Tod eines Muslims

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Ein Nachruf auf Professor Nasr Hamid Abu Zaid…

Von Reuven Firestone
Der Nachruf wurde am 9. Juli 2010 auf der amerikanisch-jüdischen Internetplattform „JewishJournal“ veröffentlicht.

Ein strahlendes Licht kritischer Gelehrsamkeit des Islam ist vor ungefähr drei Wochen in Kairo verloschen, als Professor Nasr Hamid Abu Zaid am 5. Juli verstarb. Gerade erst in diesem Frühjahr sah ich ihn auf der internationalen Konferenz „The Qur’ān in its Historical Context“, die an der University of Notre Dame [d.i. eine katholische, 1844 im amerikanischen Bundesstaat Indiana gegründete Universität – Anm. d. Übers.] stattfand. Dort hielt er gemeinsam mit Professor Abdolkarim Soroush, dem großen iranischen Philosophen und Intellektuellen unserer Zeit, eine der geistig unerbittlichsten und emotional bewegendsten Eröffnungsvorträge, die ich jemals auf einer wissenschaftlichen Tagung erlebt habe. Diese beiden Muslime repräsentieren den Zenit intellektueller und ethischer Ausdrucksstärke unter all den verschieden religiösen Menschen, die ich kenne.

Abu Zaid ist vor allem deshalb sehr bekannt, weil er Mitte der 1990er Jahre vor ein Kairener Zivilgericht gestellt und wegen Apostasie verurteilt worden war. Anschließend sollte er von dem Gericht gezwungen werden, sich von seiner geliebten Frau scheiden zu lassen, bevor er aus Ägypten in den Westen flüchten würde. Er war selbstverständlich kein Apostat sondern ein wahrhaft gläubiger Mensch, der das geistige und spirituelle Leben des klassisch-islamischen ālim (Plural: ulamā’), des archetypischen muslimischen Gelehrten, verkörperte. Ein solcher ālim kombiniert seine Expertise in Jurisprudenz mit Philosophie, Rhetorik, Theologie und Qur’ān-Hermeneutik. Wie Avicenna (Ibn Sīnā) und Averroes (Ibn Ruschd) sowie deren Zeitgenossen Maimonides (Moshe ben Maimon), der Jude, und Thomas von Aquin (Thomas Aquinas), der Christ, bestand Abu Zaid darauf, kritisches Denken einerseits auf die Theologie und andererseits sogar auf dasjenige Gebiet anzuwenden, auf dem sich gläubige Menschen schwer tun, es in diesem Licht zu sehen: die göttliche Offenbarung.

Dies hatte Konsequenzen, die er ertragen musste, aber nicht, weil er ein Muslim war oder weil der Islam keine Selbstkritik billigen könnte. Tatsache ist, dass er ganz und gar ein Produkt der heutigen muslimischen Welt war. Er hatte seine akademischen Grade des B.A., M.A. und seinen Doktortitel in Arabistik und Islamischen Wissenschaften an der Cairo University erhalten, und eben nicht an der Sorbonne, in Oxford oder Princeton. Aufgewachsen in seinem Heimatland Ägypten hatte er dort auch sein ganzes Leben bis zu der erzwungenen Exilierung 1995 verbracht.

Hätte er in einer anderen Epoche in der muslimischen Welt gelebt, wäre auch sein Leben anders verlaufen. Während die Kirche ihre Resourcen in blutigen Kreuzzügen gegen häretische Bewegungen wie die Katharer (Albigenser) verschwendete, brachte die muslimische Welt solch herausragende Gelehrte wie den berühmten Sufi-Theologen und Dichter Dschalāl al-Dīn al-Rūmī, den größten Botaniker und Pharmazeuten des Mittelalters Abdallah Ibn al-Baitar und den Arzt Ibn al-Nafīs hervor, der die Funktion der Kranzarterien entdeckte und in dessen Krankenhaus in Kairo sowohl christliche und jüdische als auch muslimische Ärzte ausgebildet wurden.

Prof. Abu Zaid verfasste mehr als ein Dutzend Bücher und über zwei Dutzend Artikel. Man bat ihn regelmäßig darum, die Werke der renommiertesten westlichen Gelehrten zu Themen des Islam und muslimischer Geschichte zu rezensieren. Dazu zählten u.a. William A. Graham an der Harvard Divinity School und Michael Lecker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Abu Zaid war kühn im Denken, jedoch bescheiden in seiner Lebensführung.

Leider durchläuft ein Großteil der muslimischen Welt zurzeit eine Phase, in welcher Gelehrsamkeit und Kreativität wie die von Abu Zaid durch autoritäre Regierungen unterdrückt werden. Diese Regierungen haben zudem seltsame Partner für eine Liaison der Besessenheit gefunden, um um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Eine starke Bedrohung stellten für Despoten schon immer diejenigen wahrhaften Gelehrten und kreativen Denker dar, welche gewillt sind herauszuschreien, dass der Kaiser keine Kleider anhat. Dieser Schrei wird nicht nur durch die Politik hörbar, sondern auch mittels der Gelehrsamkeit und der Künste.

Der Tod Abu Zaids ist ein Verlust für uns, wir sind dadurch ärmer geworden. Aber seine Inspiration hat uns auch bereichert. Die Zahl muslimischer Gelehrter, die den Islam, einschließlich des Qur’ān, kritisieren, hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Mehr als ein Dutzend Muslime hielten auf der Notre-Dame-Konferenz im Frühjahr Vorträge und inzwischen nimmt eine größere Zahl von Muslimen als noch vor einem Jahrzehnt an akademischen Konferenzen über den Islam in den USA, in Europa, Südostasien und im Nahen Osten teil oder organisiert sie. Im aktuellen politischen Klima der muslimischen Welt wird es für muslimische Gelehrte, wie Nasr Hamid Abu Zaid einer war, zunehmend schwieriger, sich Gehör zu verschaffen. Anstatt uns dauernd zu beklagen, dass solche Gelehrte nicht existieren würden, sollten wir eher die wachsende Gemeinschaft wahrhaft gläubiger Muslime unterstützen, jene, die darum kämpfen, ihre wichtige Arbeit der Kritik weiterführen zu können.

Reuven Firestone ist Professor für Judentum und Islam des Mittelalters am Hebrew Union College-Jewish Institute of Religion in Los Angeles und Ko-Direktor des Center for Muslim-Jewish Engagement (CMJE) an der University of Southern Carolina (www.usc.edu/cmje). 2008 hatte er als Gastprofessor am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam die Lehrveranstaltung „An Introduction to Islam for Jews“ („Eine Einführung in den Islam für Juden“) gegeben.

Übersetzung: MP