Die Tunesische Revolution

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Präsident Ben Ali hatte 2011 zum „Jahr der Jugend“ erklärt. Das hat er bekommen. Noch ist die Zukunft Tunesiens ungewiss. Nach der erstickenden Diktatur müssen sich die demokratischen Kräfte erst neu organisieren. Doch eines steht fest: Was in Tunesien geschieht, wird auf die ganze arabische Welt ausstrahlen…

Von Hicham Ben Abdallah El Alaoui und Amin Allal
Le Monde diplomatique  vom 11.2.2011

Binnen weniger Wochen ist es den Tunesiern gelungen, ein despotisches Regime zu stürzen, dessen Führung in den Händen einer einzigen Familie lag, die das Land über ein Vierteljahrhundert regelrecht geplündert hat. In Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten mangelt es wahrlich nicht an Diktatoren. Doch in der gesamten Region war Tunesien unter Zine El Abidine Ben Ali eines der autoritärsten und am stärksten abgeschotteten Regime.

Die Selbstverbrennung eines verzweifelten jungen Mannes am 17. Dezember 2010 löste einen Aufstand aus, der deshalb so erfolgreich war, weil er erstens überraschend kam, zweitens keine Anführer hatte und drittens nicht zentral organisiert war. Andernfalls hätte das Regime die Volkserhebung wahrscheinlich schnell niederschlagen können. Was die Demonstranten verband, war ihre via Facebook und Twitter kommunizierte unbändige Wut auf den Autokraten Ben Ali. Damit hatte das Regime nicht gerechnet – obwohl es ein Vorbild gab: die Grüne Bewegung im Iran, die 2009 von der herrschenden Theokratie niedergeschlagen wurde.

In Tunesien operierte die Armee weitgehend getrennt von den Geheimdiensten und der Polizei. Die bis auf die Präsidentengarde meist schlecht bezahlten Beamten konnten zwar begrenzte Unruhen beherrschen, aber mit der Kontrolle eines solch großen, von breiten Schichten der Gesellschaft getragenen Aufstands waren sie heillos überfordert.

Nach Ben Alis Sturz und seiner Flucht am 14. Januar ist die politische Zukunft Tunesiens nach wie vor ungewiss: Eine autonome politische Elite, die in der Lage wäre, den Staat nach dem Sturz des verhassten Präsidenten zu lenken und in ein demokratisches System zu überführen, ist noch nicht in Sicht.

Auch nach der Auflösung der Regimepartei des geflohenen Präsidenten, dem Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD), werden die alten Kader nicht von heute auf morgen verschwinden. Das engmaschige Überwachungsnetz im ganzen Land war nur eine Facette ihrer Macht. Die RCD-Funtkionäre saßen an den Schalthebeln von Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Zudem erfüllte die Partei mehrere Funktionen: Sie bediente wenige Klientelgruppen und sorgte gleichzeitig für eine Umverteilung zugunsten der Armen.

Marsch der Jugend zum Palast von Karthago

Das sicherte ihr eine effiziente politische Kontrolle und verschaffte ihr zugleich eine breite gesellschaftliche Basis. Doch das ist nicht der einzige Hemmschuh für den revolutionären Prozess. Einerseits behält die Armee einen entscheidenden Platz, andererseits müssen sich die Kräfte, die die Macht übernehmen sollen, überhaupt erst einmal sortieren.

Dem Allgemeinen Tunesischen Gewerkschaftsbund UGTT – einzige Gewerkschaft des Landes – wird oft ein großes Mobilisierungspotenzial zugeschrieben. Manche behaupten gar, die überall im Land präsente Organisation habe den Aufstand angezettelt und könnte als Alternative zum RCD dienen. Tatsächlich ist die UGTT aber keine homogene Organisation. Ihre 500 000 Mitglieder haben vollkommen unterschiedliche Hintergründe, viele sind zudem RCD-Genossen. Vor allem aber hat ihre Führung frühere Proteste oft gedeckelt, wie etwa 2008 in Gafsa. Und die Entfernung zur Basis ist groß: Seit dem Kongress von 1989 wurde die Organisation zentralisiert – zugunsten des Generalsekretärs und zum Nachteil radikalerer Funktionäre, die kaltgestellt oder gleich ausgeschlossen wurden.

Die Parteien der legalen Opposition, die die Bildung der Regierung der nationalen Einheit ausgehandelt haben, sind klein und nicht sonderlich einflussreich. In den Städten im Landesinneren (Kasserine, Sidi Bouzid, Gafsa), die in den letzten Jahren immer wieder Schauplatz von Unruhen waren, haben sie nur wenige Parteimitglieder. Und ihre Vorsitzenden, Nejib Chebbi von der Demokratischen Fortschrittspartei, Mustapha Ben Jaafar vom Demokratischen Forum für Arbeit und Freiheit und sogar Ahmed Brahim von der postkommunistischen Ettajdid scheinen im Augenblick nur eines im Blick zu haben: die Präsidentschaft.

