Shlomo Sands „Erfindung des jüdischen Volkes“: Ein Erfolg für Israel

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Einige mögen überrascht sein, herauszufinden, dass es Sands Ziel ist, Israel als Demokratie mit jüdischem Charakter zu erhalten…

Carlo STRENGER

In der NYT steht seit einigen Tagen die Buchrezension von Shlomo Sands Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ , das vor kurzem auf Englisch veröffentlicht wurde, auf der Liste mit den „meist geemailten Artikeln“ – eine bemerkenswerte Leistung für eine Buchrezension. Wie der Rezensent bemerkt, wurde der Medienrummel um das Buch vor allem von Sands weniger kontroversen Behauptungen ausgelöst.

Das jüdisch öffentliche Bewusstsein wird weiter von der Idee beeinflusst, dass Juden einst von den Römern aus Israel vertrieben wurden – die Wahrheit aber ist, dass etwa 2 Millionen Juden bis zum Zusammenbruch des römischen Kaiserreiches weiter im Land lebten. Ein großer Teil der Juden des römischen Kaiserreiches wurden durch Konversion Juden. Also sind die meisten Juden heute kaum Nachkommen der Juden, die vor 2000 Jahren einst hier im Lande lebten. Aber – wie Sand mehrfach aufzeigt – nichts davon wird von Historikern in Frage gestellt.

Die zionistische Narration geht anscheinend von der Kontinuität der Juden aus, die vor 2000 Jahren im Lande lebten, und den modernen Juden – viel mehr als es tatsächlich der Fall ist. Aber Sand zeigt auf, wie alle modernen Staaten ihre Narrative geschaffen haben, die die kulturelle, linguistische und politische Hegemonie der vorherrschenden Gruppe legitimiert. In dieser Hinsicht sei Deutschland nicht anders als Italien oder Indonesien.

Sands Behauptung ist, dass es Israel nicht nötig habe, sich wegen einer Existenzberechtigung hinter Mythen zu verstecken. Und dies ist – meiner Meinung nach – das größte Verdienst dieses Buches. Dies sollte also eher als Erleichterung empfunden werden, denn als Angriff auf Israel.

Sands Buch ist kein rein historisches Werk. Tatsächlich hat es eine klare politische Tagesordnung. Von all dem Lärm und der Wut über das Buch könnte man annehmen, dass seine Agenda dahinaus läuft, alle Juden aus Israel zu vertreiben oder den jüdischen Staat auszulöschen. Es könnte für einige, die es nicht gelesen haben, eine Überraschung sein, dass es Sands Ziel ist, Israel als einen demokratischen Staat zu bewahren und zwar als jüdischen Staat, der sich auf einer jüdischen Mehrheit gründet.

Sand weist darauf hin, dass die modernen Demokratien in zwei Kategorien fallen, die im modernen Europa entstanden sind: östlich des Rhein war es das dominante Modell der Ethnokratien: Länder, die eine besondere Verbindung zu einer besonderen Ethnie haben. Westlich des Rheins herrscht das Modell rein liberaler Demokratien vor: für sie gilt die Herrschaft über die Gesamtheit seiner Bürger. Der klarste Fall dieses Modells ist natürlich die USA. Man könnte sich nicht vorstellen, dass die kaukasischen Eroberer Amerikas besondere historischen Beziehungen zu dem Land haben. Die US ist weiterhin ein Immigrantenland und jeder neue Bürger hat dasselbe Recht – ganz gleichgültig woher er kommt.

Sand behauptet, dass Israels gegenwärtige Probleme davon stammen, dass es eine Ethnokratie ist, die Juden besondere Privilegien gibt. Dies lässt die Frage aufkommen, ‚wer ist Jude’ und dies macht es für die große Minderheit der israelischen Araber sehr schwierig, die gleichen Rechte zu haben.

Sands Buch kam Anfang 2008 heraus, zu früh, um sich mit einer der schlimmsten Perversitäten des jetzigen Staates zu befassen: Bekanntlich erwartet Israels Außenminister Avigdor Lieberman von jedem Bürger Israels einen Treue-Eid für den jüdischen Staat. Die meisten Kommentatoren sahen dies als einen Versuch, Israels Araber zu delegitimieren – was sicherlich stimmt. Aber sie vergaßen, dass die meisten Stimmberechtigten aus dem früheren Sowjetblock vom Rabbinat gar nicht als Juden anerkannt werden. Seine Maßnahme sollte ihnen angeblich helfen, den Berechtigungsstempel anstelle jüdischer Abstammung oder einer orthodoxe Konversion zu erhalten.

