Lag Beomer

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Der vorliegende historische Text erläutert Lag baOmer, die Gebräuche und den Hintergrund des 33. Tags der Omerzählung. Autor dieses 1906 in der Zeitschrift „Ost und West“ erschienenen Beitrags ist der Philosoph und Pädagoge Arthur Biram. Biram wurde 1878 in Bischofswerda geboren. Er studierte in Berlin und Leipzig, wo er 1902 promovierte. 1904 schloss er das Rabbiner-Seminar an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ab. 1913 emigrierte er nach Palästina, wo er unter anderem die Hebräische Realschule Haifa leitete. Biram erhilt 1954 den Israel Preis für Erziehung. Er starb 1967 in Haifa…

Von Arthur Biram
Ost und West, Mai 1906

Wir alle wissen, dass die ganze Sephirazeit, d. h. die Zeit der Omerzählung zwischen Pesach und Schewuot als Trauerzeit betrachtet wird. Wir wissen auch, dass in dieser Zeit weder Hochzeiten noch andere Feste gefeiert werden, Haar und Bart nicht geschoren werden dürfen, kurz, dass alle üblichen Zeichen jüdisch-ritueller Trauer beachtet werden.

Ein Tag unterbricht diese Trauer, das ist der 33. Tag: der Omerzählung, der daher der Lagbeomer, d. h. der 33. im Omer genannt wird. Für diesen Tag ist die Trauer mit allen ihren Beschränkungen aufgehoben. Fragt man, welches denn der Grund dieser Trauer sei, so hört man die mannigfachsten Antworten, so recht weiss eigentlich keiner Bescheid.

Für die Unterbrechung durch den 33. Tag, den Lagbeomer, wird gewöhnlich als Ursache genannt, dass an diesem Tage das grosse Sterben unter den Schülern R. Akibas, das auch als eine Veranlassung der Trauerzeit gilt, aufgehört habe. Dass das für uns keine ausreichende Begründung sein kann, versteht sich von selbst, und wird sich noch mehr ergeben, wenn wir erst sehen werden, wie mangelhaft selbst diese legendenhafte Erklärung beglaubigt ist. Es dürfte sich also verlohnen, einmal genauer zu untersuchen — es ist schon mehrfach versucht worden —, woher denn in Wirklichkeit dieser Festtag am 33. Omertag kommt. Wir werden allerdings, um nur halbwegs uns informieren zu können, dabei tief in die gesamte Gesetzgebung über die Sephirazeit hinabsteigen müssen. Denn schon hier haben wir, abgesehen von der Motivierung der Trauerzeit überhaupt, weitgehende Differenzen. Von ihnen ausgehend werden wir unsere Frage lösen können.

Hören wir einmal was der Schulchan aruch, den wir ja als Hauptquelle unseres Ritualrechts zuerst befragen müssen, über den Lagbeomer bestimmt. Im Teile Orach chajjim heisst es in Kapitel 493:

1. „Es ist Sitte, zwischen Pesach und Schewuot bis Lagbeomer nicht zu heiraten, da in dieser Zeit die Schüler R. Akibas starben.“ Hierzu fügt der für uns vor allem massgebende Glossator des Schulchan aruch, Moses Isserles (Rema) in einer Glosse: „Aber von Lagbeomer an ist es erlaubt.“

2. „Es ist Sitte, den Bart bis Lagbeomer nicht zu scheeren, denn man sagt, dass am 33. Tage das Sterben aufgehört hat, aber man darf sich erst am 34. Tage den Bart scheeren lassen.“
Moses Isserles: „In unseren Gegenden verfährt man nicht nach seinen Worten, sondern man lässt sich am 33. Tage den Bart abscheeren, und veranstaltet an diesem Tage ein Gastmahl.“

3. ….. Moses Isserles: „In vielen Gegenden ist es Sitte, bis zum 1. Ijjar zu heiraten und sich den Bart zu scheeren, dann aber nach Lagbeomer es nicht zu tun.“

Werden wir uns des Sachverhaltes bewusst. Wir sehen deutlich noch im 16. Jahrh. — Moses Isserles lebte in Polen um 1550, ist lange Jahre Mitglied des Krakauer Rabbinats — zwei verschiedene Riten, von denen wir zuerst in der Mitte des 13. Jahrhunderts hören.