Auch die bisher verbotenen Parteien werden es nicht leicht haben, sich Gehör zu verschaffen. Der Tunesischen Kommunistischen Arbeiterpartei, einer Kritikerin der Regierung der nationalen Einheit, wird zwar zugutegehalten, dass sie 2008 den Aufstand in Gafsa aus dem Untergrund unterstützt hat, aber auch sie ist eher eine Splittergruppe. Die islamistische Ennahda-Partei ((Bewegung der kulturellen und politischen Renaissance, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Sie verbindet die Reformierung des Islams mit gesellschaftlicher Veränderungen. Siehe Anne-Laure Dupont, „Nahda, la renaissance arabe“, „Manière de voir, Nr. 106, August/September 2009.)) wurde unter Ben Ali brutal unterdrückt, und zahlreiche ihrer Funktionäre waren jahrelang im ausländischen Exil. Auch Moncef Marzouki, der 2001 die linke Oppositionspartei Kongress für die Republik (CPR) gründete, ist gerade erst aus dem französischen Exil zurückgekehrt und hatte noch keine Gelegenheit, neue Anhänger zu gewinnen. Überdies hat er bereits angekündigt, dass er der Jugend den Vortritt lassen wolle.

Es ist eine Ironie der Geschichte: Der Diktator hatte 2011 zum „Jahr der Jugend“ erklärt. „Ben Ali hat es verkündet, wir nehmen ihn beim Wort“, sagte eine Demonstrantin. Auch wenn die jungen Tunesier kein Parteibuch oder Mitgliedsausweis haben, als apolitisch wird sie heute niemand mehr bezeichnen. Viele Demonstranten, die sich den Polizisten entgegenstellten, waren tatsächlich noch im Teenageralter – auch am Abend des 13. Januar, als die Demonstranten vom Viertel al-Kram zum Präsidentenpalast nach Karthago zogen. Als die jungen Leute anderntags im Netz die Flucht des Diktators kommentierten, gab es keine Tabus mehr. Sie besetzten öffentliche Plätze, zwangen Polizisten zum Gruß und ließen sich nicht mehr bevormunden.

Das Internet ist zwar das Symbol ihres Engagements, aber die „Alarm-AGs“, die Nachtwachen, bei denen man diskutierte, sich austauschte und Entscheidungen traf, waren mindestens genauso wichtig. Gleichzeitig ersetzten sie die Ordnungskräfte und sorgten für Sicherheit: In den Stadtvierteln rief man dazu auf, Listen der RCD-Funktionäre zu erstellen, die Schulen vor Brandstiftern zu schützen, und jeder sollte seinen Müll am nächsten Morgen selbst entsorgen. Die Zukunft der Tunesischen Revolution wird davon abhängen, wie diese hunderttausenden jungen Leute in die Politik einbezogen werden.

Denn für eine Gesellschaft auf der Suche nach Demokratie ist die Jugend ein wichtiger Trumpf. Tunesien zählt zu den Ländern mit der gebildetsten und am stärksten säkularisierten Bevölkerung in der arabischen Welt. Bisher konnten die radikalen Islamisten keinen entscheidenden Einfluss ausüben. Wenn die Anhänger der Ennahda bereit sind, die demokratischen Regeln einzuhalten, sollten sie in das politische System integriert werden. Dann würden die Radikalen von ganz allein außen vor bleiben. Dennoch kann mit Spannung erwartet werden, ob die alten Führer der RCD im kommenden Wahlkampf wieder auf die Angst vor dem Islamismus setzen – auch um sich damit en passant beim Westen einzuschmeicheln.

Laut tunesischer Verfassung müssen innerhalb von 60 Tagen Wahlen organisiert werden. Doch trotz des Drucks der Straße könnte die Übergangsregierung der nationalen Einheit versucht sein, den Status quo zu verlängern. Im Interview mit der Zeitschrift Zenith berichtete der neu ernannte Außenminister Ahmad Ounais, ein bekannter Regimekritiker und Exbotschafter Tunesiens, dass die Regierung bereits prüfe, ob die Interimszeit nicht auf sechs Monate verlängert werden könne, um auch „anderen Parteien, die nicht in der Lage sind, sich so schnell zu organisieren“, eine Chance zu geben. ((Siehe www.zenithonline.de/835.html.))

Selbst die Presse war gleichgeschaltet

Die tunesische Revolution hat auch in anderen arabischen Ländern Hoffnungen geweckt. Die Emanzipationserfahrung wirkte ansteckend, insbesondere in Ägypten, in Jordanien und im Jemen. Dabei hatte die junge Generation, die jetzt ihren Verdruss über die autoritären Systeme auf die Straße trägt, fast schon resigniert. Der Vorteil der Tunesier war, dass sich mit dem Ben-Ali-Clan der Zorn gegen ein klares Ziel richten konnte, vergleichbar mit Ägypten, wo Mubarak den Hass und die Empörung auf sich zog.

Anders sieht es zum Beispiel in Algerien aus, wo gleich mehrere Despoten aus dem Sattel geworfen werden müssten. Autoritäre Regime sind in der Regel stabiler, wenn sie einzelnen Klientelgruppen einen Teil der Macht abtreten. In solchen Ländern verfügen die Machthaber über größere, ihnen zugetane Netzwerke, wie in Algerien, wo die Erdölgewinne einer relativ großen Gruppe zugutekommen, die deshalb ein vitales Interesse am Erhalt des Status quo hat.

