Rote Ampeln, Autofahrer und „barış“ von Doğan Akhanlı

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Der deutsch-türkische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Doğan Akhanlı wird seit August 2010 in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis festgehalten. Ihm droht eine lebenslängliche Haftstrafe – obwohl er eindeutig unschuldig ist…

Grund für seine Inhaftierung ist offenkundig sein auch in der Türkei erschienenes Buch über den türkischen Völkermord an den Armeniern, wie auch sein vieljähriges, überzeugendes Engagement gegen jegliche Form von Antisemitismus. (siehe Presseerklärung haGalil)

Von Uri Degania

Nachfolgend dokumentieren wir seine kurze literarische Erzählung „Rote Ampeln, Autofahrer und ‚barış'“. Verfasst hat Doğan Akhanlı diese Erzählung im März 2000. Sie handelt, gespeist von seinen biographischen Erfahrungen als ehemaliges Folteropfer der türkischen Justiz, von einer Freundschaft, wie auch von existentiellen Erfahrungen.

Der Protagonist, wie Doğan selber Türke, trifft einen kurdischen Freund, İsmail. Trotz ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit, ihrer unterschiedlichen rednerischen Begabungen, fühlen sie sich seelenverwandt. Traumatische Erfahrungen haben sie geprägt. Unerwartet wird sein Freund İsmail von diesen überrollt, ist nicht mehr Herr seiner selbst. Er wird an seine frühere Sprachlosigkeit erinnert, an den Verlust seiner Muttersprache, des Kurdischen. Sein Schicksal ist gleichermaßen ein individuelles wie ein kollektives. Doğan fügt „nebenbei“ hinzu, dass beide „die Erfahrung“ machen „dass Freundschaft nicht unbedingt einer gemeinsamen Sprache bedarf“.

Doğan Akhanlı, dies sollten wir hinzufügen, wandelt nun seine Gefangenschaft in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis in der ihm eigenen Begabung konstruktiv um: Er schreibt weiter, bereitet sich auf seine Verteidigungerede gegen die staatliche Willkür vor. Und er lernt, da er dort der einzige Türke unter Kurden ist, zur Zeit Kurdisch. Der Menschenrechtsaktivist Doğan Akhanlı wehrt sich – mit seinen Mitteln.

Die Solidaritätsbewegung für seine Freilassung ist beeindruckend und wächst täglich an. Doğan muss von der türkischen Justiz unverzüglich freigelassen werden und in seine Heimatstadt zurückkehren dürfen. Der deutsche Außenminister, die Bundeskanzlerin sind aufgefordert, sich öffentlich für Doğans sofortige Freilassung einzusetzen!

Auf der großen Kölner Solidaritätsveranstaltung für Doğan Akhanlı am 31. Oktober – der Veranstaltungssaal war mit 450 Besuchern völlig überfüllt – sprachen  prominente Kölner Autoren wie Günter Wallraff, Navid Kermani, Renan Demirkan, Fatih Çevikkollu, Pınar Selek, Christa Schuenke vom P.E.N.-Zentrum Deutschland, Lale Akgün, die jüdische Künstlerin Tanya Ury wie auch die Kölner Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes. Die FAZ schrieb am 2.11.2010 über diese eindrucksvolle Solidaritätsveranstaltung:

„Köln ist zurück. (…) Hier, im neuen Rautenstrauch-Joest-Museum, erhob nun die Kölner Zivilgesellschaft wieder ihr Haupt. Einer der Ihren nämlich ist in Gefahr: der Kölner Schriftsteller Doğan Akhanlı, der im August seinen kranken Vater in der Türkei besuchen wollte und unter fadenscheinigen Vorwürfen in Untersuchungshaft gesteckt wurde. Seine zahlreichen Unterstützer von Günter Grass bis Orhan Pamuk vermuten eine Racheaktion, weil der politische Aktivist seit seiner Flucht nach Deutschland im Jahre 1991 immer wieder türkeikritisch Stellung bezogen hat, vom Genozid an den Armeniern bis zur Ermordung Hrant Dinks. Die Solidaritätsveranstaltung für Akhanlı (…) wurde regelrecht vom Publikum überrannt. Nahezu in Sekunden waren die dreihundert Stühle besetzt, Hunderte Besucher standen noch in den Gängen. Eingangs legten die beiden Anwälte des Inhaftierten dar, dass die Anklage wegen Raubes und Totschlags nach dem Rückzug beider Belastungszeugen zwar in sich zusammengefallen sei, aber die türkische Justiz den deutschen Staatsbürger trotzdem nicht freigebe.“

Doğan Akhanlı selbst hatte für das Kölner Publikum ein bewegendes, gleichzeitig humorvolles Grußwort verfasst, welches seine Anwälte übermittelt haben. Er schrieb aus dem Hochsicherheitsgefängnis: „Nicht selten träumte ich in Köln davon, wie es wohl wäre, eine Lesung im Literaturhaus zu haben. Hätte ich gewusst, dass es dazu einen solchen Weg gibt, hätte ich meine Reise viel eher unternommen!“, schreibt Akhanlı aus dem Gefängnis in Tekirdağ. Am Ende dankte er seinen Unterstützern: „Jetzt weiß ich, dass ich Köln nicht nur des Karnevals wegen liebe (beileibe nicht!), sondern Euretwegen, ich weiß, dass ich meine Fähigkeit, in dieser Stadt glücklich zu sein, Euretwegen nicht eingebüßt habe. Vielen Dank für Eure Unterstützung, Euren Einsatz. Eure Freundschaft werde ich niemals vergessen. Niemals.“

Rote Ampeln, Autofahrer und „barış“ ((türk.: Frieden))

Von Doğan Akhanlı

Obwohl seine Haare lang sind und meine schütter, hab ich das İsmail nie übel genommen.