Die eine Anschauung, die besonders von älteren Autoren vertreten wird, beginnt die Trauerzeit mit dem 2. Tage der Omerzählung, d. i mit dem 2 Tage Pesach und endet sie mit dem Lagbeomer, dem 33. Tage der Omerzählung, weil an diesem Tage die unter den Schülern R. Akibas wütende Krankheit ihr Ende gefunden habe. Nach diesem Ritus gibt es, wie es auch im 2. Abschnitt des Schulchan aruch ausdrücklich heisst, den Festtag des Lagbeomer überhaupt nicht, und nur unter dem Einfluss des anderen Ritus wurde der 33. Tag der Omerzählung auch hier dazu gemacht, wie uns die Glosse des Moses Isserles zu Absatz 3 berichtet. Und was sollte der Lagbeomer hier wohl auch für einen Sinn haben? Alles folgende ist ja auch trauerlose Zeit und der 33. Tag gehört ja noch zur Trauerzeit. Das wollen wir uns also gut merken, dass wir unter sephardischen Juden — denn Josef Karo, der 1575 in Palästina starb, war ja aus ihnen hervorgegangen und lebte unter ihnen — im 16. Jahrhundert mit einer Feier des Lagbeomer überhaupt nicht zu rechnen ist.

Für den 2. Ritus, über den Moses Isserles im Absatz 3 „für viele Gegenden“ — nach seiner Herkunft zu schliessen, also für Polen und Deutschland — berichtet, reicht die Trauerzeit vom 1. Ijjar bis Schewuot. Warum lässt man aber hier einerseits, mit der Begründung, dass da die Pest aufgehört habe, die Trauerzeit durch den Lagbeomer unterbrochen werden, und sie doch andrerseits bis Schewuot dauern? Und legte man überhaupt die talmudische Erzählung von der zwischen Pesach und Schewuot unter den Schülern R. Akibas herrschenden Pest zu Grunde, warum begann man die Trauerzeit erst mit dem 1. Ijjar? Auf diese Frage werden wir zurückkommen müssen.

Ein 3. Ritus, den der unter dem Namen seines Werkes Ture sohow bekannte Kommentator des Schulchan aruch, David ha-Levi (um 1650) zu der angegebenen Stelle des Schulchan aruch mitteilt, verlangt, dass man in der ganzen Zeit zwischen Pesach und Schewuot nur am Lagbeomer, weder vorher, noch nachher, heirate, und zwar setze man die Trauerzeit auch nach dem 33. Tag des Omer, nach dem ja keiner von den Schülern R. Akibas mehr gestorben sei, fort als Erinnerung an die grossen Verfolgungen Deutschlands zur Zeit des ersten Kreuzzuges, 1096, die ja gerade in der Zeit von Pesach bis Schewuot die stolzesten rheinischen Gemeinden vernichteten.

Charakteristischerweise erklärt aber David ha-Levi, dass diese Trauer nach dem 33. Omertag eine leichtere sei, denn man habe wegen der Verfolgung von 1096 nur die übermässige Hochzeitsfreude verboten, wählend vor Lagbeomer wegen des Todes der Schüler R. Akibas aller Welt schwere Trauer auferlegt sei.

Drei Riten für die Trauerzeit bestehen also: 1.) von Pesach bis Lg״beomer, 2.) vom 1. Ijjar bis Schewuot, 3.) von Pesach bis Schewuot.

