Solomon, die jedoch aus dem Judentum im Kriege heraustrat. Sie ist die Gründerin und langjährige Leiterin der Sozialen Frauenschule in Berlin und ihrer Initiative verdankt die gesamte in dieser Richtung gehende Bewegung die erste Anregung und dauernde Förderung. Sie hat ihr reiches Wissen und ihren klaren, den Dingen in die Tiefe nachgehenden Verstand in den Dienst der sozialpolitischen Aufgaben gestellt. Besonders hervorzuheben sind ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Armen- und Wohlfahrtspflege und eine gründliche Schrift über die Frage des Mutterschutzes durch Mutterschaftsversicherung.

Die Zahl der jüdischen Frauen, die heute im Dienste der allgemeinen Frauensache wirken, ist Legion. Wohin auch immer wir im deutschen Vaterland schauen: überall finden wir die jüdische Frau an der Arbeit. In der sozialen Fürsorger, in der Erziehung, in den Berufsorganisationen, im Kampf um das staatliche und kommunale Bürgerrecht der Frau begegnen wir ihr. Häufig in führender Stellung und als Trägerin fortbildender Ideen. Daneben am bescheideneren Platz als Dienerin am Werk der Menschenliebe und der Menschen- und Frauenrechte. Immer aber ganz hingegeben, ganz erfüllt von der Sache, der sie dienen und nützen will. Vom ersten bis zum letzten Augenblick, wie weit auch der Weg, wie schwer auch die Last. Wir haben das wieder in diesen schweren Kriegstagen erlebt und dürfen mit ruhiger Zuversicht und freudigem Stolz sagen, daß die jüdische Frau sich auch diesmal bewährt hat.

Für die meisten der jüdischen Frauen, die dazu geholfen haben und helfen, den Sieg da draußen den Heimatsieg zuzugesellen, war und ist die Erkenntnis, daß es heute mehr denn je unabweisbare Pflicht jedes denk- und arbeitsfähigen Menschen ist, sich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, die Triebkraft ihres Verhaltens. Daß sie Jüdinnen sind, bleibt in diesem Zusammenhang ohne Belang. Das ist nur gut so. Ein Bedauerliches aber bleibt festzustellen. Ein Teil dieser Frauen hat dem Judentum den Rücken gewandt. Ein anderer sucht die Zugehörigkeit zum Judentum vergessen zu machen und empfindet sie als einen Makel. Wieder andere stehen dem Judentum innerlich ablehnend, zumindest aber gleichgültig gegenüber. Eine Würdigung der Anteilnahme des jüdischen Frauentums an der Frauenbewegung kann an diesen Dingen nicht achtlos vorübergehen. Selbst wenn man es vermeiden will, in diesem Zusammenhang ethische Werturteile zu fällen, muß man es als tief bedauerlich und in gewissem Sinne als unwürdig bezeichnen, wenn Menschen, die irgendwie aus der Menge hervorragen und sich von ihr unterscheiden, den Ursprung verleugnen, dem sie wahrscheinlich die besten Bestandteile ihres Wesens und Wirkens zu danken haben, oder gar das Nest beschmutzen, dem sie entstammten.

Mir scheint es unvereinbar mit der Wesenheit hoher Persönlichkeitskultur und dem allseienden Inhalt aufrechten Menschentums, wenn man sich des Bodens schämt, oder sich von dem Boden abwendet, der einem hervorbrachte. Nicht davon zu reden, daß gerade eine so viel angegriffene, verleumdete und geknechtete Gemeinschaft keinen der Kämpfer und Kämpferinnen entbehren kann und entbehren sollte, die durch ihr ganzes Sein und Wirken, gleichviel ob für das Judentum oder für die das Judentum mitumschließende Gemeinschaft, dartun, wie wertvoll für die Allgemeinheit das Judentum war, ist und in Zukunft sein kann.

Wir haben bisher von der einzelnen jüdischen Frau und ihrem Wirken innerhalb der allgemeinen Frauenbewegung gesprochen. Nunmehr soll von den jüdischen Frauen als einer Gesamtheit die Rede sein und von dem, was sie als Gesamtheit für das Judentum wie für die allgemeine Frauenbewegung zu bedeuten haben.

Seit einer Reihe von Jahren gibt es eine jüdische Frauenbewegung, die in dem 1904 von Bertha Pappenheim gegründeten Jüdischen Frauenbund ihre äußere Vertretung findet.

Der Jüdische Frauenbund umfaßt einen großen Teil der alteingesessenen Wohltätigkeits- und Wohlfahrtsvereine. Er begreift in sich aber auch jene Vereinigungen, die, wie die weibliche Fürsorge in Frankfurt a. M. und die Schwesternschaften der Bne-Bris-Logen nicht als Wohltätigkeitsvereine alten Stils zu bezeichnen sind, sondern bei deren Gründung jene Gedankengänge sozialer Erkenntnis und daraus erwachsender sozialer Verpflichtung maßgebend waren, denen wir bei Jeanette Schwerin in klarster Ausprägung begegnet sind.