Na ja, er isst immer noch kein Fleisch und kann gut Gedichte vortragen. Ich aber schwitze Blut und Wasser, wenn ich nur zwei zusammenhängende Sätze sagen will.

Wir haben beide eine große Schwäche für Wein, Hayyam und sentimentale Filme.

İsmail ist Kurde, ich bin Türke.

İsmail erzählt Wirkliches, Erträumtes und Albträume mit Hilfe von Symbolen. Er formuliert lange, gefühlvolle Sätze, und es bedarf einer ernstlichen Mühe herauszufinden, wo in seinen Worten die Realität beginnt und wo Träume enden.

Er kann sich noch so sehr bemühen, es zu verbergen – wir, die wir ihn kennen, verstehen, dass İsmail, der romantische Weltenbummler regnerischer Tage, in einer Aprilnacht bei Rot am Straßenrand stehend, durch den zufälligen Blick eines Autofahrers in seiner Erinnerung getroffen und in die Kindheit katapultiert wird. Wir begreifen, dass dieser Herr, eigentlich ein harmloser Mensch, der es möglicherweise nur eilig hat, nach Nippes, Ehrenfeld oder Bergisch-Gladbach zu kommen, kein geringerer ist als der garstige Feldwebel aus İsmails Kindheit.

Inzwischen wird es grün und İsmail müßte eigentlich die Straße überqueren, aber er bleibt regungslos stehen, weil er sich nicht von seinen Erinnerungen losreißen kann. Die Scheinwerfer der militärischen Fahrzeuge leuchten die ganze Nacht und das angsterfüllte Flüstern seiner Eltern dauert die Nacht hindurch an. Bei Tagesanbruch treten Kinder, Frauen, Männer, gebrechliche Großmütter und Großväter aus den Dorfhäusern und stellen sich im Hof der Polizeistation, die eigentlich die Grundschule ist, in einer Reihe auf –  die Frauen rechts, die Männer links. Der garstige Feldwebel befiehlt allen, auf den Boden zu schauen, den Babys auf den Armen oder in den Bäuchen ihrer Mütter und auch den etwas größeren Kindern wie İsmail, die sich verängstigt an den Rocksäumen der Mütter festkrallen.

An jenem regnerischen Aprilmorgen nimmt der garstige Feldwebel İsmails Muttersprache mit.

İsmail wächst mit der Muttersprache des garstigen Feldwebels auf. Er wird größer und erfährt, dass der garstige Feldwebel nahezu alle Dörfer aufgesucht und aller Menschen Muttersprache mitgenommen hat. Und immer wenn es regnet, und immer wenn die Ampeln auf Rot schalten, brennt in İsmail die Sehnsucht nach seiner nicht wiedergekehrten Muttersprache. Später machen sich Tausende junger Menschen auf, ihre Muttersprache zu suchen. Als sie sie in den Städten nicht finden, setzen sie ihre Suche in den Bergen fort. Weil er lange Haare und einen Bart hat und ungern ein Gewehr mit schiefem Magazin an der Schulter trägt, schließt sich İsmail nicht den jungen Leuten an, die die Muttersprache in den Bergen suchen.

İsmail schöpft Kraft aus seiner Hoffnung. Mit prophetischer Geduld – schließlich trägt er eines Propheten Namen – wartet er auf jenen Tag, an dem seine Muttersprache wieder frei sein wird. Je länger die Wiederkehr seiner Muttersprache sich verzögert, desto häufiger schnürt ihm die Sprache des garstigen Feldwebels, die auch von İsmail so geliebte Wörter wie „sevgi“ ((türk.: Liebe)), „dostluk“ ((türk.: Freundschaft)) und „barış“ beinhaltet, die Kehle zu. Jedes Mal, wenn er ansetzt, ein vom Feldwebel vermachtes Wort in den Mund zu nehmen, bekommt er keine Luft mehr.

In den Tagen, da İsmail es aufgegeben hatte, Türkisch zu sprechen, schafften wir es, uns mit ihm zu verständigen. Nebenbei machten wir die Erfahrung, dass Freundschaft nicht unbedingt einer gemeinsamen Sprache bedarf.

Neulich entsprang İsmails Lippen das Wort „barış“ und wir gewannen den Glauben wieder, dass es in unserem Land, dessen Erde neuerdings Leichname speit, trotz allem Platz für Liebe und Hoffnung gibt.