Der erste sowohl wie der dritte gehen bestimmt, vielleicht aber auch der zweite, von der Tradition über das allgemeine Sterben der Schüler R. Akibas aus, und auch schon die älteste Nachricht über die Trauerzeit zwischen Pesach und Schewuot aus dem Anfang des 8. oder der Mitte des 9. Jahrhunderts, ein Responsum eines Gaon Natronaj, gibt als Begründung für den Brauch die talmudische Erzählung von R. Akibas Schülern an. Im babylonischen Talmud (Traktat Jebamot f. 62 b) wird nämlich erzählt: R. Akiba hatte 12000 Paar Schüler (man lernt paarweis zusammen, daher der Aus¬druck), deren Wohnsitze sich von Gobat bis Antiparis erstreckten, und weil sie sich gegenseitig nicht ehrerbietig begegneten, sind sie alle in einer Zeit gestorben. Und sie alle starben, fährt der Talmud fort, von Pesach bis Schewuot. Ein ähnlicher Bericht findet sich im Midrasch Bereschit rabba Abschnitt 61 zum Wochenabschnitt Chajje sara, nur dass da nicht 12000 Paare, sondern 1000 Schüler genannt werden, während der Midrasch Tonchuma ebendort (zu Gen. 25, 1) sogar nur vom Tode von 300 Schülern R. Akibas berichtet. Diese Nachricht wird seit Rappoport auf die Anhänger R. Akibas bezogen, die im Barkochbakrieg ums Leben kamen. So wäre also die Sephirazeit der traurigen Erinnerung an den unglücklichen Ausgang des Barkochbakrieges gewidmet.

Man darf dabei daran erinnern, dass nach der Mischna (Sota IX) zum Andenken an die Opfer des Barkochbakampfes bestimmt wurde, dass die Bräute nicht mehr wie bisher in Prachtsänften in das Haus des Gatten getragen werden durften. Das Verbot der Hochzeit während der Omerzeit ward aber auch anders motiviert, z. B. damit, dass man sich zum Omer, gleichwie zum Opfer einer von ihrem Mann des Ehebruchs verdächtigten Frau der Gerste bediente. Darin sah man wohl eine schlechte Vorbedeutung für die eheliche Treue der heimzuführenden Gattin. Oder es wurde das Heiratsverbot in der Sephira auch mit dem Ausspruch des Jochanan b. Nuri (Mischna Edujot II, 10) begründet, dass gerade in dieser Zeit die dahingeschiedenen Frevler die Höllenstrafe erleiden. In einer späteren Quelle wird wohl auch vorgebracht, dass um diese Zeit über die Feldfrüchte Gericht gehalten wird.

Doch wir haben es ja nicht mit der Motivierung der Trauerzeit während der Omerzählung, sondern mit der Unterbrechung derselben, dem Lagbeomer, zu tun. Nun hörten wir aber schon, er sei darum als Festtag eingesetzt, weil an ihm das Sterben der Schüler R. Akibas aufgehört habe. Wir haben den talmudischen Bericht über dieses Ereignis gelesen, aber wir fanden dort von einem solchen Termin nichts erwähnt, im Gegenteil, es hiess, von Pesach bis Schewuot seien Schüler R. Akibas gestorben. Dieser Termin wird vielmehr auf ganz künstliche Weise gewonnen, In einem alten Manuskript habe man statt „von Pesach bis Schewuot“ gelesen: „von Pesach bis Perus des Schewuot“. Man dachte nun an die Mischna Schekalim III, wo Perus ha-Pesach einen halben Monat vor Pesach, Perus ha-azeret einen halben Monat vor Schewuot bezeichnet und kam so auch hier zum 16. Tage vor Schewuot, das ist eben der 33. Tag des Omer, der also das Ende der unter den Schülern R. Akibas wütenden Krankheit sei. Diese Erklärung wird zwar von mehreren Autoritäten berichtet, aber ihre Künstlichkeit leuchtet ein. Man wollte die Trauerzeit auf 33 Tage beschränken, während man, von der Schülererzählung R. Akibas ausgehend, zu einer Trauerzeit von 49 Tagen, das sind die Tage zwischen Pesach und Schewuot, gekommen wäre. Für uns ist aus der ganzen Lösung vor allem wertvoll, dass mit einer Trauerzeit von 33 Tagen gerechnet wird.