Als seine Aufgabe bezeichnet der Jüdische Frauenbund im ersten Paragraphen seiner Satzung den „Zusammenschluß der deutsch-Jüdischen Frauenvereine und weiblicher Einzelpersonen zu gemeinsamer Arbeit im Interesse der jüdischen Frauenwelt“ Im § 2 heißt es erläuternd: „Der Verein will sein Ziel besonders dadurch erreichen, daß er alle jene Bestrebungen fördert, welche
a) die Erziehung des Volkes bezwecken,
b) das Erwerbsleben jüdischer Frauen und Mädchen erleichtern wollen,
c) auf die Hebung der Sittlichkeit und die Bekämpfung des Mädchenhandels hinwirken und
d) geeignet sind, das jüdische Gemeinschaftsbewußtsein zu stärken.“

Erziehung des Volkes, berufliche Ertüchtigung der Frauen und
Erschließung neuer Berufe für sie, Arbeit statt Almosen, wirtschaftspolitische Maßnahmen nationaler und internationaler Art, eine gleichfalls über die Grenzen Deutschlands hinausgreifende Hebung der Sittlichkeit durch Erziehung wie durch wirtschaftliche und berufliche Einwirkung: das ist Ausgangspunkt und Inhalt dieses Programms einer neuen Frauenbewegung jüdischer Prägung.

Einer Frauenbewegung, die sich bewußt hineinstellt in den Strom des frisch flutenden Lebens, die nicht am Symptom kurieren, sondern auf die Wurzelgründe der Dinge zurückfinden und von der Wurzel her die Gesundung einleiten will: so steht dieser jüngste Frauenbund vor uns. Konfessionell nicht in dem engen Sinn dogmatischer Gebundenheit, sondern konfessionell, weil die besonderen Bedingungen, unter denen hier ein Teil der Volksgemeinschaft, teils aus rituellen, teils aus von außen aufgezwungenen Gründen leben muß, besondere Aufgaben stellten und die Schaffung einer Sonderorganisation zur unabweisbaren Pflicht machten.

Da waren die Fragen des hilfsbedürftigen Ostjudentums, die zusammen mit den einschlägigen Männerorganisationen in Angriff genommen wurden. Da galt es durch Organisation der Krankenpflege, durch Einrichtung von Kindergärten und sonstige Maßnahmen erzieherischer Art kulturelle Pionierarbeit im dunkelsten Galizien zu leisten und dadurch wie durch wirtschaftliche Hilfeleistung zugleich den Mädchenhandel zu bekämpfen. Da mußte den Pogromopfern eine neue Heimat gesucht und bereitet, und es mußte durch die Bahnhofsmission, durch Schaffung von Unterkunftsstätten für Passanten oder sonst Obdachlose zugleich der Menschlichkeit wie der Sittlichkeit gedient werden. Dann wurde das Heim in Isenburg gegründet, das Gefährdeten, Verwahrlosten und Gefallenen Unterkunft, Hilfe und erziehliche Einwirkung bietet.

Und das andere Große, von dem bereits oben die Rede war, wurde getan: es vollzog sich die Umwandlung der jüdischen Wohltätigkeitspflege aus einer rein charitativen Übung zu einer sozial-ethisch orientierten Wohlfahrtspflege. Sei es, daß man sich mit Wöchnerinnen- oder Säuglingspflege, mit Kinderschutz und -erziehung, mit Wohnungsfragen oder der Fürsorge für Gefährdete beschäftigt, oder daß man in der Stellenvermittlung und Berufsberatung den besonderen Bedürfnissen jüdischer Ansucher Genüge tut: überall ist es die von sozialen, wirt-schaftlichen und pädagogischen Gesichtspunkten durchleuchtete Handhabung der Arbeit, die uns entgegentritt.

In jüngster Zeit hat der jüdische Frauenbund sich das hohe Verdienst erworben durch geschlossene Behandlung der Fragen der sozialen Fürsorge und des Bevölkerungsproblems auf eigens dazu angesetzten Tagungen Fragen von höchster Wichtigkeit, die bislang nur auf Fachkongressen abgehandelt worden waren, dem Interesse und Verständnis der jüdischen Allgemeinheit näher zu bringen. Es ist erfreulich, daß gerade die jüdischen Frauen es waren, die als erste mit der Popularisierung dieser rassenpolitisch so außerordentlich wichtigen Fragen auf den Plan traten und es zeugt für den hohen Stand, den die jüdische Frauenbewegung nach verhältnismäßig kurzem Bestehen bereits einnimmt.