© Doğan Akhanlı
Übersetzung aus dem Türkischen: Hülya Engin

Aktuelle Informationen über Doğan Akhanlı, einschließlich einer Unterschriftenliste, finden sich auf:
www.das-kulturforum.de
www.freiheit-fuer-dogan-akhanli.de

2 Kommentare

  1. Danke Jim, für diesen ergänzenden und vertiefenden Hinweise. Sie verdeutlichen die außergewöhnliche Persönlichkeit dieses engagierten, außergewöhnlichen Menschenrechtlers und Menschenfreundes. Auch im türkischen Hochsicherheitsgefängnis, in welches ihn die Feinde der Freiheit des Wortes, des Kampfes gegen die Erinnerung an die Verbrechen geworfen haben, wirkt Dogan weiter. Mit den Mitteln, die einem Schriftsteller im Gefängnis noch bleiben. Hiermit ist und bleibt er ein Vorbild, ein Brückenbauer.
    Noch ein trauriger Nachtrag: Dogan Akhanlis Vater – dessen Erkrankung den Anlass für Dogans Reise in seine frühere Heimat bildete, 19 Jahre nach seiner Flucht aus der Türkei – ist soeben in der Türkei gestorben. Dogan Akhanli hat seinen Vater nicht mehr wiedersehen dürfen: Der „Stern“ berichtet soeben: „Der in der Türkei inhaftierte deutsche Autor Dogan Akhanli hat seinen Vater verloren. Akhanli habe von seinem Anwalt in der Untersuchungshaft vom Tod seines Vaters im Nordosten der Türkei erfahren, erklärte die Organisation Netzwerk Recherche am Dienstag in Köln. Der türkischstämmige Akhanli war im August bei der Einreise in die Türkei verhaftet worden; er hatte damals seinen Vater besuchen wollen. Der Haftbefehl gegen Akhanli habe ein Wiedersehen von Vater und Sohn verhindert, kritisierte Netzwerk Recherche.“
    Wir dürfen nicht nachlassen, uns für Dogans sofortige Freiheit und Rückkehr nach Köln einzusetzen!
    Lehit

  2. Pressestimmen:
     
    http://gerechtigkeit-fuer-dogan-akhanli.de/blog/wp-content/uploads/2010/11/Pressespiegel.pdf
     
    Ein Beispiel: Neue Zürcher Zeitung
    19. Oktober 2010
    Nr. 243 S. 46
     
    […] Verantwortlichkeit als Lebensprinzip
     
    Hier setzt der Schriftsteller in engagierte Projekte um, was in seiner Heimat totgeschwiegen wird: Er verfasst Arbeiten über den Völkermord an den Armeniern und den Holocaust oder veranstaltet türkischsprachige Führungen zum Holocaust im NS-Dokumentationszentrum. Seine Romane sind sowohl politisch wie auch persönlich. Sie handeln von Gewalt und der Geschichte der Gewalt, aber auch von alltäglichen Freuden oder Sehnsüchten. Ehrlich sein mit der Geschichte und an die Opfer erinnern: Dies verlangte er stets.

    So ist es letztlich nur konsequent, dass Akhanli nun selbst nicht will, dass das Verfahren gegen ihn wegen Mangel an Beweisen und aufgrund entlastender Zeugenaussagen eingestellt wird. Denn, so lässt er über seine Anwälte erklären: «Mord, ganz gleich, ob er aus politischen oder anderen Motiven begangen wurde, ist ein Verbrechen, das aufgeklärt und geahndet werden muss. Dies ist nicht nur eine Pflicht gegenüber den Getöteten, sondern auch eine menschliche und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Angehörigen der Opfer. Auch wenn die mir vorgeworfenen Straftaten verjährt sein sollten, will ich nicht, dass mit dieser Begründung das Verfahren gegen mich eingestellt wird. In diesem Land, in dem unaufgeklärte Morde nicht die Ausnahme, sondern den Normalfall darstellen, möchte ich gegen die Vorwürfe keinen Anspruch auf<Verjährung> ins Feld führen. Ich will, dass die Vorwürfe gegen mich aufgeklärt werden. Dann wird das Gericht mich schliesslich freisprechen müssen.»
    […]
    Necati Abay, Sprecher der inhaftierten Schriftsteller und Journalisten in Istanbul, erklärt, dass dies kein Einzelfall sei. Rund 40 ähnliche Fälle gebe es zurzeit. «Man weiss nie, was einen erwartet. Akhanli ist wie alle anderen ein Opfer der Justiz von 1980.» Obwohl dem Autor 1998 die türkische Staatsbürgerschaft entzogen wurde und die Istanbuler Staatsanwaltschaft im Jahre 2007 einen Haftbefehl erlassen hatte, warben anlässlich des Auftritts der Türkei als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2008 Broschüren des türkischen Kulturministeriums mit Dogan Akhanli und bezeichneten ihn als «einen von uns».
     
    Die Verhaftung wirft viele Fragen auf. Zu viele Ungereimtheiten. Zu undurchsichtig die Anklage. «Ich fühle mich wie bei Kafka.<Der Prozess>», erklärte Akhanli in einem Interview. …

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