Mit einer Trauerzeit von 33 Tagen rechnet aber auch eine andere Erklärung, die daraus ebenso eine Erklärung für den Lagbeomer gewinnen will. Im Namen sonst unbekannter Tosaphot wird nämlich mehrfach gelehrt, die Pest habe, obwohl sie in der ganzen Zeit zwischen Pesach und Schewuot wütete, doch nur 33 Tage gedauert, denn sie habe an den 7 Tagen Pesach, an den 7 Sabbathen, an den Tagen Rausch ha-chaudesch keine Opfer gefordert. Es bleiben also nur 33 Tage übrig, und als ein Zeichen für die 33 Tage der Pest sei der 33. Tag der Omerzählung ausgezeichnet und der Trauer entkleidet worden, über das künstliche auch dieser Erklärung brauchen wir nicht zu sprechen, für uns ist es auch hier wiederum vor allem wichtig, die 33tägige Dauer der Trauer festzustellen.

Aber auch bei dem noch übrig bleibenden 3. Ritus, der, wie wir uns erinnern, eine Trauerzeit vom 1. Ijjar bis Schewuot annahm, haben wir, wenn wir den Lagbeomer ausnehmen, der ja eben kein Trauertag ist, eine Frist von 33 Tagen der Trauer.

Diese Frist von 33 Tagen ist also allgemeine Annahme. Auch nach dem strengsten Ritus, der die ganze Zeit von Pesach bis Schewuot umfasst, haben wir stets nur 33 Tage der Trauer.

Warum hat man nun aber den 33. Tag als Freudentag aus der Trauerzeit herausgehoben?

Dérenbourg (Revue des études juives XIX), von dem 2. Ritus, der mit dem 1. Ijjar die Trauerzeit beginnt, ausgehend, hat angenommen, dass der Lagbeomer einfach aus dem Bedürfnis erwachsen sei, die lange Trauerzeit durch einen Tag zu unterbrechen. Man habe nun die 34 Tage vom 1. Ijjar bis 5. Siwan geteilt und so zweimal 17 Tage bekommen; man konnte nun den 17. oder den 18. Tag als Feiertag annehmen; man entschied sich für den 18. Tag und setzte so den 18. Ijjar gleich 33. Omertag als Feiertag ein. Diese Unterbrechung der Trauerzeit habe an dem mi-ca-rême der katholischen Kirche ein treffliches Gegenbild.

Landsberger (Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, Band III, 81 ff.) hat den Versuch gemacht, die Trauerzeit während der Sephira auf römischen Einfluss zurückzuführen. Bei den Römern, so führt er aus, (S. 85 ff.) herrschte nämlich seit uralten Zeiten die Sitte, im Mai nicht zu heiraten, weil in diesem Monat die Geister der Verstorbenen durch besondre Ceremonien gesühnt, die sogenannte Lemurien gefeiert wurden. Dieser Gebrauch war in Frankreich noch im 17. Jahrhundert und in Schottland sogar noch im 18 Jahrhundert verbreitet. „Sollten — so heisst es S. 89 — die Sklaven oder Freigelassenen im Lande der Besieger der Landessitte zum Trotz im Mai Ehen geschlossen haben?“ Auf jüdische Verhältnisse übertragen, musste man nun natürlich für den Mai den entsprechenden Ijjar nehmen, und auf diesen Monat übertrug man dann, indem man die Schülererzählung des Talmud als jüdisch-geschichtlichen Hintergrund für das aus römischer Sitte entlehnte Heiratsverbot nahm, die talmudische Angabe zwischen Pesach und Schewuot. Obwohl es sich immer nur um das Verbot im Ijjar zu heiraten handelte, sagte man also nicht: „Es ist Sitte im Monat Ijjar, nicht zu heiraten,“ sondern: „Es ist Sitte, zwischen Pesach und Schewuot nicht zu heiraten.“ Der Lagbeomer ferner sei nicht als der 33. im Omer ausgenommen worden, sondern als der 18. Ijjar. Dem 18. Monatstag aber wurde nur deshalb die Ausnahmestellung angewiesen, weil die Zahl 18 im Hebräischen durch chaj ausgedrückt wird. Da nämlich chaj das Leben bedeutet, so glaubte man in diesem Tage ein Präservativmittel gegen den Tod gefunden zu haben. Schreiben ja die Juden der Zahl chaj noch heutzutage die gleiche Kraft zu, wie dies schon die Spenden bei Gebeten für Kranke und dergleichen Gelegenheiten genugsam beweisen. Und zwar könne dieser Gebrauch schon vor der Luriaschen Kabbala, die im 16. Jahrhundert beginnend, solche Spielereien besonders begünstigt habe, in der gaonäischen Mystik sich befunden haben. Wenn man dies aber nicht annehmen wolle, so könne man wohl glauben, dass schon der Gleichklang mit chaj für dieses Herausheben des durch chaj bezeichneten 18. Ijjar entschieden habe.