Liebermans befremdlicher und totalitärer Vorschlag würde unnötig sein, wenn Israel eine rein liberale Demokratie wäre: sobald Immigranten ihre Staatsbürgerschaft bekommen, müssten sie sich nicht weiter über ihren Status und ihre Rechtmäßigkeit / Legitimität sorgen. Doch Ben Gurions historischer Kompromiss mit dem orthodoxen Establishment schuf eine einzigartige Anomalie in fortschrittlichen Demokratien, wie Sand herausstellt: In Israel bestimmt tatsächlich der Staat, wer wen und wie heiratet.

Einer der Gründe für dieses Manöver ist natürlich Hok Hashevut, das Rückkehrgesetz, das Juden von irgendwo erlaubt, automatisch die israelische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Sand spricht sich dafür aus, dass dieses Gesetz aufgehoben werden sollte. Wenn Israel in eine liberale Demokratie verwandelt wird, würde kein israelischer Bürger heute die Geschichte seiner ethnischen Herkunft oder Religion wichtig nehmen und würde selbst über sein Leben bestimmen. Berücksichtigt man Israels augenblickliche Demographie, so würde dies jüdische Vorherrschaft garantieren, ohne dass man Zuflucht zu undemokratischen Mitteln nehmen muss, wie die des Rabbinats, die ins private Leben eingreifen oder Liebermans Loyalitätseid. Sand ist auch der Meinung, dass Hok Hashevut [das israelische Rückkehrgesetz von 1950, AdÜ] abgeschafft werden muss, um zu verhindern, dass Palästinenser ihr Recht auf Rückkehr beanspruchen, weil ab jenem Augenblick dann keiner mehr ein automatisches Recht auf Staatsbürgerschaft habe.

Ich bin mit diesem Aspekt von Sands Schlussfolgerung nicht einverstanden: Ich denke, dass Hok Hashevut für die Palästinenser wenig Bedeutung hat, wenn es sich um die Akzeptanz oder die Ablehnung von Israels Existenz handelt. Ich denke auch, dass Sands Kritik an den Bemühungen juristischer Gelehrter wie Amnon Rubinstein, eine liberale Plattform auszuarbeiten, die Hok Hashevut schützt, meistens nicht überzeugen. Er erwähnt auch nicht Ruth Gavisons bedeutendes Werk in diesem Kontext.

Dieses Gesetz ist eines von Israels Raison d’etre und sollte aufrecht erhalten werden, selbst wenn einige seiner Sonderheiten neu bearbeitet werden müssen, um sicher zu gehen, dass sie nicht für politische und andere Gründe missbraucht werden.

Abgesehen von Meinungsverschiedenheiten denke ich, dass Shlomo Sands Fragen, wie Israels Demokratie liberalisiert und stabilisiert werden kann, zum Nachdenken anregen und ernsthafte Diskussion verdienen. Aber vor allem: der Erfolg des Buches ist ein Erfolg für Israel (es stand 19 Wochen lang auf der Bestsellerliste.). Die Tatsache, dass sehr grundlegende Fragen über Israels Gründung scharf diskutiert werden können, zeigt, dass Israel eine lebendige, zu Zeiten auch fehlerhafte Demokratie ist. Es wird allen Versuchen von Politikern wie Lieberman widerstehen, der seinen Bürgern vorschreiben will, was sie zu denken oder zu fühlen haben.

Quelle: Haaretz-Shlomo Sand’s ‚The Invention of the Jewish People‘ is a success for Israel, 27.11.2009

Carlo Strenger ist Professor der Psychologie an der Tel Aviver Universität und Mitglied des „Permanent Monitoring Panel on Terrorism of the World Federation of Scientists”. Übersetzt von Ellen Rohlfs, Mitarbeiterin von Tlaxcala, dem internationalen Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt.Grözinger über Sand:
Geschichtsschreibung als politischer Kampf

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5 Kommentare

  1. Das gleiche, muss ich nachschicken, gilt für uns Deutsche, vor dem Hintergrund der unsäglichen Diskussionen die Sarrazin ausgelöst hat. Die Türken sind seit Generationen in Deutschland und gehören auch zu uns. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen, ganz gleich ob es einem gefällt.

    Es mag sein, dass die Liason in mancher ein Hinsicht ein Fehlstart war, weil viele Deutsche dachten, sie wären nur vorübergehend da und vielleicht dachten das viele Türken anfänglich auch.