Daß das so ist, ist vor allen Dingen das Verdienst der ideenreichen Frau, die uns immer wieder als Schöpferin und Führerin auf all den von uns gekennzeichneten Arbeitsgebieten der jüdischen Frauenbewegung entgegentritt. Innerhalb der jüdischen Tradition in Treue verharrend und doch von modernstem Geist erfüllt, steht Bertha Pappenhehn vor uns. Ihre Gestalt bedeutet einen Markstein in der Entwicklung jüdischen Frauentums.

Im Jahre 1859 in Wien geboren, kam sie 1880 nach Frankfurt a.M., das ihr zur zweiten Heimat geworden ist. Sie arbeitete dort sehr bald in der Wohlfahrtspflege, richtete den jüdischen Kindergarten in sanitär vorbildlicher Weise ein und war dann zwölf Jahre lang Hausmutter im jüdischen Waisenhaus. Die Gründung des Vereins Weibliche Fürsorge war in der Hauptsache ihr Werk. Von da aus eröffnete sie dann sich und anderen alle die Arbeitsgebiete, von denen oben ausführlicher die Rede war. Sie alle tragen das Gepräge ihres Geistes und Wollens und nur der Krieg ist schuld daran, daß die jüngste ihrer Absichten, die für das Jahr 1914 geplante Gründung eines internationalen jüdischen Frauenbundes, nicht zustande kam.

Auch interkonfessionell bzw. in der allgemeinen Fürsorgearbeit ist sie mit gutem Erfolg schöpferisch tätig gewesen. Sie war die Gründerin der Flickschulen und ist ein eifriges Mitglied des Armenamtes. Während des Krieges ist sie Fabrikpflegerin geworden.

Unvergleichlich ist aber auch das, was sie als Repräsentantin des Judentums der Allgemeinheit gegenüber bedeutet. Den Teilnehmern des Berliner Frauenkongresses wird es unvergeßlich sein, wie diese Frau als würdigste Vertreterin ihres Volkes durch ihre ganze Erscheinung, wie durch Art und Inhalt ihrer Ausführungen sich selbst und der von ihr vertretenen Gemeinschaft die hohe Achtung des ganzen Auditoriums errang.

Mit diesem Eindruck sei für diesmal Abschied genommen von einer konfessionell orientierten Bewegung die sich als vollwertiges Glied dem allgemeinen Frauenstreben und Frauenkampf eingereiht hat.

1 Kommentar

  1. Danke für diesen Text. Er ist ja geschrieben gegen Ende des (ersten) Weltkrieges. In diesem Zusammenhang ein Zitat daraus:
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    „Die Zahl der jüdischen Frauen, die heute im Dienste der allgemeinen Frauensache wirken, ist Legion. Wohin auch immer wir im deutschen Vaterland schauen: überall finden wir die jüdische Frau an der Arbeit. In der sozialen Fürsorge, in der Erziehung, in den Berufsorganisationen, im Kampf um das staatliche und kommunale Bürgerrecht der Frau begegnen wir ihr. Häufig in führender Stellung und als Trägerin fortbildender Ideen. Daneben am bescheideneren Platz als Dienerin am Werk der Menschenliebe und der Menschen- und Frauenrechte. Immer aber ganz hingegeben, ganz erfüllt von der Sache, der sie dienen und nützen will. Vom ersten bis zum letzten Augenblick, wie weit auch der Weg, wie schwer auch die Last. Wir haben das wieder in diesen schweren Kriegstagen erlebt und dürfen mit ruhiger Zuversicht und freudigem Stolz sagen, daß die jüdische Frau sich auch diesmal bewährt hat.
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    Für die meisten der jüdischen Frauen, die dazu geholfen haben und helfen, den Sieg da draußen dem Heimatsieg zuzugesellen, war und ist die Erkenntnis, daß es heute mehr denn je unabweisbare Pflicht jedes denk- und arbeitsfähigen Menschen ist, sich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, die Triebkraft ihres Verhaltens. Daß sie Jüdinnen sind, bleibt in diesem Zusammenhang ohne Belang.“
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    Unbegreiflich und doch folgerichtig, wie schlecht dieser Einsatz „belohnt“ wurde durch die Braune Brut. Nicht nur dass sie mit Billigung gerade auch derjenigen, für die sich Frauen wie die im Artikel genannten einsetzten, ein rollback in Bezug auf die einsetzende Selbstbesinnung und -bestimmung der Frau konsequent durchzog, nein, auch der allein der Menschenliebe, gemischt mit einer Portion Liebe zum deutschen Land getätigte selbstlose Einsatz in der Kriegssituation wurde weder gewürdigt noch je erwähnt. Vertrug sich nicht mit der Hetze gegen alles Jüdische.
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    Off topic, aber doch im Kontext zum Frauentag möchte ich hier zum, naja, Staunen einen Link einstellen, der zu einem immer gleichen Text in diversen Presseorganen führt:
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    http://us.yhs4.search.yahoo.com/yhs/search?fr=altavista&fr=altavista&itag=ody&q=luba+Fischman&kgs=1&kls=0
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    Schön.
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    efem

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