Diese Anschauung ist im einzelnen durchaus anfechtbar, sie ist auch so ausführlich nur zitiert, um zu zeigen, zu welchen Künstlichkeiten man greifen musste, um irgendwie den Lagbeomer erklären zu können. Sie fällt aber schon dadurch, dass die Identifizierung des Ijjar als Trauermonat sich nicht durchführen lässt. Denn nach dem älteren und weiter verbreiteten Ritus hört ja die Trauerzeit mit dem 18. Ijjar überhaupt auf.

Mir scheint, es muss für die Erklärung des Lagbeomer vor allem auf die 33tägige Dauer der Trauerzeit geachtet werden. Dass in der Zeit zwischen Pesach und Schewuot eine Trauerzeit von 33 Tagen statthabe, war anerkannte Tradition. Diese 33 Tage hat man nun entweder vom Anfang der Sephira, der Omerzeit, vorwärts oder vom Ende derselben aus rückwärts gerechnet, begann sie also entweder mit dem 2. Tage Pesach, dem ersten Tage der Sephira und endigte sie — erst später mit besonderer Feier — am 33. Tage des Omer, oder man begann sie, um sie fester zu datieren, nicht mit dem zweiten, sondern mit dem ersten Ijjar. Dann hatte man aber hier 34 Trauertage, ein Tag musste also entfernt und zum Freudentage gemacht werden.

Warum wählte man nun als solchen den 33. Tag des Omer, den 18. dieser Trauerzeit? Unter dem Einfluss des anderen Ritus kann es nicht geschehen sein; denn wir sahen schon früher die umgekehrte Einwirkung statthaben. Vielmehr wirkte, wie die Tosaphot schon richtig empfunden haben, die Zahl 33 hier weiter, wozu dann vielleicht auch der Umstand kam, auf den Dérenbourg ja hingewiesen hat, dass dieser Tag gerade die Mitte der Trauerzeit bildete. Solche Einwirkung anzunehmen, hat nichts Gezwungenes an sich. So hat man z. B. — das zeigt, wie viel weiter solche Einwirkung noch gehen kann — dem Moses Isserles, dem schon oben erwähnten Glossator des Schulchan aruch, gegen das ausdrückliche Zeugnis der Geschichte 33 Lebensjahre und 33 Werke zugedichtet nur aus dem Grunde, weil er am Lagbeomer, dem 33. Omertag, gestorben ist.