Eine weitere Besonderheit des tunesischen Systems waren die als „Wahlen“ bezeichneten trostlosen Volksabstimmungen, die der schlecht organisierten Opposition nicht den geringsten Spielraum ließen. Zudem war die tunesische Presse völlig gleichgeschaltet. Auch das ist ein Unterschied zu Algerien, wo zumindest in den Printmedien durchaus regimekritische Töne zu finden sind.

Im westlichen Nachbarland Tunesiens haben die Erdöleinnahmen bislang noch bei jedem Aufstand geholfen, den Volkszorn zu beschwichtigen. Und solange sich die Militärs untereinander einig sind, sich auf der politischen Bühne im Hintergrund halten und Politiker in ihr Machtgefüge integrieren, wird sich daran auch kaum etwas ändern.

Bleibt Marokko, wo sich das Volk bisher noch nicht gegen die Monarchie erhoben hat. Dabei gäbe es auch hier genügend Gründe: eine frustrierte Jugend ohne Perspektiven, einen repressiven Sicherheitsapparat und üble Vetternwirtschaft. Die ethnischen Differenzen sind hier vielfältiger und auch einschneidender als in Tunesien und die sozialen und ökonomischen Gräben gehen tiefer.

Doch auch in Tunesien war die vielleicht entscheidende Ursache für den Aufstand der große Entwicklungsunterschied innerhalb des Landes: Während an den Küsten in den Tourismus investiert wurde, vernachlässigte die Regierung die Regionen im Landesinnern. Hier haben sich die Tunesier zuerst erhoben. In anderen arabischen Ländern existiert diese Ungleichheit zwar auch, aber in anderer Form. Eine Gesellschaft, deren politisches System von einer sehr kleinen, nicht legitimierten Gruppe gelenkt wird, kann sich nicht effizient entwickeln, es sei denn, es existiert, wie in China, gleichzeitig eine autonome Technokratie aus Experten. In den meisten arabischen Ländern ist die Technokratie jedoch stets im Sumpf von Korruption und Autoritarismus versunken.

Der Einfluss der tunesischen Bewegung auf weitere Länder in der arabischen Welt wird am Ende auch davon abhängen, ob es der Übergangsregierung gelingt, das Land zu demokratisieren. Wenn sich Mitbestimmung, Meinungsfreiheit und ein Mehrparteiensystem durchsetzen, wird das auch Ansporn für Proteste in anderen Ländern sein. Dabei sind grundsätzlich zwei Szenarien vorstellbar: dass die arabischen Regierungen auf die Forderungen der Demonstranten eingehen und sich politisch öffnen oder dass sie versuchen, um jeden Preis ihre Macht zu erhalten.

Der erste Weg birgt für die arabischen Machthaber einige Tücken. Denn wenn sich die Systeme nach jahrzehntelanger Repression zu abrupt öffnen, könnte ein solcher Schock zu ihrem Sturz führen. Der Demokratisierungsprozess muss unmissverständlich und glaubwürdig sein. Eine allmähliche Öffnung verlangt also viel Geschick und die Unterstützung einer politischen Elite, die zugleich die Stabilität des Landes im Blick behält. Es ist allerdings höchst fraglich, ob die derzeitigen Regierungen ein Interesse daran haben und in der Lage sind, eine solche Elite zu fördern.

Im Moment sieht es eher danach aus, als würden sich die Machthaber einer ernst gemeinten Öffnung verweigern. Belehrt durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten, versuchen die arabischen Regierungen, die unmittelbaren Ursachen des Aufstands zu beseitigen, indem sie vor allem die Preise für Grundnahrungsmittel (Brot, Zucker, Mehl, Speiseöl) senken. Außerdem bemühen sie sich, die Effizienz ihrer Sicherheits- und Informationsdienste zu verstärken.

Dabei orientieren sie sich ganz offensichtlich am iranischen Modell: Journalisten werden ausgewiesen oder unter Hausarrest gestellt, und das Internet wird blockiert. Am 29. Januar ließ auch die Regierung in Kairo sämtliche Verbindungen kappen, so dass Ägypten zeitweilig von der digitalen Landkarte verschwand.

Nach dem Vorbild der iranischen Bassidsch-Milizen hat das ägyptische Regime Agents Provocateurs in die Menge der Protestierenden geschleust, um den Widerstand in Misskredit zu bringen. Doch die Modernisierung und Ausweitung der Unterdrückungsapparate werden die neuen sozialen Bewegungen nicht mehr aufhalten können. Nach der Tunesischen Revolution und den Umwälzungen in Ägypten werden repressive Lösungen nur noch kurzfristig wirken.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Hicham Ben Abdallah El Alaoui ist Mitglied im Beirat von Humans Rights Watch und forscht an der Universität Stanford; er ist übrigens auch ein Cousin von Mohammed VI., König von Marokko. Amin Allal ist Politikwissenschaftler.