    Es mag sein, dass da manches im Argen liegt, keine Frage, aber die Verhältnisse lassen sich nur verbessern auf einem Grundkonsens, dass türkisch-Deutsche genauso berechtigt sind wie deutsch-Deutsche, alles andere ist doch ideologisch verbrähmte Selbstüberhebung, die letztendlich einer egoistischen Grundhaltung entspringt und letztendlich nur zur Verhärtung der Probleme beiträgt, die sie anprangert.

    Wahrscheinlich waren sich viele Juden, einmal angekommen in Israel auch nicht so richtig klar darüber, dass es in einer mehrheitlich muslimischen Umwelt notwendig ist, dieser eben auch offen zu begegnen; wahrscheinlich war das in der Mitte des letzten Jahrhunderts so auch wirklich nur schwer möglich, denn natürlich war die massenhafte jüdische Immigration und die Gründung des Staates Israel für die Muslime ein massiver Übergriff.

    Aber inzwichen, schon seit längerer Zeit, wäre alles gegeben gewesen, um einen anderen besseren Weg einzuschlagen. Shlomo Sand trägt mit seinen Thesen eine Bresche gegen den nationalistischen Chauvninismus, der zu einem guten Teil ideologisches Konstrukt ist und an dessen Grundüberzeugungen er kräftig rüttelt.

    Sehr sympathisch.
     
     

  2. In einem Interview sagte Shlomo Sand einen Satz den ich großartig fand und inhaltlich ungefähr folgendermaßen lautete: ‚Ich bin Israelis und lebe in Israel und will mit meinen arabischen Mitbürgern und Nachbarn zusammen leben – wer das nicht will, der soll doch nach Paris oder New York gehen‘
    Auf die Idee muss erst mal einer kommen – Recht hat er.
     

  3. So weit ich den Pentateuch kenne und lese, wollte Gott kein Königtum, das war der Wunsch des Volkes, das sich nicht von den anderen Völkern um sich unterscheiden wollte. Aber eigentlich war das Volk Israel direkt Gott unterstellt, von dem man sich kein Bildnis machen sollte. Eine Theokratie, die aber eigentlich in eine Demokratie mündet, weil es eben keine Könige geben soll. Wir sind alle gleich vor Gott.
    Lieben Gruß
    Eine Schweizerin

  4. Da kann ich nur rufen ein dreimaliges Hoch auf die Demokratie.
    Die Religion gehört streng separiert vom Staat und leider hat Ben Gurion, als das noch
    möglich war, dies versäumt.
    Heute muss der Staat durchsetzen, dass an Schulen die von Israel finanziell unterstützt werden, auch Englisch und Mathematik unterrichtet wird. Wogegen sich manche jüdische Fanatiker wehren, denn sie möchten ihre Schüler abhängig sehen, die von der Sozialunterstützung auf Kosten der Steuerzahler leben.
    Und das obwohl der Talmud etwas anderes empfiehlt.

     

  5. Wie ein Prophet des alten Testamentes sagte, wird Gott seine Leute sammeln um gegen das alte Griechenland, gemeint ist hier die Demokratie, zu kämpfen und sie zu vernichten. Es geht dabei nicht um Mythen, sondern um jüdische Prophezeiung. Demokratie steht im krassen Gegensatz zum Königtum von David und Salomon.
    Israel hat ein Existenzrecht, sogar alleinigen Anspruch auf die Städte Hebron und Jerusalem, den Ölberg und den Berg Zion. Das Existenzrecht ist keine Demokratie, sondern eine Monarchie mit dem Messias aus dem Stamme Judah als König.
    Eine sekuläre demokratische Wertegemeinschaft, die sich selbst so sehr mag, aber Gott leider wenig oder garnicht, steuert dem Ende entgegen. Kein Politiker dieser Erde wird Frieden herstellen auf der Welt, weil alle zu sehr wirtschaftlich miteinander verbunden sind. Der Messias aber ist frei von diesen Zwängen.
    Nur die religiöse Wahrheit und Wahrhaftigkeit wird Weltfrieden bringen. Diese religiöse Wahrheit allein ist das Existenzrecht Israel’s und die Reputation für alle Juden, deren Vorfahren seit mehr als 2000 Jahren Drangsal jeglicher Art erfahren haben.
    Demokratie ist für nichts nutze, das Königtum von Judah und Israel stand für Recht und Gerechtigkeit, und genau da müssen wir wieder hin.

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