Doch, warum sollten wir denn überhaupt eine solche mühsame Lösung der Lagbeomerfrage suchen? Wir haben ja eine sehr einfache Antwort auf die Frage noch immer ganz übersehen. Die Kabbalisten nämlich, die Träger der jüdischen Geheimlehre, wissen ganz genau, was sich an diesem Tage ereignet hat und warum der Lagbeomer ein Festtag sei. Nach ihnen ist es der Hochzeitstag des R. Simon b. Jochaj, des alten Tanaiten, der wegen seiner freimütigen Aeusserung über die römische Herrschaft flüchten und sich mit seinem Sohne 3 Jahre lang bis zum Tode des Kaisers Verus 169 in einer Höhle bergen musste. Schon in der alten Sage werden von ihm Wunderdinge erzählt. Durch ein Wunder soll er in der Höhle gespeist worden sein, durch keinen geringeren als den Propheten Elia soll ihm die Rettung gebracht worden sein, durch ein Wunder soll er Tiberias für rein erklärt haben. Das liess ihn den späteren Kabbalisten ganz besonders geeignet erscheinen, ihn zum Begründer des Kabbala zu machen. In der Höhle, in der er solange gelebt hat, soll er das Grundbuch der Kabbala, den Sohar, der in Wirklichkeit dem 13. Jahrhundert und Spanien entstammt, verfasst haben. Hillulo de Rabbi Schimon b Jochaj, der Hochzeitstag R. Simon b. Jochajs ist nun der grosse Sinn der Lagbeomerfreude. Ob schon der Sohar von dieser Deutung Kenntnis hat, ist nicht sicher, gefeiert wurde der Tag in diesem Sinne erst im 16. Jahrh., als die Kabbala durch Isaak Luria in Palästina neue Wurzeln schlug und man in der Höhle von Safed das Grab R. Simon b. Jochajs gefunden zu haben glaubte. Und in dem bekannten kleinen Sammelwerk über die hauptsächlichsten, noch gültigen Ritualien, dem Chajj odom heisst es geradezu schon: Am Lagbeomer erlaube man darum zu heiraten, weil es der Hochzeitstag R Simon b. Jochajs ist.

Wie verbreitet schon im 17. Jahrhundert diese Anschauung ist, ergibt sich auch aus der seit dem Anfang dieses Jahrhunderts oft kolportierten Geschichte: Ein Gelehrter habe auch am Lagbeomer, wie er es alle Tage zu tun pflegte, die Bitte um die Tröstung Jerusalems in die Tephilla eingeschaltet, da habe ihm R. Simon h. Jochaj durch Isaak Luria verkünden lassen: weil er am Tage, da er R. Simon b. Jochaj in Freude ehren sollte, wie an einem Trauertage um Tröstung gebeten habe, werde er sie bald nötig haben. Bald darauf starb in der Tat des Gelehrten Sohn.

Und diese Auffassung des Lagbeomer ist auch aus dem Volksleben nie geschwunden. Noch heute ist überall da, wo kabbalistische Gedankenkreise noch Ein- oder Nachwirkung üben, der Lagbeomer der Ehrentag R. Simon b. Jochajs. In Palästina aber ist diese Deutung die Veranlassung zu einem seltsamen, lauten, stürmischen Volksfest geworden. Im Luach des Achiassaf vom Jahre 5664 (S. 381 —403) hat J. Goldfarb in einer farbenprächtigen, lebendigen Skizze dieses Fest geschildert. Da die ausgezeichnet geschriebene Skizze den meisten Lesern wohl unzugänglich ist, will ich einiges aus ihr hier mitteilen.

Am Lagbeomer strömt von Safed und von Tiberias, aber auch von grösserer Entfernung, von Jerusalem, von Jaffa, von Damaskus und von Aleppo alles Volk, Gross und Klein, Sephardim und Aschkenazim, jemenitische und bucharische Juden nach dem Safed benachbarten Merom. Alle Wege sind voll, mühsam nur können sich Fussgänger und Reiter fortbewegen, Merom ist ja der heilige Ort, wo R. Simon b. Jochaj und sein Sohn Elieser, R. Jizchak Nappacha und R. Jochanan ha-Sandelar, die Anhänger Hillels und Schammajs, begraben liegen. In einem offenen Hofe, in dem sich nur von einer Oellampe beleuchtet, das Grab R. Simon b. Jochajs befindet, drängen sich Tausende und Abertausende von Männern und Frauen, von Greisen und Kindern, die zum Feste des grossen Tanna herbeigeeilt sind. Alle sind sie voll heiliger Begeisterung, sie schwingen ihre Hände, stampfen mit aller Kraft mit den Füssen. Sie tanzen und springen, in Haufen zusammengedrängt und in kranzförmige Ketten aufgelöst. Da singt ein Haufe, in dem sich die sonst so feindlichen sephardischen und polnischen Juden durcheinanderdrängen—, auch bucharische, persische und grusinische Juden aus dem Kaukasus mischen sich darunter, — allesamt singen, untergefasst im Halbkreis tanzend, das bekannte Lied von R. Simon b. Jochaj, das an jedem Feiertag an seinem Grabe gesungen wird:

Bar Jochaj, Bar Jochaj,
Gesalbt bist du, — heil dir —
Mit wonnevollem Oel, vor deinen Genosssen,
Bar Jochaj, mit heiligem Salböl
Bist du gesalbt durch heiliges Tun.

Da singt und tanzt ein Haufe von Jungen um einen Alten, der zum Klang einer Musikkapelle, im Wechselgesang mit seiner Schaar tanzend, ein blankes Schwert schwingt. Die Wände dröhnen von ihrem Wechselgesang:

Gesegnet ist er von des Höchsten Mund,
Heilig ist er von seiner Geburt Stund‘
Die Leuchte des oberen Galiläa
Unser Herr Bar Jochaj.

Dann fällt wiederum der Alte, im Takte sein Schwert schwingend, ein:

Verborgen hatte er sich in einer Höhle,
Vor der Verfolgung Pein,
Dort lernte er der Thora verborgenste Geheimnisse
Unser Herr Bar Jochaj.

Aus einem Haufen von Chassidim mit langen Peauss, die sich eng umschlingen, hört man eine Stimme:

Stark ist der Herr von Zion
Aufbauen wird er Galiläa droben.

Sofort fällt die Schaar ein:

Aufbauen wird er Galiläa droben,
Erbarmen gibt er seinen Armen.
Durch Rabbi Schimons Verdienst
Schimon bar Jochaj.

Der grosse Moment aber der ganzen Feier, dem sich alle Augen zuwenden, ist das Anzünden all der auf dem Grabe des grossen Lehrers dargebrachten Gaben von Oel und ölgetränkten Tüchern und Gewändern. Einer von den grossen Chassidim von Safed, als Vertreter des grossen Wunderrabbi von Sadigora, tritt feierlich heran und, Gebete murmelnd, wirft er voll heiliger Be
geisterung die brennende Fackel in das Oel. Das Grab flammt in züngelndem Feuer auf, und neue Begeisterung erregt die Menge zu neuen Liedern, zu neuem gewaltsamen Ausbruch der Leidenschaften. In gewaltiger Erregung der Freude tobt und drängt alles durcheinander, Loblieder auf R. Schimon b. Jochaj mischen sich mit den Tönen von Gebeten und Synagogenliedern. Immer aufs neue wird Oel in die Flammen gegossen, immer höher lodert die Glut auf.

Doch auch R. Akibas und seiner Schüler wird hier bei diesem Feste R.Simon ben Jochajs gedacht:
Hinüber will ich gehen, will schauen Tiberias heiliges Land,
Worin herrlich, zu wohnen, das schön zu sehn,
Das Genezaretmeer ist seine Mauer, dort ist es gebaut,
Ein hoher Berg ist dort oben errichtet,
Ein Grabstein ziert des Berges Gipfel;
Das Grab B. Akibas, und mit ihm seiner 24000 Schüler.

Die ganze Nacht hört die Feier nicht auf. Am Morgen erst, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht, beginnt der Lärm sich abzudämmen. Dann findet im Lehrhause R. Simon b. Jochajs eine andere Ceremonie statt. In grosser Zahl werden 3jährige Kinder herbeigebracht, denen in feierlicher Weise die Haarlocken, die noch nie abgeschnitten, heruntergenommen werden. Dabei werden jedem Vater als Segensspruch für sein Kind die Worte mitgegeben: „Gott möge dir beistehen und dein Kind möge ein guter Jude werden, der Gott dient.“ Darauf antwortet wohl der Vater: „Was verlange ich denn von meinem Sohn, als dass er Tephillim lege und ja nicht — Gott soll hüten — den Sabbat entweihe.“ Die so geweihten Kinder werden dann voll stolzer Freude hinaus in die lärmende Menge getragen, die sie jauchzend umtanzt. Oben auf den Estraden und Balkons sind die Mütter und Schwestern der Kinder, die sie mit Zuckerwerk bewerfen. So geht das Fest bis in den Mittag hinein, dann beginnen sich die Massen langsam zu zerstreuen, immer leiser und leiser wird der Festeslärm, doch immer und immer wieder hört man es aus dem Gesang heraus, den Weggehenden weithin noch vernehmbar.

„Bar Jochaj, heil dir, gesalbt bist du,“ und dann vernimmt der noch von all dem Lärm betäubte Wanderer von fern noch einmal die grellen Stimmen jemenitischer Juden: „Alles dieses für den Gerechten, alles dieses für Simon b. Jochaj“.

Die Feier von Meron aber wirft ihren Abglanz auf ganz Palästina. In Jerusalem werden am Vorabend des Lagbeomer schon alle Synagogen und Häuser erleuchtet, während am Tage selbst Männer und Frauen, soweit sie nicht nach Merom aufgebrochen sind, das eine halbe Stunde von Jerusalem entfernte Grabmal Simon des Gerechten aufsuchen und dort um die Erlösung beten. Dort werden auch die dreijährigen Knaben hingeführt, deren Kopfhaar, mit Belassung der Peauss, dort geschoren wird.

Wie weit diese Feier aber einwirkt, zeigt uns ein Bericht der Allgemeinen Zeitung des Judentums (1875, Nr. 43) aus Bona in Algier.

Aber auch in den chassidischen Gemeinden Galiziens wird der Lagbeomer zum Ehrentag R. Simon b. Jochajs gemacht. Schon tagelang vorher gehen die Kinder durch die Häuser und sammeln Lichtkerzen. Mit denen wird dann am Vorabend des Lagbeomer die ganze Klaus erhellt, grosse Lichterreihen, ziehen sich an den Wänden herum, der Oraun hakaudesch ist von blendendem Lichterglanz erhellt und grosse Lichttransparente mit Bibelversen und Liedern zur Verherrlichung R. Simon b. Jochajs schmücken die Schule. Ein Transparent enthält das bekannte Lied von Simon b. Jochaj, und der beste Chassan der Stadt trägt es vor. Für die Kinder aber ist der Lagbeomer vor allem bestimmt. Da ziehen sie mit ihrem Rebbe hinaus ins Freie, dort wird gespielt, wohl auch Armbrust geschossen, vor allem wohl aber getrunken und gegessen.

Wir westeuropäischen Juden natürlich, deren ganzes jüdisches Leben so abgeblasst ist, dürfen von jüdischen Volksfesten nichts wissen. Wir haben ja unsern „orthographischen“ Gottesdienst mit Schammesdisziplin und Gebetsregulierung. Durchbräche nicht das Simschas-Thora-Fest einmal wenigstens diese abgestorbene Ruhe, wir wüssten von Leben und Freuden im jüdisch-religiösen Leben überhaupt nichts. In unserem Kalender steht der Tag als „Schülerfest“, und wer auf „Seelsorge“ noch Anspruch erhebt, darf in der ganzen Zeit zwischen Pesach und Schewuot nur an diesem Tage heiraten. So kommt die Lagbeomerfreude auch in unser totes Synagogenleben hinein.

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